IP Special

26. Juni 2023

Eine starke Verteidigung

Die Bundeswehr schlagkräftiger und einsatzfähiger zu machen, ist der Schlüssel zu dauerhaftem Frieden und Sicherheit – für Deutschland, Europa und die NATO.

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Bild: Flugzeugmanöver bei einer Übung
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Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt, der geostrategische Wettbewerb wird mit aller Härte geführt, und autoritäre Regime stellen die auf Regeln basierende internationale Ordnung offen infrage. Die Bedrohungen unserer Sicherheit haben sich vervielfacht, vom Terrorismus über Cyberangriffe und nukleare Weiterverbreitung bis zum Klimawandel. In solch kritischen Zeiten ist entschlossenes Handeln erforderlich.

Deutschlands Zeitenwende ist ein Beleg dafür. Die Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022, zusätzlich 100 Milliarden Euro in die Verteidigung zu investieren, um die Bundeswehr zu modernisieren und u.a. neue Kampfflugzeuge, Schiffe, Panzer und U-Boote zu beschaffen, markierte einen historischen und mutigen Wendepunkt in der deutschen Verteidigungspolitik.

Mit der Ankündigung der Zeitenwende hat Deutschland angesichts der Bedrohungen, vor denen Europa steht, Führungsfähigkeit bewiesen. Ich gratuliere Bundeskanzler Scholz und Deutschland zu dieser historischen Entscheidung. Und ich zähle auf Deutschland, auf Kurs zu bleiben und seinen Verpflichtungen nachzukommen, das Geld auszugeben und neue Fähigkeiten schnell zu beschaffen.

Als hochgeschätzter Verbündeter in der NATO und stärkste Volkswirtschaft Europas leistet Deutschland bereits einen großen Beitrag zu unserer gemeinsamen Sicherheit. Bei den Einsätzen und Operationen der NATO gehört das Land zu den größten Truppenstellern. Es führt die NATO-Battlegroup in Litauen, die zur Abschreckung möglicher Angriffe dient. Den schnellen Reaktionskräften der NATO stehen 15 000 deutsche Soldaten zur Verfügung – bereit, rasch überall dort eingesetzt zu werden, wo sie benötigt werden. Deutsche Kampfflugzeuge überwachen den Luftraum der NATO-Bündnispartner, und deutsche Schiffe spielen eine Schlüsselrolle bei unseren Einsätzen zur See.

Deutschland gehört zu den NATO-Verbündeten, die die meiste finanzielle, humanitäre und militärische Hilfe für die Ukraine leisten. Dazu gehören Luftverteidigungssysteme, Kampfpanzer, Artillerie und Munition. Das ist wichtig, um das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung zu gewährleisten, das in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist. Es ist ein moralisches Gebot, die Ukraine gegen Russlands illegalen Angriff zu unterstützen.

Zugleich ist es für unsere eigene Sicherheit wichtig. Wenn Russlands Präsident Wladimir Putin in der Ukraine siegt, werden er und andere autoritäre Regime daraus die Lehre ziehen, dass sie die regelbasierte internationale Ordnung ungestraft verletzen und Gewalt einsetzen können, um ihre Ziele zu erreichen. Das würde unsere Welt noch gefährlicher und uns alle verwundbarer machen.



Auf lange Sicht investieren

Dass Europa heute wieder einen großen Krieg erlebt, zeigt deutlich, warum wir mehr in unsere Sicherheit investieren müssen. Eine starke Verteidigung gewährleistet unsere Sicherheit, die die Grundlage unseres Wohlstands und unserer Lebensweise ist. In einer gefährlicheren und unberechenbareren Welt müssen die ­NATO-Partner mehr in unsere Verteidigung investieren, damit unsere Nationen sicher sind. Deswegen erwarte ich, dass sich die Staats- und Regierungschefs der NATO bei ihrem Gipfeltreffen in der litauischen Hauptstadt Vilnius im Juli auf eine neue, ehrgeizigere Ausgabenverpflichtung einigen werden und 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts als Mindestausgabe für die Verteidigung festlegen. 2 Prozent sind die Unter-, nicht die Obergrenze.

Wir müssen jetzt und auf lange Sicht investieren, weil sich die Sicherheitslage in Europa fundamental und dauerhaft verändert hat. Ungeachtet dessen, wann und wie der Krieg gegen die Ukraine endet, werden unsere Probleme mit einem russischen Regime, das Freiheit und Demokratie als Bedrohungen ansieht, fortbestehen. Und andere globale Herausforderungen werden ebenfalls unsere Aufmerksamkeit erfordern. Wir müssen diese Risiken nüchtern einschätzen und unsere Interessen definieren und verteidigen. Um die Sicherheit Deutschlands und Europas zu gewährleisten, erwarte ich von Deutschland, dass es die Zeitenwende umsetzt und seinen politischen Verpflichtungen Taten folgen lässt.

In diesen herausfordernden Zeiten wird eine starke deutsche Verteidigung gebraucht, deren Kernstück eine einsatzbereite und gut ausgerüstete Bundeswehr ist. Das Ziel, das Bundeskanzler Scholz der Bundeswehr vorgegeben hat, sie müsse innerhalb der NATO „zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa“, ist absolut richtig. Die Bundeswehr muss das bekommen, was sie braucht, um ihre Aufgaben zu erfüllen, den Frieden zu sichern und weiterhin zu unserer Allianz beizutragen. Im Interesse einer friedlichen Zukunft für Deutschland und Europa.

Ebenso notwendig ist eine starke und robuste Verteidigungsindustrie, die die erforderlichen Fähigkeiten zur Unterstützung der Ukraine und zur Sicherung unserer eigenen Verteidigung bereitstellen kann. Die NATO setzt die Standards und Ziele für die Entwicklung der Fähigkeiten, die das Bündnis braucht. Wenn Deutschland und alle Verbündeten diese Standards erfüllen und Fähigkeitsziele erreichen, dann decken sie das ­gesamte Spektrum von Fähigkeiten ab, die die NATO benötigt, um die vielfältigen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen wir stehen. 

Bei der Verwirklichung der Zeitenwende geht es auch um die Stärkung der Resilienz. Wenn Deutschland und andere NATO-Partner moderne Fähigkeiten aufbauen und entwickeln, müssen wir die Fallstricke einer übermäßigen Abhängigkeit von autoritären Regimen vermeiden. Der Ukraine-Krieg hat uns gelehrt, dass es gefährlich ist, von russischem Gas für die Beheizung unserer Häuser und Versorgung unserer Industrien – einschließlich der Verteidigungsindustrie – abhängig zu sein. Als Konsequenz hat Europa, und insbesondere Deutschland, beeindruckende Anstrengungen unternommen, um seine Energieversorgung von Russland weg zu diversifizieren. Wir haben auf die harte Tour gelernt, uns nicht auf Russland zu verlassen.

Wenn wir uns nun aus der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl lösen, müssen wir aufpassen, dass wir keine ähnlichen Abhängigkeiten von anderen autoritären Regimen entwickeln. Zum jetzigen Zeitpunkt sind wir von China abhängig, was die meisten der Seltenen Erden betrifft, die der Schlüssel zum Bau unserer Autos und Telefone, unserer Flugzeuge und unserer militärischen Ausrüstung sind. China bemüht sich zudem, die Kontrolle über Teile unserer kritischen Infrastruktur zu erlangen, darunter Telekommunika­tion, Häfen und Schienennetze. Auf diese sind wir aber nicht nur in Friedenszeiten, sondern erst recht in Zeiten von Krisen und Konflikten angewiesen. Natürlich müssen wir weiterhin Handel mit China treiben und mit dem Land zusammenarbeiten.

Aber gleichzeitig müssen wir uns unserer Abhängigkeiten bewusst sein. Wir müssen weniger angreifbar werden und die ­Risiken besser beherrschen. Ich begrüße die Initiative von Bundeskanzler Olaf Scholz und dem norwegischen Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre, die uns veranlasst hat, eine NATO-­Koordinationszelle einzurichten, um die unterseeische Infrastruktur der Verbündeten widerstandsfähiger zu machen. Intelligente und kooperative Resilienz ist der Schlüssel zu unserer Sicherheit. Beim NATO-­Gipfeltreffen in Vilnius werden wir weitere Maßnahmen zur Verbesserung unserer Widerstandsfähigkeit ergreifen.

Die Zeitenwende bedeutet einen wirklichen Umbruch. Zugleich bekräftigt sie die zentrale Bedeutung der transatlantischen Beziehungen für unsere Verteidigung sowie die Rolle der NATO als Eckpfeiler der euroatlantischen Sicherheit. Die Freundschaft zwischen Europa und Nordamerika ist nach wie vor unverbrüchlich. Laut einer Umfrage der NATO von 2022 sind drei Viertel der Deutschen überzeugt, dass es wichtig ist, dass unsere beiden Kontinente in Sicherheitsfragen zusammenarbeiten. Die Vereinigten Staaten haben eine führende Rolle für die europäische Sicherheit gespielt und werden dies weiterhin tun – mit 100 000 Soldatinnen und Soldaten und zentralen Fähigkeiten auf dem Kontinent, einer von den USA geführten NATO-Battle­group in Polen und der Koordination der Ramstein-Gruppe, die für eine beispiellose Unterstützung der Ukraine sorgt.

Die Zeitenwende ist das Versprechen einer großen und wertvollen Investition in die transatlantische Sicherheit und die NATO. Es ist das richtige Vorhaben zur richtigen Zeit. Mit einem starken Deutschland im Herzen einer starken NATO können wir jedem Sturm trotzen, Angriffe verhindern und Deutschland und all unsere Bürgerinnen und Bürger beiderseits des Atlantiks beschützen – eine Milliarde Menschen.



Aus dem Englischen von Bettina Vestring     

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 30-32

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Jens Stoltenberg ist Generalsekretär der NATO.