IP Special

28. Okt. 2024

Eine kleine Sommerferiengeschichte aus der Zukunft

Es wird immer anders – und ohne dieses Anderswerden kann es auch nicht schön bleiben: vom Kindsein und Erwachsenwerden in einem neuen Klima.

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Bild: Skizze Taucher

Es ist der 31. Juli 2070 und heute ist ein besonderer Tag für Toe. Vielleicht der aufregendste Tag, den der Achtjährige bisher erleben durfte. Denn heute wird Toe ein großer Bruder – so haben es ihm zumindest seine Eltern erzählt. 

Ella, Cosmo und Nelly, die sich auf eine dieser neuen Dreierehen geeinigt haben, mit der man derzeit versucht, Arbeit und Kinder wieder unter einen Hut zu bringen, haben Toe auch an diesem besonderen Ferientag ins Kinderparadies nach Algae gebracht. Toe liebt das Gelände. Keine Erwachsenen, keine Schlangen an den Sprühventilatoren und die schönsten Ruheräume, die er kennt. Aber am schönsten ist das Gärtnern. Schon Toes Ellagroßvater verbrachte hier seine Ferien. Damals war die Anlage winzig, eine Bretterbaracke, wild und bunt – und sie hieß noch anders.

Heute ist Algae so groß, dass Zehntausende Kinder hier ihren Sommer verbringen können. Klettern und das Bauen als Kerntätigkeiten sind erhalten geblieben. Auch, dass keine Erwachsenen aufs Gelände dürfen, außer die Stimmen der Hilfsavatare. Dazu das Gärtnern. 

Um 18 Quadratmeter Außenwand darf sich Toe seit diesem Sommer kümmern. Kletterrosen, Japanischer Schnurbaum und Blauregen sind ihm so lieb geworden, dass er manchmal das Gefühl hat, die Pflanzen sprächen zu ihm. Eine Firma aus Island behauptet, dass genau das bald nun endlich möglich würde, das haben sie letztens beim Science-Frühstück gesagt. Mensch und Natur werden sich schon ganz bald anständig unterhalten können.

Toes Cosmovater war sich nicht sicher, ob das für die Menschen eine gute Sache würde. Wer redet, könne schließlich auch anklagen – und wieviel Schulden die Menschen über die Jahrhunderte bei Pflanzen und Mikroorganismen angesammelt hätten, das könne man sich noch gar nicht vorstellen. Die weit über 10 000 Verfassungsklagen, die Naturschützende in den vergangenen zehn Jahren gegen die Regierungen weltweit gewonnen hatten, dürften da nur ein winziger Anfang gewesen sein. Toe freut sich trotzdem schon darauf, den Blauregen endlich direkt fragen zu können, welche Wassertemperatur ihm beim Gießen am liebsten ist.

Kurz hinter Toes Außenwand befindet sich der Hofgraben, was schön ist, denn dort arbeitet Kay. Kay ist auch acht Jahre alt, so wie Toe, und seit dem ersten Tag in Algae seine Freundin. Sie ist in der Algenzüchtung eingeteilt; da die im Hofgraben stattfindet, arbeitet sie den ganzen Tag eigentlich Rücken an Rücken mit Toe – und wenn sie sich zwischendrin Jack-Norris-Witze erzählen, auch ganz viel von Angesicht zu Angesicht. 

In den späten 2040ern hatten die Menschen endlich eine Algenart verfeinert, die nicht nur ziemlich große Mengen CO2 speichern kann, sondern auch so unkompliziert in der Verarbeitung ist, dass man aus ihr Klamotten, Nahrungsmittel, Öle und vieles mehr herstellen kann. Es gibt seitdem praktisch kein öffentliches Gebäude in Deutschland mehr, das nicht mit einem die Landschaft kühlenden Wasserareal mit Kelpwäldern darin angelegt wurde. In Algae produzierten die Kinder außerdem Algenparfüm, Algenschlaf­anzüge und Algenenergieriegel. 

Manche Eltern wollen, dass ihre Kinder in Algae in der Algenzucht arbeiten, weil Algenexpertise in der Erwachsenenwelt viel wert ist. Und auch wenn Kinderoptimierung in den aktuellen Erziehungsdebatten einen offensichtlich schlechten Ruf hat, so wie Ohrfeigen vielleicht ein halbes Jahrhundert zuvor, sitzt der Reflex bei ­vielen Eltern immer noch tief.   


Recyclingparty und Honig-E

An diesem Morgen sitzt Kay auf einem Hocker und wartet auf das richtige Licht, um loszuwerkeln, also genauer gesagt darauf, dass die riesigen Lamellendächer, die die Anlage in weiten Teilen überwölben und gegen die Sonne schützen, ihre Richtung ändern. Aber eigentlich wartet sie vor allem auf Toe. Als er kommt, umarmen sie sich kurz und Toe packt seine Spielkarten aus. „Top Ass Edelflitzer“ steht darauf, ein Fund von einer der Recyclingpartys, die in seiner Straße monatlich stattfinden. Das komplett erhaltene Spiel steckte in einer Blumenvase, die seine Ellamama ergattert hatte. Toe fischte es raus, bevor es jemand entdeckte, und versteckte es in seiner Jackentasche. Er sah sofort, dass es verbotene Ware war. Benziner durften schon lange nicht mehr abgebildet werden. 

Ende der 2040er hatten die Menschen eine Algenart verfeinert, die große Mengen CO2 speichern kann

„Zylinder 8“ flüsterte Toe und luchste Kay die nächste Karte ab. Sie spielten drei Runden, als sich die Drohne mit den Mittagssnacks näherte. Schnell schob Kay das Kartenspiel unter eine Kiste. Die Drohne brachte Nüsse, Eierersatz in Riegelform, einen herrlich frischen Kopfsalat in einer großen Leichtmetallschüssel mit Blumen darauf und als Nachtisch Ziegenmilch­joghurt mit Honig-E. Kay hatte mal einen Dokumentarfilm über echte Bienen gesehen und sich sehr gewundert, dass der Verlust aller Bienenarten darin so bedauert wurde, schließlich sah man im Film auch, wie doll die Tiere stechen konnten. Wie die Wespen, die vor ein paar Jahren im Spätsommer mal eine derartige Plage gewesen waren, dass ganze Stadtteile geschlossen wurden. Kay mochte Insekten eigentlich, so wie sie alle Tiere mochte, sogar Menschen.

Da fiel ihr wieder ein, dass Toe ja heute ein großer Bruder wurde, und sie klopfte ihm übermütig so fest auf den Rücken, dass der sich fast an einer Nuss verschluckte. „Heut kommt doch das Baby! Na, warum sagst du denn nichts?“, rief Kay und es gelang ihr für den Moment, ihre Sorgen und die Eifersuchtsgefühle zu beruhigen, die sie links unterm Herzen spürte. In der Feelings-Runde, zu der ihre Mutter sie gestern Abend noch gezwungen hatte, um ihre schlechte Laune einmal durchzukneten, hatte die beruhigende KI-Stimme die Eifersucht jedenfalls genau dort verankert.

Kay gelang es, genau dort hinzufühlen und dieses Gefühl wie mit einer gut geübten Vokabellerntechnik so lange mental schnell hin und her zu schaukeln, bis es fast komplett verschwunden war. Toe seufzte dankbar und aufgeregt – ja, heute Abend würde er ein großer Bruder. Kay fasste sich ein Herz und sagte: „Sollen wir kurz reinspringen, zur Feier des Tages?“


Es wird immer anders

Das Wasser war kalt und erfrischend. Sie tauchten wie kleine Fische um die Wette durch ein Laby­rinth aus Algen. Da stets beschwimmbares Wasser so elementar auch im urbanen Stadtbild geworden war, lernten alle Menschen eine Apnoe- und Tauchtechnik namens Ama. Ursprünglich aus Japan stammend, gelang es schon Kindern, mit dieser Technik mehrere Minuten unter Wasser zu verbringen. Den ansteigenden Meeresspiegel für den Umbau der Städte als Wasserstädte zu nutzen, war ein Schlüsselmoment der Cooling-down-­Politikbewegung gewesen, die heute nur noch von wenigen Splittergruppen angezweifelt wurde. 

Den ansteigenden Meeresspiegel für den Umbau zu Wasserstädten zu nutzen, war ein Schlüsselmoment der Cooling-down-Politikbewegung gewesen

Toe tauchte vorneweg, aber Kay überholte schnell. Sie durchschwammen den Wald routiniert, wussten genau, wo überholen gut ging und wo sie sich dicht hintereinander drängen mussten. Ganz unten angekommen, griffen sie sich je eine Hand Sand vom Meeresgrund und stießen sich in vier kräftigen Zügen wieder an die Luft. 

Sie leerten auf zwei großen Seerosen­blättern ihre Hände. Atmeten durch. Dann fing Toe an: „Es wird ein Mädchen. Es wird ein Junge. Es wird ein Mädchen. Es wird ein Junge“, zählte er Sandkorn für Sandkorn durch und schmiss die jeweils durchgezählten wieder ins Wasser. Am Ende lag ein letzter Mädchen-Stein auf dem Seerosenblatt. Nun war Kay an der Reihe. Sie zögerte erst – und zählte dann: „Es wird anders. Es bleibt schön. Es wird anders. Es bleibt schön. Es wird anders ...“ – „Was meinst du?“, fragte Toe, „was wird anders? Was bleibt schön?“ Kay traute sich nicht zu sprechen und zählte konzentriert weiter. Natürlich wusste Toe ganz genau, was sie meinte. 

Er ruckelte unruhig auf seinem Po herum. „Es wird immer anders. Und ohne dieses Anderswerden kann es auch nicht schön bleiben“, sagte Toe schließlich. Kay lief eine große Träne über die Wange. Sie kippte das Seeblatt mit dem Sand ins Wasser, hielt einmal kurz verzweifelt die Hände vors Gesicht, wischte sich eine nächste Träne aus dem Augenwinkel und schlug Toe nochmal etwas zu fest auf den Rücken: „Na los, jetzt geh schon. Es wird ein Mädchen!“

Da erst hörte Toe die Durchsage, die durch ihren Geländeabschnitt schallte. „Toe, bitte zum Eltern-Tor, du wirst abgeholt“, sagte die freundliche KI-Stimme. So schnell war Toe noch nie zum Ausgang ­gerannt.          

Bibliografische Angaben

Internationale Politik  Special 6, November/Dezember 2024, S. 60-63

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Vera Schroeder ist Autorin im Ressort Wissen der Süddeutschen Zeitung (SZ). Sie war Chefredakteurin der Magazine NEON und Nido und hat SZ Familie erfunden.