„Eine ganze Generation von Kindern ist in Gefahr“
Der Chef der Internationalen Arbeitsorganisation mahnt, die extremen Umstände nach Corona zu nutzen und eine gerechtere Gesellschaft zu bauen.
Guy Ryder im Gespräch mit der IP
IP: Herr Ryder, ist Corona auch für die Arbeitsmärkte eine beispiellose Krise?
Guy Ryder: Die Arbeitswelt erlebt die gravierendste Krise seit der Großen Depression der 1930er Jahre. Ihre Auswirkungen sind weit größer als diejenigen der Finanzkrise 2009. Im Jahr 2020 gab es einen Verlust von 8,8 Prozent der weltweiten Arbeitsstunden. Das entspricht einem Verlust von 255 Millionen Vollzeitjobs. Etwa die Hälfte dieser verlorenen Arbeitsstunden lässt sich durch Kurzarbeit erklären. Der Rest rührt von Arbeitsplatzverlust in beispiellosem Ausmaß: 114 Millionen Menschen sind davon betroffen. Besonders besorgniserregend ist, dass der Großteil dieser Beschäftigungsverluste – 71 Prozent oder 81 Millionen Fälle – der „Inaktivität“ geschuldet ist: Diese Menschen sind aus dem Arbeitsmarkt herausgefallen. Entweder sind sie nicht in der Lage zu arbeiten, etwa wegen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung oder wegen sozialer Verpflichtungen, oder sie haben die Arbeitssuche aufgegeben. Unsere Daten zeigen uns, dass Frauen und junge Menschen davon am häufigsten betroffen sind.
Welche Region ist besonders getroffen? Welche wird sich rasch erholen?
Dies ist eine wahrhaft globale Krise. Es gibt keine Regionen und keine Staaten, die dagegen immun wären. Es ist zu erwarten, dass Nord- und Südamerika, Europa und Zentralasien mehr als doppelt so viele Arbeitsstunden verlieren werden als andere Regionen. Das liegt an den strengen Gesundheitsmaßnahmen, die dort zu Beginn des Jahres in Kraft waren.
Der amerikanische Kontinent hat 2020 bei weitem die schwersten Verluste hinnehmen müssen und hat demgemäß viel Boden gutzumachen. Doch gelten dort weiterhin massive Einschränkungen zur Pandemiebekämpfung. Im Gegensatz dazu wird der asiatisch-pazifische Raum 2021 unseren Berechnungen zufolge die geringsten Verluste von Arbeitsstunden erleben, was sich in der bereits Ende 2020 einsetzenden Erholung andeutete.
Wie sehen Ihre Positiv- und Negativszenarien bis Ende 2021 aus?
Die Situation ist derzeit sehr unsicher, wir sehen allerdings zaghafte Anzeichen der Erholung. Diese Anzeichen sind fragil, unsicher und ungleichmäßig. Doch mit den richtigen politischen Maßnahmen kann man darauf aufbauen. Wir haben drei Szenarien skizziert: ein Grundmodell, ein pessimistisches und ein optimistisches Modell. Das Grundmodell geht für 2021 weltweit von einem Rückgang der Arbeitsstunden um 3 Prozent im Vergleich zum vierten Quartal 2019 aus, was 87 Millionen Vollzeitjobs entspricht. Diesem Szenario gemäß gelingt den Staaten mit niedrigen und mittleren Einkommen die stärkste Erholung. Staaten mit hohen und mittelhohen Einkommen haben demnach ein schweres erstes Quartal vor sich; doch wird ihre Erholung in der zweiten Jahreshälfte an Fahrt gewinnen.
Das pessimistische Szenario geht davon aus, dass die Effekte der Pandemie wegen rückläufiger Konjunkturprogramme, langsamer Fortschritte bei Impfungen und einem schlechten Konsumklima noch länger nachklingen werden. Der Verlust von Arbeitsstunden wäre auf einem weiterhin hohen Niveau von 4,6 Prozent, was 131 Millionen Vollzeitjobs entspricht.
Unser drittes, optimistisches Szenario nimmt an, dass die Pandemie unter Kontrolle gebracht werden und ein positives Konsumklima folgen wird. Allerdings erwarten wir selbst in diesem Szenario für 2021 weitere Verluste von Arbeitsstunden in einem Umfang von 1,3 Prozent, was 36 Millionen Vollzeitjobs entspricht. In Nord- und Südamerika, Europa und Zentralasien wären diese Verluste mit rund 2 Prozent etwas höher.
Alle Szenarien gehen also davon aus, dass der Verlust von Arbeitsstunden sich fortsetzen wird. In anderen Worten: Die finanzielle und soziale Not von Millionen Menschen wird sich auch 2021 und darüber hinaus fortsetzen.
Was müssen Regierungen nun tun?
Wenn Erholungsmaßnahmen effektiv sein sollen, müssen sie den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Wir dürfen die Fehler der Finanzkrise von 2009 nicht wiederholen. Zuerst müssen wir die makroökonomischen Maßnahmen aufrechterhalten, die derzeit die Auswirkungen der Pandemie abfedern. Dabei geht es um fiskalischen Stimulus, Einkommensunterstützung und soziale Absicherung. Wir brauchen diese Instrumente auch 2021 und womöglich noch darüber hinaus. Auch müssen wirtschaftliche Erholungsmaßnahmen diejenigen in den Blick nehmen, die besonders schwer getroffen wurden: etwa Frauen, junge Menschen, Geringqualifizierte und Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Tun wir dies nicht, wird die Ungleichheit wachsen. Zudem müssen wir unsere Unterstützung auf die von der Krise am härtesten getroffenen Sektoren konzentrieren – und auf schnell wachsende Sektoren, die das Potenzial haben, rasch neue Jobs zu kreieren. Es liegt in unserem gemeinsamen Interesse, Staaten mit geringen und mittleren Einkommen zu unterstützen, die weniger Kapazitäten haben, Impfprogramme zu organisieren und Wiederaufbau- oder Arbeitsmarktprogramme zu finanzieren. Auch brauchen wir einen effektiven und offenen sozialen Dialog; nur so können wir sicherstellen, dass die Maßnahmen breite Zustimmung finden und zu einer andauernden, nachhaltigen und inklusiven Erholung führen können.
Sind Sie vor dem Hintergrund dieser Forderungen zufrieden mit der Krisenbewältigung der Regierungen?
Die Staaten haben zu außergewöhnlichen Mitteln gegriffen, um die Pandemie zu bekämpfen. Doch sie müssen noch mehr tun. Wenn wir einen massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit und damit einen langfristigen, durch ökonomische Inaktivität verursachten Schaden verhindern wollen, müssen Ad-hoc-Programme, inklusive bezahlten Urlaubs, finanzieller Transfers und Unterstützung für Familien, in vollem Umfang bestehen bleiben.
Aber wir müssen auch die langfristige Perspektive bedenken. Um die fürchterlichen Auswirkungen der Pandemie auf das Leben und die Lebensgrundlage der Menschen abzumildern, müssen wir soziale Sicherungssysteme ausweiten und verstärken, besonders für die Millionen von flexiblen und informellen Arbeitern, die in sehr großer Einkommensunsicherheit leben – und manchmal kaum überleben.
Diese Krise hat uns geholfen, die Augen für die schwierige Situation vieler vulnerabler Gruppen zu öffnen. Wir sollten dieses Problembewusstsein nutzen.
Wie bewerten Sie Deutschlands Krisenbewältigung mit Blick auf Arbeitnehmer und Wirtschaft?
Im Vergleich zu anderen Industriestaaten ist es Deutschland mit Blick auf den Verlust von Arbeitsstunden relativ gut gelungen, die ökonomischen Auswirkungen der Krise zu lindern. Die Bundesregierung hat schnell und in größerem Umfang als andere Staaten Maßnahmen zur Unterstützung der Angestellten und der Unternehmen (inklusive der Soloselbstständigen) ergriffen. Bereits bestehende Institutionen wie das etablierte System der Kurzarbeit haben es ermöglicht, schnell zu handeln. Allerdings haben vor allem bürokratische Hürden die Auszahlung der Unterstützung für Unternehmen verlangsamt und somit in ihrer Effektivität gehemmt.
Außerdem haben die Maßnahmen, die während der zweiten Covid-19-Welle ergriffen wurden, wie in anderen europäischen Staaten auch den Druck auf die Arbeitswelt erhöht. Deutschlands Entscheidung, finanzielle Unterstützung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber fortzusetzen, wollen wir auch in anderen Staaten sehen. Das Schlechteste, was man tun könnte, wäre es, solche Programme vorschnell zu beenden.
In den besonders stark von der Pandemie betroffenen Regionen wird Massenarbeitslosigkeit eine der langanhaltenden Folgen sein. Kann die Lage dort friedlich bleiben? Wie können Gesellschaften solche Belastungen abfedern?
Wir müssen aus der Vergangenheit lernen. Immer wenn sich die Welt durch Perioden wirtschaftlicher Turbulenzen bewegte, haben wir die Ungleichheit steigen sehen. Wenn die Integrität der sozialen Struktur brüchig wird, nährt dies das Misstrauen in den normalen demokratischen Prozess. Wir sollten unser Handeln nicht von den Zwängen der Pandemie diktieren lassen, sondern von unseren Entscheidungen und Präferenzen. Beim Finanzcrash 2008/09 untermalte ein Mantra die allgemeine Stimmung: Sobald die Impfung gegen das Virus des finanziellen Exzesses entwickelt und eingesetzt wäre, würde die Weltwirtschaft sicherer, fairer, nachhaltiger. Doch das geschah nicht. Die alte Normalität wurde mit aller Macht wiederhergestellt, und wer sich auf den niedrigen Rängen der Arbeitsmärkte befand, sah sich noch weiter abgehängt als zuvor.
Uns steht die Aufgabe bevor, eine Zukunft der Arbeitswelt zu schaffen, die die von der Pandemie markierten Ungerechtigkeiten gemeinsam mit den dauerhaften, nicht mehr aufschiebbaren Herausforderungen des klimatischen, digitalen und demografischen Wandels angeht.
Bewirkt die Corona-Pandemie einen Anstieg der Kinderarbeit? Was kann man dagegen tun?
Die weltweite Kinderarbeit ist von 246 Millionen Kindern im Jahr 2000 auf 152 Millionen im Jahr 2016 gesunken. Dennoch ist diese Zahl immer noch sehr hoch, insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele Kinder einer gefährlichen Arbeit nachgehen – was die schlimmste Form der Kinderarbeit ist. Derzeit droht die Corona-Pandemie die Fortschritte der vergangenen 20 Jahre abzuwürgen oder sogar umzukehren. Eine ganze Generation von Kindern ist in Gefahr.
Was bedeutet Corona für die Lohnentwicklung?
Aller Voraussicht nach wird die Corona-Krise die Löhne in der nahen Zukunft massiv unter Druck setzen. Zur Veranschaulichung: Die massiven Verluste im weltweiten Arbeitseinkommen summieren sich auf 3,7 Billionen Dollar oder 4,4 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts. Nicht alle Angestellten wurden von der Krise gleichermaßen getroffen: Auf Frauen wirkte sie sich schwerer aus als auf Männer. Sie hat auch Angestellte im Niedriglohnsektor schwer getroffen. Wenn wir eine bessere Zukunft gestalten wollen, müssen wir uns auch mit einigen unangenehmen Fragen dazu auseinandersetzen, warum Tätigkeiten mit hohem sozialem Wert – etwa in der Pflege oder der Schulbildung – so häufig mit niedriger Bezahlung verbunden sind.
Hat Corona auch positive Veränderungen in der Arbeitswelt gebracht?
Unter diesen extrem schwierigen Umständen fällt es nicht leicht, positiv über Möglichkeiten zu sprechen. Wir haben jedoch die Möglichkeit, eine bessere Welt wiederaufzubauen. Es kann kein einfaches Zurück zum vorpandemischen Zustand geben. Der Wiederaufbau darf nicht zulasten der verwundbarsten Bevölkerungsgruppen geschehen. Wenn wir uns keine Vision einer fairen Zukunft ausmalen können, haben wir den Kampf gegen die Pandemie gleich doppelt verloren. Wir müssen die derzeitigen extremen Umstände nutzen, um ein gerechteres Gesellschaftsmodell zu entwickeln, das die Fehler der Vergangenheit berücksichtigt.
Die Covid-19-Krise hat auch unsere Aufmerksamkeit für Umweltthemen erhöht. Als die Pandemie einschlug, fand das Thema in der Politik wie in der Öffentlichkeit bereits eine hohe Beachtung, was sich in der Fridays-for-Future-Bewegung widerspiegelt. Die Debatte setzte sich während der Pandemie fort und scheint in vielen Staaten dazu geführt zu haben, dass ernsthafter über eine grüne Zukunft und mögliche Wege dorthin nachgedacht wird.
Die Fragen stellte Martin Bialecki.
Aus dem Englischen von Matthias Hempert
Internationale Politik 2, März/April 2021, S. 38-41