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01. Mai 2002

Eine KSZE für den Nahen Osten

Europa hat bei der Überwindung des Ost-West-Konflikts mit dem KSZE-Prozess gute Erfahrungen gemacht – auch die Friedensaussichten im Nahen Osten könnten von solch einem Prozess profitieren, wenn man als Ausgangslage für die Arbeit der so genannten KSZNO die im Grunde allen bekannten Lösungsmodelle dieses Konflikts nehmen würde. Deutschland sollte in der EU den Anstoß für diese Initiative geben, um die guten Beziehungen zu allen Beteiligten zu nutzen.

Die Welt droht anderthalb Jahre nach dem Beginn der so genannten „zweiten Intifada“ und dem Scheitern des Nahost-Friedensgipfels von Camp David am Nahost-Konflikt zu verzweifeln. Israelis und Palästinenser sind in einer Eskalationsspirale aus Gewalt und Gegengewalt gefangen, beide Seiten sind offensichtlich nicht in der Lage, aus der jeweiligen Erklärungs- und Begründungslogik für das eigene Handeln herauszufinden. Die Zahl der zivilen Opfer auf beiden Seiten geht in die Hunderte – der Hass unter den Politikern, aber auch unter den Menschen in beiden Lagern wächst, die Chancen für einen Neubeginn des Friedensprozesses, für eine Aussöhnung und für eine dauerhafte Lösung werden immer geringer.

Fast tragisch ist, dass alle Beteiligten eigentlich wissen, was zu tun ist, und was wohl am Ende kommen wird – die Fakten und Lösungsansätze liegen auf dem Tisch. Die Palästinenser haben sich – genau wie die arabischen Nachbarländer in der Region – mit der Existenz des Staates Israel längst abgefunden. Sie wissen, dass sie dem Terror abschwören müssen, dass sie in der Frage der Flüchtlingsrückkehr nach Israel keine Maximalziele durchsetzen werden, dass sie eine wie auch immer geartete Lösung für Jerusalem akzeptieren müssen und dass sie sich aus politischen und nicht zuletzt auch wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gründen auf Dauer mit einem „Nachbar Israel“ zu arrangieren haben. Und für die Israelis führt kein Weg daran vorbei, einen palästinensischen Staat bald endgültig anzuerkennen, sich dazu aus den besetzten Palästinenser-Gebieten zurückzuziehen, die vor allem in den neunziger Jahren drastisch ausgeweitete Siedlungspolitik einzustellen und die Siedlungen zumindest zu einem Teil zu räumen, und auch bei der Flüchtlingsrückkehr und in der Jerusalem-Frage flexible, kreative Lösungen zu suchen.

Das Ziel ist also weitgehend klar – aber der Weg dahin scheint für die beiden Konfliktparteien von Mauern des Hasses und der Gewalt verbaut. Statt sich gemeinsam in die längst erkannten Notwendigkeiten zu fügen, distanziert sich Palästinenser-Chef Yasser Arafat nicht wirklich vom Terrorismus, warten Dutzende von zunehmend fanatisierten jungen Palästinensern darauf, es den Selbstmordattentätern gleich zu tun und möglichst viele Israelis mit in den Tod zu nehmen, und die israelischen Streitkräfte betreiben im Auftrag von Ministerpräsident Ariel Sharon einen massiven Kampf gegen die Palästinenser, bis hinein in die palästinensischen Flüchtlingslager. Sie isolieren Arafat und berauben ihn seiner Handlungsmöglichkeiten, obwohl sie von ihm eigentlich und zu Recht doch energisches Einschreiten gegen den Terrorismus erwarten. Sie zerstören die für eine effektive Kontrolle der autonomen Palästinenser-Gebiete lebensnotwendige – und nicht zuletzt mit Mitteln der EU und Deutschlands gerade mühsam aufgebaute – Infrastruktur der Palästinenser. Und sie erreichen damit Solidarisierungseffekte in der arabischen Welt, die sich wieder fest hinter Arafat zusammenschließt.

Israel läuft dabei Gefahr, zunehmend die internationale Sympathie und Unterstützung gerade auch seiner Freunde zu verlieren, die dieses Land nicht nur verdient, sondern mehr als jedes andere Land auch dringend benötigt. In Deutschland und in vielen anderen Ländern Europas und der Welt treibt das Vorgehen der Regierung Sharon israel-kritische Demonstranten auf die Straße – vor allem aus Unverständnis, aus Verzweiflung, aus Hilflosigkeit angesichts der Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung. Die Stimmung kippt – zu Ungunsten Israels, das mit dem Rücken zur Wand seine Positionen nur noch zu verhärten scheint.

Lösung von außen?

In dieser Situation kommt die internationale Staatengemeinschaft ins Spiel, ja muss sie ins Spiel kommen. Auch wenn Israel und die Palästinenser bislang Beschlüsse und Aufforderungen der internationalen Staatengemeinschaft und des UN-Sicherheitsrats ignoriert haben, gilt: Der dringend erforderliche Lösungsanstoß und der Lösungsrahmen können nur von außen kommen. Die entscheidende Rolle fällt dabei ohne Zweifel den Amerikanern zu, die sich zu Beginn der Bush-Regierung zu sehr zurückgehalten haben und die erst allmählich beginnen, sich im Nahen Osten so intensiv zu engagieren, wie das ihrer internationalen Verantwortung entspricht und wie es auch für einen Erfolg des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus unumgänglich ist. Aber die USA können die Konfliktlösung im Nahen Osten nicht allein schultern – auch darüber herrscht weltweit Konsens. Deshalb ist es so wichtig, dass jetzt verstärkt über eine Vierer-Allianz aus USA, Russland, EU und UN gesprochen wird, die sich gemeinsam um internationale Lösungsansätze bemüht.

Viele Ansätze liegen auf dem Tisch: der Tenet-Plan und der Mitchell-Bericht, der wichtige Vorschlag des saudischen Kronprinzen Abdullah mit dem Angebot einer Anerkennung Israels durch die arabischen Staaten, das aktuelle „Ideenpapier“ von Bundesaußenminister Joschka Fischer. Alle diese Pläne zielen grundsätzlich in dieselbe Richtung, sie versuchen das, was auch die Konfliktparteien im Grunde längst anerkannt haben, aufzugreifen. Aber auch hier fehlt bislang der zielführende Ansatz, und vielleicht auch die Entschlossenheit, die Vorschläge wirklich umzusetzen.

Denn um die Konfliktparteien zur Umsetzung dieser Lösungsansätze zu bringen, braucht es Anreize – und wohl oder übel auch massiven Druck von außen. Beide Seiten müssen zunächst zum Waffenstillstand, dann zurück an den Verhandlungstisch und schließlich in eine langfristig tragfähige Friedenslösung geführt werden. Dazu sollten den Palästinensern ihre diplomatische Anerkennung sowie mehr wirtschaftliche und soziale Hilfe in Aussicht gestellt werden – und den Israelis vor allem internationale Unterstützung bei der langfristigen Sicherheitsgewährleistung und eine noch engere Anbindung an die EU. Hilfreich sind auch Vermittlungsdienste und nicht zuletzt das Angebot einer aktiven Demokratisierungshilfe für die Palästinenser und die Bereitschaft, das schwierige Flüchtlingsproblem auch durch internationale Aufnahmebereitschaft entschärfen zu helfen.

Und möglicherweise auch das Angebot, internationale Beobachter in die Region zu schicken, und – wenn von beiden Seiten gewollt – vielleicht sogar eines Tages bewaffnete Friedenstruppen zur Gewährleistung eines Waffenstillstands und eines Friedensschlusses. Dabei gilt allerdings, dass Deutschland sich aus historischen Gründen nur schwerlich mit Bundeswehrsoldaten an einem wie auch immer gearteten internationalen Militäreinsatz im Nahen Osten beteiligen können wird, zumindest solange es noch Überlebende des Holocaust gibt.

Diplomatischer Druck und UN-Resolutionen haben bislang nicht geholfen. Es wird vor allem an den USA liegen, hier trotzdem nicht nachzulassen, ja den politischen Druck vor allem auf die Regierung Sharon sogar noch zu verstärken. Denn die von manchen geforderte Einschränkung oder sogar Verweigerung von wirtschaftlicher und rüstungspolitischer Kooperation mit Israel wird und kann es mit den USA und auch mit Deutschland nicht geben. Zudem haben sich Sanktionen in der Vergangenheit kaum als wirksames Mittel erwiesen.

Stabilisierungsperspektive

Mittel- und langfristig muss es im Nahen Osten aber auch darum gehen, eine wirkliche Stabilisierungsperspektive für die Region aufzuzeigen. Das mag zwar angesichts der akuten Krise nicht absolut vordringlich erscheinen, ist aber der einzige Weg, um ein späteres Wiederaufflammen der Gewalt zu verhindern, und würde beiden Konfliktparteien heute schon aufzeigen, dass Kompromissbereitschaft für kurzfristige Lösungen sich lohnt.

Hinzu kommt, dass es im Nahen Osten nicht nur um die aktuellen Probleme zwischen Palästinensern und Israelis geht, sondern auch um regionale Probleme: Wasser, Erdöl, Wirtschaft, sozialen Sprengstoff; ein Interessengemenge vieler Sachfragen und Akteure innerhalb und außerhalb der Region. Deshalb sollten die unterschiedlichen internationalen Lösungsansätze, die auf eine Entschärfung des akuten bilateralen Konflikts zielen, jetzt ergänzt werden um eine regionale und mittel- bis langfristig angelegte Lösungsstrategie. Darauf zielt die von der FDP bereits im letzten Jahr vorgestellte Initiative für die Einrichtung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten (KSZNO).

Europa hat bei der Überwindung des Ost-West-Konflikts mit dem KSZE-Prozess gute Erfahrungen gemacht. Auch die Friedensaussichten im Nahen Osten könnten von einem Prozess profitieren, der nicht nur eindimensional auf unmittelbare Konfliktbeilegung abzielt, sondern mit unterschiedlichen Körben auch auf Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle, auf Wirtschaftsthemen, auf innergesellschaftliche Prozesse, auf Menschenrechte, auf einen breiten Dialog, auf Interessenausgleich. Dieser Prozess sollte auch Fragen der internationalen Wirtschaftshilfe einschließen sowie internationale Lösungsansätze für eine Entschärfung der Situation in den Palästinenser-Lagern und für die Flüchtlingsfrage.

Zweifler kritisieren diesen Ansatz zum einen, weil die Situation zwischen den Blöcken im Ost-West-Konflikt durch ein überwältigendes Interesse beider Seiten an einem Erhalt des Status quo gekennzeichnet gewesen sei, während es im Nahen Osten den Konfliktparteien gerade um eine Änderung der Ausgangslage gehe. Aber das trifft dann nicht zu, wenn man als Ausgangslage für die Arbeit einer KSZNO eben nicht den Konflikt, sondern die – bei allen verbleibenden schwierigen Detailproblemen – im Grunde allen bekannten Lösungsmodelle dieses Konflikts zugrunde legt. Schwieriger wird es tatsächlich sein, die Teilnehmer für eine solche KSZNO zu definieren, die hier nicht von vornherein feststehen. Neben Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde müssten die USA, die EU, Russland und die UN in der Person des Generalsekretärs selbstverständlich dabei sein, aber auch die arabischen Anrainerstaaten, die Türkei als wichtige Regionalmacht und möglicherweise die Arabische Liga und der Golf-Kooperationsrat.

Die Einrichtung einer KSZNO könnte einen Anstoß geben für den aktuell dringend erforderlichen Wiederbeginn des Friedensprozesses und vor allem mittel- und langfristig einen Rahmen schaffen für eine tragfähige Friedenslösung unter Berücksichtigung der vielschichtigen Konfliktpunkte des Nahen Ostens, unter Einbeziehung aller Staaten der Region und unter aktiver Beteiligung der interessierten Akteure der Welt, ohne die der Nahe Osten nicht zur Ruhe kommen wird.

Die Initiative für die Einrichtung einer KSZNO sollte von der EU ausgehen. Sie hat gute Kontakte zu allen Beteiligten, will sich ohnehin nicht nur wirtschaftlich, sondern auch diplomatisch stärker einbringen und könnte so beweisen, dass sie es ernst meint mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Deutschland sollte in der EU den Anstoß geben. Von uns wird im Nahen Osten zu Recht mehr Engagement erwartet. Wir genießen – noch – Vertrauen bei Israelis und Palästinensern und haben gute Kontakte in der gesamten Region. Wir sollten uns jetzt mit all unseren Kräften dafür einsetzen, dass ein solcher Prozess auch im Nahen Osten in Gang kommt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2002, S. 35 - 38.

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