Eine gemeinsame Sicherheitsstrategie für Europa
Die Prager Perspektive
Die beiden tschechischen Autoren stehen einer ESVP als Teil des Mosaiks einer euroatlantischen
Vision positiv gegenüber; kollektive Verteidigung müsse jedoch ein Privileg der NATO bleiben.
Nicht Seefahrer, sondern politische Kommentatoren haben während der letzten Monate über die stürmischen Wasser des Atlantiks geschrieben. Kein Wunder – haben doch die euro-atlantischen Diskussionen an den Prinzipien gerüttelt, auf denen das euro-atlantische Bündnis beruht und die die Eckpfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur bilden. Die jüngsten Ereignisse haben indessen gezeigt, dass sogar die raueste See sich beruhigt und dass wir trotz allem nicht befürchten müssen, in stehende Gewässer zu geraten.
Schaut man sich die rein europäische Debatte an, so kann unserer Meinung nach das Ziel, das für die gemeinsame Sicherheitsstrategie formuliert wurde – nämlich die Kluft zwischen „altem“ und „neuem“ Europa zu überbrücken – nicht erreicht werden. Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit dies zu tun: Es gibt nur ein Europa, und auch weiterhin muss es ein einziges Europa geben. Die Tschechen haben nicht das Gefühl, auf einer anderen Seite zu stehen als beispielsweise die Deutschen. Das Gegenteil ist wahr; wir verfolgen alle das selbe Ziel, das darin besteht, ein „sicheres Europa in einer besseren Welt“ zu haben. Deshalb begrüßen wie den Dialog, wie er hier in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik geführt wird. Was die Europäer brauchen, sind mehr Diskussionen und besseres Zuhören.
Im vergangenen Jahr hat die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Die Europäische Sicherheitsstrategie ist gebilligt worden; der Beschluss zur Schaffung einer Europäischen Rüstungsagentur wurde gefasst. Fortschritte wurden beim Aufbau militärischer Fähigkeiten ebenso gemacht wie bei der Debatte über eine gemeinsame Politik im Bereich der Ausbildung. Große Länder erzielten einen Kompromiss über Konsultationen, Planung und Operationen, der schließlich in Brüssel angenommen wurde. Es wurde beschlossen, eine Schnelleingreiftruppe aufzubauen, die der Eingreiftruppe der NATO entspricht. Bei den meisten Projekten sehen wir schon jetzt die Notwendigkeit, den Dialog zwischen der Europäischen Union und der NATO zu intensivieren, einen Dialog, den wir von Prag aus verstärken und vertiefen wollen. Die Beschäftigung mit diesen Fragen hat bereits zu zwei erfolgreichen, von der EU geführten Operationen geführt. Die größere von beiden, die „Operation Concordia“, hat bewiesen, dass die Zusammenarbeit zwischen EU und NATO im Bereich der Verteidigung der beste Weg in die richtige Richtung ist.
Ein anderes Ergebnis war sicherlich die von Großbritannien, Deutschland und Frankreich erzielte Übereinstimmung hinsichtlich von Prinzipien, die schließlich im Verfassungsvertrag verankert wurden. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Kompromisslösung bezüglich der ESVP im Text des Verfassungsvertrags für die Tschechische Republik akzeptabel ist. Was die Ergebnisse der kommenden Regierungskonferenz betrifft, so werden sie unserer Einschätzung nach die Sicherheitspolitik nicht in nennenswerter Weise beeinflussen. Die ESVP verfügt über eine eigene Dynamik und kann weiter entwickelt werden etwa durch eine Übereinkunft zwischen NATO und EU über Konsultationen, Planung und Operationen.
Als Beitrittsland ist es für uns wichtig, einen Platz am Verhandlungstisch zu haben, über die Gelegenheit zu verfügen, uns an der Debatte zu beteiligen, an den zur Diskussion stehenden Fragen beteiligt zu sein, die EU-Mechanismen kennen zu lernen und unser nationales Vorgehen danach auszurichten. Für Länder wie das unsere ist es wichtig, bald den Ort auszumachen, in der sie im Höchstmaß zur ESVP und im Besonderen zur strukturellen Zusammenarbeit beitragen können.
Vorteile der ESVP
Die Arbeit der EU an ihrer eigenen Sicherheitsstrategie ist gewiss höchst nützlich. Jeder Teilnehmer an den internationalen Beziehungen sollte sich darüber im Klaren sein, in welchem Sicherheitsumfeld er sich befindet, welchen Bedrohungen es zu begegnen gilt und welche Mittel er einzusetzen beabsichtigt. Die Sicherheitsstrategie der EU ist zweifellos ein wohlausgewogenes Dokument, das die neuen Bedrohungen widerspiegelt. Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen können durch den Einsatz von Panzern weder verhindert noch beseitigt werden. Was wir brauchen, sind neue Ansätze.
Es war deshalb für uns außerordentlich interessant, die europäische Debatte über präemptives oder auch präventives Engagement zu verfolgen. Ungeachtet der theologischen Spitzfindigkeiten über den Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen ist es wirklich wichtig, sich bewusst zu werden, dass wir nicht warten können, bis die Bedrohungen Tatsache werden; wir müssen handeln, bevor dies geschieht. Auf diesem Gebiet hinkt das internationale Recht der Realität hinterher, genau so wie die Mechanismen und Institutionen zur Entscheidungsfindung. Natürlich denken wir dabei in erster Linie an die Zusammensetzung und die Arbeitsweise des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Die Diskussion über das Völkerrecht aus der Perspektive des zu schaffenden Rechts muss beginnen.
Präventives Engagement umfasst sicherlich eine ganze Reihe von Maßnahmen, angefangen von der Stärkung des Rechtsstaats über wirtschaftliche Hilfe bis zu militärischen Operationen. Die Ausarbeitung der Europäischen Sicherheitsstrategie hat einmal mehr bewiesen, dass die Verknüpfung präventiver Politik in all ihren unterschiedlichen Formen mit der Stärkung der internationalen Ordnung eine der größten Herausforderungen der Gegenwart darstellt. Die Europäische Sicherheitsstrategie hebt diese Notwendigkeit bereits in der Überschrift des Kapitels „Effektiver Multilateralismus“ hervor. Ohne flexibles und präventives Engagement wird es keine Effektivität geben, und ohne Festigung der internationalen Ordnung wird es keinen Multilateralismus geben.
Wir haben unlängst auf nationaler Ebene eine ähnliche Erfahrung wie die EU gemacht, als wir die Sicherheitsstrategie der Tschechischen Republik einer Überprüfung unterzogen. Eigentlich haben wir gleichzeitig an der Sicherheitsstrategie der Tschechischen Republik und derjenigen der EU gearbeitet. Daheim wurde unsere Sicherheitsstrategie von der Regierung zwei Tage vor der Annahme der Europäischen Sicherheitsstrategie gebilligt. Tatsächlich aber haben wir sechs Monate zuvor mit der Arbeit begonnen. Es war deshalb interessant zu sehen, dass wir uns während der Arbeit an unserer nationalen Strategie mit den selben Fragen herumschlugen und darauf Antworten fanden, die denen sehr ähnlich waren, mit denen wir es später in multilateraler Form während der Arbeit an dem EU-Dokument zu tun bekamen. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass wir nur ein Europa haben, auch wenn es bei gewissen Fragen Meinungsunterschiede gibt.
Unserer Ansicht nach stellt die größte Herausforderung für die Umsetzung der EU-Sicherheitsstrategie in die Praxis der politische Wille zur Planung und zum Einsatz von Gewalt dar, falls dies zur Lösung von Problemen der Welt von heute notwendig ist. Obwohl wir übereinstimmen hinsichtlich des Charakters des Sicherheitsumfelds und im Hinblick darauf, was getan werden muss, um diese Probleme zu beseitigen, musste Javier Solana in dem Dokument konstatieren, dass „wir eine Strategiekultur entwickeln müssen, die eine frühzeitiges, rasches und, wenn notwendig, robustes Eingreifen fördert“. Wir sehen uns deshalb dem Problem gegenüber, Europas politische Handlungsfähigkeit aufzubauen, die dem Aufbau von militärischen Fähigkeiten bisher hinterher hinkt. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum es eine solche strategische Kultur in Europa nicht gibt – sie reichen von den Klagen von Drückebergern, dass die Amerikaner vom Mars, die Europäer hingegen von der Venus kämen, linken Traditionen und der demographischen Struktur der EU bis hin zu „euro-emanzipierten“ außenpolitischen Visionen in gewissen Ländern. Dies allerdings sollte Gegenstand einer anderen Debatte sein.
Für unsere Diskussion ist von Wichtigkeit, dass Solana an die Tatsache erinnerte, dass die EU eine Strategiekultur entwickeln muss. Wir in der Tschechischen Republik fügen hinzu, dass diese Kultur die euro-atlantischen Verbindungen stärken und die euro-atlantische Strategiekultur ergänzen muss.
Die scheinbare Perfektion des gesamten Dokuments wird unserer Meinung nach durch die unzureichende Erwähnung der NATO gemindert. Obwohl die Sicherheit und die Verteidigungspolitik einer Reihe von EU-Ländern auf der NATO-Mitgliedschaft beruht, obwohl die europäische Sicherheit über mehr als fünf Jahrzehnte hinweg auf den aus Artikel 5 des Vertrags von Washington herrührenden Garantien basierte und obwohl dieser Artikel nach wie vor in Kraft ist, gab es nicht genug politischen Willen, um der NATO mehr Platz in der Europäischen Sicherheitsstrategie einzuräumen: Als „Ausdruck der transatlantischen Beziehungen“ ist sie gerade einmal erwähnt. Schließlich wurde dem Text der Strategie die Berlin-Plus-Vereinbarung hinzugefügt als ein Mechanismus, der „den Rahmen für die strategische Partnerschaft zwischen den beiden Organisationen beim Krisenmanagement“ bildet. Wir haben dies nachdrücklich begrüßt, auch wenn unserer Meinung nach die strategische Partnerschaft zwischen den beiden Organisationen weit über den Rahmen von Krisenmanagement hinausgehen sollte.
Die Annahme der Europäischen Sicherheitsstrategie bedeutet allerdings nicht das Ende, sondern den Beginn unserer Arbeit. Diese Strategie ist ein Dokument, das als Grundlage für weitere, von Politikern ebenso wie von Militärs zu ergreifende Maßnahmen dienen wird. Die Debatte über ihre Ausgestaltung ist gerade erst eröffnet worden und wird sicherlich dabei helfen, die Sichtweisen der EU-Länder einander näher zu bringen.
Welche ESVP unterstützen wir?
Unsere Sicherheitspolitik in der EU ebenso wie unsere bereits dargelegten Ansichten zeigen deutlich, dass wir eine erweiterte ESVP unterstützen. Ihre Entwicklung hat zwei grundlegende Dimensionen. Die erste besteht darin, einen Zustand in Europa zu erreichen, der es ihm gestattet, Probleme nahe der Heimat und in der unmittelbaren Nachbarschaft zu lösen und Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Wir können uns gut vorstellen, dass Europa die Fähigkeit entwickelt, mit Krisensituationen in seiner Nachbarschaft bis zu einem gewissen Grad selbst fertig zu werden. Die zweite Dimension beruht auf den Bemühungen, die Unterschiede zwischen den von den transatlantischen Verbündeten zu tragenden Lasten auszugleichen. Solche Bestrebungen müssten allerdings auf Komplementarität mit der NATO beruhen. Für die Tschechische Republik ist das Bündnis der Hauptgarant für Sicherheit. Kollektive Verteidigung muss deshalb sein Privileg bleiben. Obwohl niemand dies in Zweifel zieht, ist es gut, darüber zu sprechen – oft und laut darüber zu sprechen.
Wenn wir unsere Haltung zur ESVP kurzgefasst darlegen müssten, würden wir sagen, dass wir eine auf Fähigkeiten beruhende ESVP, eine ESVP mit gemeinsamen politischen Zielen unterstützen. Eine ESVP als Werkzeug zur Ausformung Europas zu einem der Pole einer multipolaren Welt befürworten wir nicht. Tatsache ist, dass dieses Primakowsche Konzept nichts gemein hat mit wirksamem Multilateralismus und diesen sogar verneint. Im Großen und Ganzen wollen wir keine ESVP, die dafür benutzt würde, um Europa zu einem der vielen Pole der so genannten großen Politik oder eines Konzerts der Großmächte zu machen. Unser Interesse besteht darin, demokratische Werte zu verteidigen und zu verbreiten und nicht darin, internationale Fragen zu lösen zusammen mit Mächten, von denen einige über nukleare Gefechtsköpfe verfügen, bei denen aber demokratische Prinzipien und Standards noch keine Wurzeln geschlagen haben, geschweige denn mit Ehrfurcht und Respekt behandelt werden. Dieses Konzept einer multipolaren Welt könnte für gewisse Länder in Europa sogar eine Versuchung darstellen.
Verbündeter oder Rivale?
Es wird gegenwärtig heftig diskutiert, ob die EU nicht beabsichtige, die NATO aus ihrem Einsatzgebiet zu vertreiben. Die EU übernimmt Einsätze auf dem Balkan; möglicherweise gibt es einander widersprechende Ansichten über die Rolle der NATO in Irak und vielleicht gibt es in einigen Gegenden Europas nicht genug Begeisterung im Hinblick auf ihr Engagement in Afghanistan. Die Frage ist, wie weit diese Situation das Ergebnis von Bemühungen gewisser Länder ist, ihr Gesicht nicht zu verlieren, wie weit es eine Frage des Gefühls von Politikern, oder wie weit es ein echter Reflex von Geben und Nehmen im Sicherheitsumfeld ist.
Wir sollten von Fakten ausgehen. Die EU ist noch in dem Prozess begriffen, ihre militärischen Potenziale aufzubauen. Auf einigen Gebieten hat sie gravierende Mängel festgestellt, auf anderen sucht sie nach Lösungen. Dies wird wahrscheinlich aber erst irgendwann um das Jahr 2010 herum abgeschlossen sein. Bis dahin wird die EU operativ in der Lage sein, Aufgaben im geringeren Rahmen zu erfüllen wie „Artemis“ in Kongo oder, weniger entfernte, wie die abgeschlossene „Concordia“ oder die geplante Folgemission für SFOR – beide unter Nutzung von NATO-Kapazitäten. Wir betrachten das Interesse der EU an Stabilisierung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft als logisch und legitim. Wir haben uns deshalb an allen europäischen Missionen auf dem Balkan beteiligt, eingeschlossen die militärische Operation „Concordia“ sowie die Polizeimission der EU in Bosnien-Herzegowina und im früheren Jugoslawien. Wir haben diese EU-Missionen aufrichtig unterstützt und werden dies auch weiterhin tun.
Die Fähigkeit der demokratischen Länder, bei der Schaffung von Sicherheit oder bei der Stabilisierung in verschiedenen Teilen der Welt behilflich zu sein, hängt mit den finanziellen Fähigkeiten zusammen. Es liegt auf der Hand, dass darin ein weiterer wichtiger und rein praktischer Grund liegt, warum die Verbündeten auf beiden Seiten des Atlantiks, die gemeinsame demokratische Werte teilen, gemeinsam handeln müssen – selbst heute, da sie nicht mehr von einem massiven Nuklearangriff durch die Sowjetunion bedroht sind. In der Welt von heute ist die Forderung nach Stabilisierungs- und anderen Einsätzen von Expeditionsstreitkräften wirklich groß. Es kann sein, dass wir bald herausfinden werden, dass die Frage der Finanzierung spürbare Grenzen setzt. Während kleinere, in der Nähe stattfindende Operationen für die EU eine leicht zu erfüllende Aufgabe darstellen, kann man sich gegenwärtig kaum vorstellen, dass die EU in der Lage sein wird, größere Operationen mit Expeditionsstreitkräften in weit entfernten Regionen zu finanzieren. Die USA werden sich dem selben Problem gegenüber sehen. Das unilaterale Engagement eines Jeden wäre mit deutlichen finanziellen Belastungen verbunden. Und genau hier sehen wir die unersetzliche Rolle der NATO, die geteilte Werte, geteilte Sicherheit wie auch geteilte Kosten repräsentiert.
Unsere Welt sieht sich heute wahrscheinlich größeren Herausforderungen gegenüber als in der Vergangenheit. So wie wir mit der Allegorie von stürmischen Wassern begonnen haben, wollen wir mit einem Zitat von Seneca schließen, der gesagt hat: Denen, die nicht wissen, welchen Hafen sie mit ihrem Boot ansteuern sollen, kann kein Wind helfen. Gegenwärtig haben wir die einmalige historische Gelegenheit, über die gemeinsame euro-atlantische Vision einer Welt von heute und morgen nachzudenken – die Europäische Sicherheitsstrategie stellt ein Stück dieses umfassenden Mosaiks dar.
Internationale Politik 4, April 2004, S. 47-52
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