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01. Nov. 2015

Eine deutsche Metamorphose

Vom unsicheren Kantonisten zur europäischen Führungsmacht

Deutschland ist zum Vorreiter in Europa geworden: zu einer Führungsmacht, die ihre Legitimität aus dem Engagement für ein zivilisiertes Miteinander zieht. Daraus erklärt sich auch die bisherige Gefolgschaft anderer europäischer Länder: aus dem Vertrauen heraus, dass Deutschland verantwortungsvoll Prinzipien verteidigt, und nicht nur Eigeninteressen.

Als sich Deutschland im März 2011 bei der Libyen-Resolution im UN-Sicherheitsrat enthielt, stand nicht nur das politische Berlin für kurze Zeit unter Schock. Auch in Europa und den USA hagelte es Kritik: an der Entscheidung selbst, aber auch an der Verlässlichkeit der Bundesrepublik als westlicher Partner. Experten befürchteten, dies sei der Beginn einer neuen blockfreien und merkantilistischen Außenpolitik. Die „deutsche Frage“, die Verankerung Deutschlands in Europa, kam wieder auf die Tagesordnung.

Wie anders sieht die Lage 2015 aus. Der Staatszerfall in Libyen zeigt, dass die deutsche Enthaltung vielleicht doch nicht ganz unklug war. Deutschland hat seitdem den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone abgewandt, Russland an den Verhandlungstisch mit der Ukraine gebracht und die meisten Flüchtlinge in Europa aufgenommen. Das Land hat eine bemerkenswerte Metamorphose durchlaufen: vom unsicheren Kantonisten für seine westlichen Partner in der Weltpolitik (sogar vom polnischen Nachbarn ermahnt, seine Verantwortung stärker wahrzunehmen) zur europäischen Führungsmacht in Krisenzeiten. Wobei die Krisenzeiten von der Ausnahme zum Dauerzustand geworden sind. 

Angesichts dieser Bilanz warnte die amerikanische Journalistin Anne Applebaum schon im Februar, deutsche Führung könne bald wie deutsche Hybris aussehen: Das Land überhebe sich mit dem gleichzeitigen Management der Ukraine- und Griechenland-Krise.1 Seitdem ist aber noch eine weitere Krise hinzugekommen, in der wieder einmal Deutschland im Mittelpunkt steht: Mit der Entscheidung, Flüchtlingen, die in Ungarn gestrandet waren, die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen, hebelte die Bundesregierung de facto das Dublin-System aus und übernahm die „moralische Führung“ in Europa, wie es in der New York Times hieß.2  Ganz Deutschland sonnte sich daraufhin im Glanz der humanitären Lorbeeren. Ihre eigene Fraktion schlug „Mutter Angela“, wie der Spiegel titelte, sogar für den Friedensnobelpreis vor. 
 

Wie hat es Deutschland geschafft?

Deutschland hat die polnische Aufforderung also ernst genommen und sich in den vergangenen Jahren als Führungsnation in Europa etabliert. Es ist in den aktuellen Krisen aktiv – vielleicht nicht mit einer glänzenden, aber doch mit einer soliden Leistung. Politische Beobachter sowie andere europäische Länder, die gerne einmal (wieder) das Sagen in Europa hätten, stellen halb bewundernd, halb misstrauisch die Frage: Wie hat Deutschland das geschafft?

Die erste Antwort darauf mag banal klingen, ist jedoch essenziell: Eine Grundbedingung von Führung ist das Mitziehen anderer Länder. Das Erstaunlichste beim deutschen Krisenmanagement im Hinblick auf die Ukraine und Griechenland – in der Flüchtlingspolitik ist das noch nicht abzusehen – ist in der Tat, dass Länder mit so unterschiedlichen Interessen und Gefahrenperzeptionen wie zum Beispiel Spanien und Polen sich hinter einer deutschen Führung versammelt haben. Und das in einem so komplizierten Gebilde wie der Europäischen Union, in der Gefolgschaft nur auf Freiwilligkeit beruht.

Wenn Gefolgschaft auf Freiwilligkeit beruht und nicht erzwungen werden kann, ist der entscheidende Faktor die Legitimität der Führungsmacht. Es ist nicht überraschend, dass die USA als stärkste Militärmacht der Welt, die 50 Prozent des NATO-Budgets stemmt, eine Führungsmacht ist; schließlich hängt die Sicherheit Europas ganz entscheidend von den Vereinigten Staaten ab. Deutschland kann eine solche Legitimität in Europa nicht vorweisen. Stattdessen wird häufig Deutschlands wirtschaftliche Macht als Basis für die dominante deutsche Stellung genannt.

Deutschland ist eine geoökonomische Macht. Aber das allein genügt noch nicht, um legitime Führung und Gefolgschaft zu erreichen. Im Gegenteil, wirtschaftliche Stärke kann sich kontraproduktiv auf das Führungspotenzial auswirken: Dann nämlich, wenn der Eindruck entsteht, die Politik werde wirtschaftlichen Interessen untergeordnet. Vor dem Ausbruch der Krise um die Ukraine hätten nicht wenige Beobachter sicherlich vorhergesagt, dass Deutschland niemals Sanktionen zustimmen werde, die der eigenen Wirtschaft – und damit Deutschlands Macht-basis in Europa und der Welt – schaden würden. Das genaue Gegenteil war jedoch der Fall. 

Deutschland nutzte seine geoökonomische Machtstellung, aber nicht, um seine eigenen wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen, sondern um klassische normative Zivilmachtprinzipien mit dem Einsatz von Sanktionen zu verteidigen: das Tabu militärischer Mittel im Umgang miteinander, die Aufrechterhaltung einer regelbasierten Ordnung in Europa, die Zivilisierung der internationalen Politik durch Verhandlung und Verrechtlichung und nicht das Recht des Stärkeren. 

Beachtenswert bleiben die Worte von Außenminister Frank Walter Steinmeier, mit denen er im April 2014 das Primat der Politik gegenüber der deutschen Wirtschaft etabliert hat: „Wir sollten nicht dem Missverständnis unterliegen, als könne abseits der Politik eine wirtschaftliche Welt existieren, die es nichts angeht, wenn wichtige Grundvoraussetzungen für das friedliche Zusammenleben in Europa infrage stehen.“3 Hier zeigt sich der Anspruch auf eine prinzipien- und nicht interessenbasierte normative Führung, die dadurch auch das Vertrauen und die Gefolgschaft anderer Länder gewann. 

Ein ähnlicher normativer Anspruch lässt sich auch in der Flüchtlingskrise beobachten: Als einer der wenigen Regierungschefs in Europa verteidigt Bundeskanzlerin Merkel das Grundrecht auf Asyl und argumentiert für eine faire Lastenverteilung. Deutschland, das früher nicht gerade bekannt war für seine Willkommenskultur, findet sich plötzlich an der Spitze einer Bewegung für eine menschlichere Flüchtlingspolitik wieder und bietet Menschen Zuflucht, die einen langen, gefährlichen Weg auf sich genommen haben. Dabei kann auch die auf innenpolitischen Druck hin vorgenommene Kurskorrektur in Richtung restriktiverer Maßnahmen und Grenzkontrollen die Wahrnehmung Deutschlands als moralische Instanz in der Flüchtlingsdebatte bisher nicht viel anhaben.

Deutschland ist zum normativen Vorreiter in Europa geworden: zu einer Führungsmacht, die ihre Legitimität aus dem Engagement für ein zivilisiertes Miteinander zieht. Daraus erklärt sich auch die (bisherige) Gefolgschaft anderer europäischer Länder: aus dem Vertrauen heraus, dass Deutschland Prinzipien verteidigt, und nicht nur Eigeninteressen. Dass es nicht (nur) um Macht geht, sondern um Verantwortung.
 

Zurzeit leider alternativlos

Aber wie viel deutsche Führung verträgt Europa? Die Notwendigkeit von Führung in Krisensituation ist unbestreitbar, aber muss es immer Deutschland sein? Zurzeit scheinbar ja, denn der Mangel an alternativen Führungsmächten ist evident: Großbritannien ist ein Totalausfall, Frankreich mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, die EU-Institutionen und ihre Repräsentanten nicht stark genug. Aber auch wenn deutsche Führung derzeit alternativlos scheint, um in der Sprache Angela Merkels zu bleiben, kommt sie nicht ohne Risiken. 

Erstens, die Gefahr einer wahrgenommenen deutschen Dominanz in Europa. Auch wenn Finanzminister Wolfgang Schäuble nach der Kritik an dem harten Kurs in den Griechenland-Verhandlungen darauf beharrte, es gäbe keine deutsche Dominanz in Europa, zeigte sich nicht nur Joschka Fischer besorgt über die Wiederkehr des „hässlichen Deutschen“.4 Auch Jürgen Habermas befürchtete, Deutschland könne sein hart erworbenes politisches Kapital für hegemoniale Anwandlungen verspielen.5 Denn die EU ist in ihren Grundfesten ein antihegemoniales Projekt. Die Etablierung einer dominanten Posi-tion vonseiten eines Landes wird langfristig den Widerstand anderer hervorrufen. Umso wichtiger ist es, die Kunst der Koalitionsbildung zu pflegen und Frankreich, Großbritannien sowie Polen an Bord zu halten, um die Last zu verteilen und die Legitimität für den eigenen politischen Kurs zu erhöhen.

Zweitens besteht die Gefahr einer Marginalisierung der EU als Akteur in der internationalen Politik. Die ganze EU hinter sich zu wissen, zum Beispiel in der Sanktionspolitik, stärkt die deutsche Macht. Deutschland nutzt die institutionelle Macht der EU; das stärkt jedoch nicht die Macht der EU als Institution. Im Gegenteil, die Art der informellen Ad-hoc-Führung, die Deutschland gezeigt hat, unterminiert die Strukturen institutionalisierter Kooperation in der Europäischen Union. Deswegen ist es umso dringlicher, so der Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt, Thomas Bagger, den deutschen Moment in einen europäischen Moment zu transformieren.6

Die dritte und vielleicht größte Gefahr ist eine Überforderung der deutschen Politik. Zwar hat ein Elitendiskurs über eine stärkere deutsche Verantwortung begonnen, der – wie die Ukraine-Krise zeigte – zu Unrecht auf militärische Aspekte reduziert worden ist. Dennoch müssen dafür erst die personellen und institutionellen Kapazitäten bereitgestellt werden. Außerdem müssen deutsche Politiker nach innen wie nach außen Erwartungsmanagement betreiben: gegenüber der eigenen Bevölkerung, die lieber die Bequemlichkeit der alten Bonner Republik hätte, und gegenüber außenpolitischen Partnern, die zum Beispiel viel vom deutschen OSZE-Vorsitz 2016 erwarten. 

Anlässlich des Mauerfalls wurde die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher von Bundeskanzler Helmut Kohl mit den Worten zitiert: „We have beaten the -Germans twice, and now they’re back.“ 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland auf die Weltbühne zurückgekehrt – aber als normative -europäische Führungsmacht, die mit ihrem zivilisierenden Anspruch -vielleicht sogar Frau Thatcher versöhnt hätte. 

Liana Fix ist Fellow am American Institute on Contemporary German Studies, Washington DC.

  • 1Anne Applebaum: The risks of putting Germany front and center in Europe’s crises, Washington Post, 20.2.2015.
  • 2By Kathrin Bennhold, Steven Erlanger und Alison Smale: Germans Welcome Migrants After Long Journey Through Hungary and Austria, NYT, 5.9.2015.
  • 3Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Eröffnung des east forum Berlin, Deutsches Historisches Museum, 9.4.2014.
  • 4Joschka Fischer: Ist der „hässliche Deutsche“ zurück, Project Syndicate, 23.7.2015.
  • 5Merkel ‚gambling away‘ Germany’s reputation over Greece, says Habermas, The Guardian, 16.7.2015
  • 6Thomas Bagger: The German Moment in a Fragile World, The Washington Quarterly, Winter 2015.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2015, S. 56-59

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