Ein Zombie-Staat bedroht die Welt
Internationale Handlungsoptionen gegenüber Nordkorea
Lange hatte die Welt auf einen Zusammenbruch des abgewirtschafteten Regimes in Pjöngjang gewartet – vergeblich. Mittlerweile hat man sich mit dem Status quo arrangiert, ein Spiel mit dem Feuer: Sich auf die Stabilität einer Regierung zu verlassen, die wiederholt die Regeln des internationalen Zusammenlebens missachtet hat, wäre unverantwortlich.
„The party is over“, könnte man über Nordkorea vieldeutig sagen: Ein Parteitag besiegelte die Nachfolge Kim Jong Ils, Kronprinz Kim Jong Un wurde in Amt und Würden berufen. Nach den Feierlichkeiten darf die Demokratische Arbeiterpartei Koreas wieder in ihren Dämmerschlaf versinken – die Macht liegt ja längst nicht mehr in ihren Händen, sondern in denen des Familienclans von Staatsgründer Kim Il Sung, des Militärs und der Sicherheitskräfte.
Tatsächlich ist Nordkoreas Regime zu seiner alten Routine zurückgekehrt. Auf der einen Seite hat es das unterbrochene Programm der Familienzusammenführungen wieder aufgenommen und signalisiert damit Kooperationsbereitschaft. Gleichzeitig provoziert es die Welt durch militärische Übergriffe wie die Versenkung eines südkoreanischen Kriegsschiffs, die Artillerieattacke auf die südkoreanische Insel Yeonpyeong und durch die demonstrative Ausweitung seiner nuklearen Aktivitäten.
Nachdem die internationale Gemeinschaft lange vergeblich darauf gehofft hatte, dass das buchstäblich abgewirtschaftete Regime zusammenbrechen würde, scheint sie sich an diesen bizarren Staat gewöhnt zu haben. Alle wichtigen Nachbarstaaten und Großmächte – von der Volksrepublik China über Russland, Japan und die USA bis hin zu Südkorea – ziehen den Status quo einem Zusammenbruch des Regimes vor, dessen Folgen niemand abschätzen kann. Vor allem China versucht alles in seinen Kräften Stehende, um das jetzige Regime an der Macht und diesen Staat am „Leben“ zu halten.
Doch die koreanische Halbinsel bleibt eine hochgefährliche Region, denn der nordkoreanische Steinzeitkommunismus mit seinen sektenhaften Zügen dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit eher früher als später gewaltsam zusammenbrechen. Dabei würde nicht nur die Region Ostasien, sondern die Weltpolitik insgesamt in Mitleidenschaft gezogen. China, Pjöngjangs Schirmherr und großer Bruder, wiegt sich und die Welt gerne in dem Glauben, den widerspenstigen Verbündeten unter Kontrolle zu haben. Doch in den vergangenen Jahren war wiederholt zu beobachten, dass Pjöngjang den mächtigen Nachbarn ungestraft brüskieren konnte. Pekings Behauptung, es könne den Gang der Dinge in Nordkorea bestimmen, ist wohl mehr als zweifelhaft.
Massives Versagen
Auf den ersten Blick mag diese Einschätzung alarmieren. Dieses Regime hat das Ende des Kalten Krieges immerhin schon mehr als 20 Jahre überlebt. Es scheint so fest im Sattel zu sitzen, dass es sich den Luxus eines jungen, unerfahrenen und bislang völlig Unbekannten als Erben des jetzigen starken Mannes, Kim Jong Il, leisten kann. Kim Jong Uns bislang einzige erkennbare Qualifikation besteht darin, dass er als Enkel des Staatsgründers Kim Il Sung die regierende „Dynastie“ der Kims in dritter Generation vertritt.1
Nordkorea ist ein Sonderfall in der Kategorie der zerfallenden Staaten: Es ist ein „Zombie-Staat“, der eigentlich schon längst zusammengebrochen ist und dessen Lebensfunktionen nicht mehr existieren. Er ist nicht mehr in der Lage, sich wirtschaftlich zu tragen oder seine Bevölkerung angemessen zu ernähren. Anfang der siebziger Jahre war Nordkoreas Wirtschaftsleistung noch mit der südkoreanischen vergleichbar. Heute beträgt sie gerade einmal drei Prozent des südlichen Nachbarn. Die Einfuhren des Landes erreichten im Jahr 2009 geschätzte 3,5 Milliarden Dollar bei einer Bevölkerung von rund 23 Millionen. Ein Großteil der nordkoreanischen Importe erfolgt dabei auf der Basis von Hilfslieferungen oder Krediten der Volksrepublik China, deren Rückzahlung äußerst ungewiss ist. Südkoreas Importe beliefen sich im selben Jahr auf 317,5 Milliarden Dollar, bei einer Bevölkerung von etwa 49 Millionen.
Mitte der neunziger Jahre kam es in Nordkorea zu Hungersnöten, die nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 600 000 bis 900 000 Todesopfer forderten. Inzwischen hat sich die chronische Unterversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln so dramatisch zugespitzt, dass sie auch bei der Rekrutierung von Soldaten für die nordkoreanische Armee Probleme aufwirft.2 Hinzu kommen bei vielen Nordkoreanern bleibende gesundheitliche und mentale Schädigungen durch chronische oder akute Unterernährung. Selbst die Tatsache, dass die Nordkoreaner heute im Durchschnitt einige Zentimeter kleiner sind als ihre südkoreanischen Landsleute, wird der mangelhaften Ernährung zugeschrieben.
Ähnlich katastrophal ist es um die medizinische Versorgung der Bevölkerung bestellt. Die physische Infrastruktur des Landes ist marode und kaum noch funktionsfähig; dafür investiert das Regime Unsummen in grandiose Monumente für die Dynastie der Kims3 und in kostspielige Staatsereignisse wie die Feierlichkeiten zum 65. Geburtstag der Staatspartei.
Wie wenig der nordkoreanische Staat inzwischen Sicherheit und Schutz der eigenen Bevölkerung gewährleisten kann, zeigt eine Studie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Darin wurden die Auswirkungen von Naturkatastrophen im Zeitraum 1997 bis 2006 weltweit vergleichend untersucht. Insgesamt waren in den 220 untersuchten Staaten und Territorien rund 1,2 Millionen Opfer zu beklagen. Fast 40 Prozent davon entfielen auf einen einzigen und nicht einmal besonders bevölkerungsreichen Staat: Nordkorea.4 Und das war keineswegs einer ungewöhnlichen Konzentration von Naturkatastrophen auf der koreanischen Halbinsel geschuldet. Vielmehr versagte das Regime massiv und durchgängig, wenn es um vorbeugende Maßnahmen und um das Krisenmanagement nach Naturkatastrophen ging. Zum Teil löste eine verfehlte Politik – wie etwa die systematische Rodung von Wäldern, die zu massiven Überschwemmungen beitrug – solche Katastrophen erst aus.
Kurzum: Für das Regime ist die nordkoreanische Bevölkerung ausschließlich dazu da, den Regierenden ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Das Leben des Einzelnen und das Wohl der Gesellschaft insgesamt dagegen interessieren nicht. Damit hat der nordkoreanische Staat seine Existenzberechtigung eingebüßt.
Im Stechschritt in die Sackgasse
Von außen betrachtet ist das pseudo-sozialistische Regime freilich stärker denn je. Es überlebt, weil es dem Militär und den Sicherheitsapparaten absoluten Vorrang einräumt und auf Kosten einer hungernden und geschundenen Bevölkerung eine Militär- und Unterdrückungsmaschinerie unterhält, mit deren Hilfe es nicht nur die eigene Bevölkerung an der Kandare halten, sondern auch die Nachbarländer und die Staatengemeinschaft erfolgreich erpressen konnte. Rund ein Viertel der gesamten nordkoreanischen Wirtschaftsleistung fließt in die Rüstung. Das bis an die Zähne bewaffnete Land ist ein einziger Kasernenstaat. Nordkoreas Atomwaffenprogramm ist die ultimative Manifestation dieser Logik des Regimeerhalts um jeden Preis. Solange der Zombie-Staat besteht, wird er deshalb unter keinen Umständen auf seine Atombomben und Raketensysteme verzichten.
Trotz aller scheinbaren Erfolge hat diese Strategie jedoch einen entscheidenden Haken: Je länger das Regime auf diese Weise versucht, sein Überleben zu sichern, desto geringer werden die Chancen, die nordkoreanische Wirtschaft durch eine grundsätzliche Neuorientierung der Politik – etwa durch wirtschaftliche Reformen nach chinesischem Vorbild – wiederzubeleben. Und so marschiert Pjöngjang gleichsam im Stechschritt in eine Sackgasse.
Indem es sich darauf konzentriert, sich nach außen wie nach innen unverwundbar und unantastbar zu machen, verliert das Regime an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Es wird deshalb auch in Zukunft darauf angewiesen sein, seine materiellen Grundlagen durch Zuwendungen und Erpressungen zu sichern: Es ist existenziell von der Bereitschaft insbesondere Chinas und Südkoreas abhängig, den Nachbarstaat über Wasser zu halten.
Bislang erreichte die Regierung in Pjöngjang dies vor allem durch die unverhohlene Drohung mit dem eigenen Zusammenbruch, der Südkorea sowie auch die Volksrepublik China mit massiven Flüchtlingsströmen und einer Vielzahl von Problemen konfrontieren würde. Doch gegenüber Südkorea hat Pjöngjang den Bogen seiner erpresserischen Politik in jüngster Zeit überspannt: Die konservative südkoreanische Regierung unter Ministerpräsident Lee Myung Bak hat die staatlichen Hilfsleistungen für den Norden inzwischen weitgehend eingestellt.
Damit ist Nordkorea, dessen Regime ideologisch immer wieder Selbstgenügsamkeit und Autarkie propagiert, nun völlig von der Volksrepublik China abhängig – eine Abhängigkeit, die dem misstrauischen und xenophoben, ja rassistischen Regime in Pjöngjang trotz aller offiziellen Freundschaftsbekundungen zutiefst zuwider sein dürfte.
Weich landen oder hart drohen?
Wie könnte die Zukunft des Zombie-Staates aussehen? In einem plausiblen Szenario für eine „weiche Landung“ durch wirtschaftliche Reformen nach chinesischem Vorbild könnte er sich allmählich auflösen. Die nordkoreanische Wirtschaft und Gesellschaft würden dabei gleichsam „von unten“ durch die Aktivitäten chinesischer und südkoreanischer Unternehmen und anderer nichtstaatlicher Akteure sowie durch die sich immer stärker ausbreitende Korruption aufgeweicht. Schon heute wetteifern südkoreanische und chinesische Unternehmen um den Zugang zu nordkoreanischen Rohstoffen und billigen Arbeitskräften.
Auch die Autorität und Effektivität der nordkoreanischen Repressionsmaschinerie wird durch die grassierende Korruption eingeschränkt. Zu einem Preis von derzeit etwa 12 000 Dollar, so heißt es in Südkorea, könne jede beliebige Person aus Nordkorea herausgeschleust werden. Pjöngjang reagierte, indem es seinen Grenzsoldaten Kopfprämien für gefasste Republikflüchtlinge versprach – was die grassierende Korruption allerdings weiter fördern dürfte. Sie scheint inzwischen auch das Militär und die Sicherheitsdienste erfasst zu haben. Damit ist zumindest vorstellbar, dass sich das Zwangskorsett, in das die nordkoreanische Gesellschaft von ihrem Regime gesteckt wurde, allmählich lockert und das Regime immer mehr an Macht verliert. Der Zombie-Staat bliebe dann zwar erhalten, würde aber nur als Hülle weiter existieren.
Allerdings wird dieses Szenario immer unwahrscheinlicher. Trotz aller Ermutigungen und des mehr oder minder sanften Druckes des großen Bruders in Peking weigerte sich Pjöngjang bislang strikt, die Zügel der wirtschaftlichen Kontrolle ernsthaft zu lockern. Ganz offensichtlich befürchtet das Regime – nicht ganz unberechtigt – dann auch rasch die politische Kontrolle zu verlieren.
Nicht auszuschließen ist auch, dass Nordkorea die eigene Gesellschaft, die Region und die Welt weiter terrorisiert, vom großen Bruder China mehr oder weniger notdürftig in Zaum gehalten. In der Mythologie lassen sich „Untote“ nur schwer besänftigen oder beseitigen. Allen widrigen Umständen zum Trotz, die das Regime allerdings überwiegend selbst zu verantworten hat, zeigt es eine enorme Überlebensfähigkeit, die auch den prekären Status quo weiterhin erhalten könnte.
Die jüngsten Ereignisse auf der Halbinsel, wie die Versenkung des südkoreanischen Kriegsschiffs Cheonan, wahrscheinlich durch ein nordkoreanisches U-Boot, der Artilleriebeschuss der südkoreanischen Insel Yeonpyeong und die demonstrative Zurschaustellung nordkoreanischer Nuklearaktivitäten, deuten aber auf ein Dilemma der erpresserischen nordkoreanischen Strategie: Sie nutzt sich ab und erzwingt immer neue, riskante Maßnahmen, um zu demonstrieren, dass die mit der Erpressung verbundenen Drohungen ernst zu nehmen sind.
Diese (für den Rest der Welt, nicht für die Nordkoreaner selbst!) vergleichsweise günstigen Szenarien vernachlässigen allerdings, dass im Land selbst die Verzweiflung wächst. Das betrifft zum einen die Bevölkerung – trotz erheblicher Risiken für Leib und Leben steigt die Zahl der Nordkoreaner, die aus ihrem Land fliehen. Es gilt aber offenbar auch für das Regime, das sich der Sackgasse bewusst zu werden scheint, in die es sich manövriert hat.
Die in den vergangenen Jahren unternommenen wirtschaftspolitischen Experimente, die Einführung von Marktmechanismen und die vorsichtige Öffnung der Volkswirtschaft lassen sich als verzweifelte Bemühung verstehen, die Quadratur des Kreises zu erreichen: eine Revitalisierung der Volkswirtschaft ohne Aufgabe der vollständigen politischen Kontrolle durch das Regime.
Der wirtschaftspolitische Kurs Pjöngjangs war aber zuletzt so widersprüchlich und erratisch, dass es erstmals zu größerem Widerstand in der Verwaltung und der Bevölkerung kam. Nicht nur wurden einige Maßnahmen stillschweigend zurückgenommen oder niemals umgesetzt. Das Regime stempelte kurzerhand einen der wichtigsten Verantwortlichen für das Reformprogramm, Pak Nam Ki, zum Sündenbock und ließ ihn hinrichten.
Es wäre deshalb politisch unverantwortlich, wenn sich Nordkoreas Nachbarn und die Welt insgesamt darauf verließen, dass die prekäre Stabilität des Regimes und der Status quo auf der koreanischen Halbinsel weiterhin erhalten bleiben werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass vielleicht schon in naher Zukunft irgendjemand in Pjöngjang einen entscheidenden Fehler macht und damit den Zusammenbruch des Regimes auslöst, ist nicht gering. Die Folgen könnten erheblich sein: In Nordkorea lagern nicht nur etliche atomare Sprengsätze, sondern vermutlich auch mehrere tausend Tonnen chemischer Massenvernichtungswaffen sowie riesige Bestände von konventionellen Waffen und Munition.
Zudem ist jegliche politische Veränderung auf der koreanischen Halbinsel von weltpolitischer Bedeutung, weil sich dort die geopolitischen Einflusssphären der Volksrepublik China und der Vereinigten Staaten überschneiden. Was auf der koreanischen Halbinsel passiert, betrifft direkt die wichtigsten Beziehungen der Weltpolitik, nämlich die amerikanisch-chinesischen. Wie die USA und China mit einer Krise auf der Halbinsel umgehen und wie sich dabei Japan and Russland verhalten würden, hätte wiederum erhebliche Auswirkungen auf die internationale Ordnung.
Prekäre Stabilität
Wie sollte die internationale Politik auf diese Risiken reagieren? Derzeit konzentrieren sich die Bemühungen der Nachbarstaaten und der USA vor allem darauf, die gegenwärtige, prekäre Stabilität zu sichern. Zwar wurden aus Protest gegen das nordkoreanische Atomprogramm Wirtschaftssanktionen verhängt. Aber solange China nichts unternimmt, was die Stabilität des Regimes in Pjöngjang gefährden könnte, ist es kaum möglich, effizienten wirtschaftlichen Druck auszuüben. Unter den derzeitigen Voraussetzungen gibt es keine realistische Alternative zu dieser Politik. Jeder Versuch, das Regime in Nordkorea von außen zu Fall zu bringen, wäre mit unverantwortlichen Risiken verbunden. Wichtig wäre es allerdings auch, sich auf eine dramatische Veränderung der Situation in Nordkorea einzustellen, dafür, soweit möglich, Vorkehrungen zu treffen und sich unter den Nachbarstaaten einschließlich der USA abzustimmen – immerhin verfügen die USA auf der koreanischen Halbinsel über eine erhebliche militärische Präsenz von etwa 25 000 Soldaten.
Es sind drei große Problemkomplexe, die angegangen werden müssen, wenn sich die Krise in Nordkorea zuspitzen sollte: Neben einem Krisenmanagement und dem Wiederaufbau eines überlebensfähigen nordkoreanischen Staates müssen politische Veränderungen in Nordkorea, welche ja die Lage auf der gesamten Halbinsel betreffen, in internationale Vereinbarungen und Vertragsregelungen eingebettet werden.
Im Rahmen des Krisenmanagements müssten zunächst einmal die unmittelbaren Folgen einer Systemkrise in internationaler Abstimmung und Kooperation bewältigt werden. Im Inneren Nordkoreas und über die Grenzen hinweg wären Flüchtlingsströme zu erwarten. Dies dürfte vor allem China betreffen, das über eine lange und vergleichsweise zugängliche gemeinsame Grenze mit Nordkorea verfügt.
Die Waffenstillstandslinie entlang des 38. Breitengrads, die Nord- von Südkorea trennt, wäre dagegen zunächst wohl nur schwer zu überwinden: Das Niemandsland auf beiden Seiten der Grenze ist vermint und stark gesichert. Viele Nordkoreaner würden aber wohl versuchen, Südkorea und andere Nachbarstaaten mit Booten zu erreichen. China könnte sich veranlasst sehen, die Flüchtlingsströme einzudämmen, würde sich damit aber heftiger Kritik der Weltöffentlichkeit aussetzen. Die südkoreanische Regierung wäre wohl innenpolitisch ohnedies kaum in der Lage, sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen zu stemmen.
Allerdings könnten sich sowohl Seoul als auch Peking in einer solchen Lage genötigt sehen, militärisch in Nordkorea zu intervenieren, um die Flüchtlingsströme über die Grenze zu stoppen und zugleich im Landes-inneren einzuhegen. Jede derartige Intervention wäre außenpolitisch heikel. Am plausibelsten wäre wohl ein Eingreifen Südkoreas, was allerdings die Zustimmung Chinas und des UN-Sicherheitsrats sowie möglicherweise auch die Beteiligung anderer Staaten voraussetzen würde. Eine solche humanitäre Intervention birgt ein erhebliches Risiko für militärische Auseinandersetzungen mit Resten des nordkoreanischen Militär- und Sicherheitsapparats.
Vorstellbar wäre zudem, dass es in Nordkorea zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Fraktionen und Elementen dieser Apparate kommt. Selbst wenn es gelingen sollte, diese Gefahren zu vermeiden, wäre nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung mit Gewaltausbrüchen zu rechnen, etwa mit Überfällen und Plünderungen nicht zuletzt der umfangreichen Waffenarsenale. Unter diesen Umständen wäre es äußerst schwierig, ein Mindestmaß an öffentlicher Ordnung herzustellen. Auch hier wäre es wohl nötig, den UN-Sicherheitsrat einzuschalten, um eine breit angelegte internationale Intervention sorgfältig abzustimmen.
Die Atomwaffen Nordkoreas sowie die vermuteten umfangreichen Bestände an chemischen Massenvernichtungswaffen und die konventionellen Arsenale müssten in jedem Fall gesichert werden. Dass insbesondere Massenvernichtungswaffen im Zuge der inneren Wirren nach dem Zusammenbruch des Zombie-Staates in falsche Hände geraten könnten, ist ein Risiko, das nicht zu verantworten wäre. Auch hier wäre womöglich eine Intervention von außen notwendig, und auch hier müssten sich die Akteure – womöglich unter enormem Zeitdruck – untereinander abstimmen und so verantwortlich handeln, dass keine Spannungen und Missverständnisse vor allem zwischen den USA und China entstünden. Schließlich müsste es darum gehen, die Lebensgrundlagen der Bevölkerung Nordkoreas so rasch wie möglich angemessen zu sichern. Dabei käme Südkorea zweifellos eine Schlüsselrolle zu.
Der wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Wiederaufbau Nordkoreas wäre vermutlich am leichtesten über eine Vereinigung der beiden koreanischen Staaten zu bewerkstelligen. Südkorea (nicht aber China) dürfte auch bereit sein, die erheblichen finanziellen Belastungen zu tragen, die mit diesem Wiederaufbau verbunden wären. Aber auch Japan wäre in dieser Situation gefragt und wohl auch bereit, erhebliche finanzielle Mittel für den Wiederaufbau des Landes bereitzustellen. Als Wiedergutmachung für die einstige japanische Kolonialherrschaft in Korea hatte Tokio in der Vergangenheit bereits eine Hilfe in Milliardenhöhe für Nordkorea zugesagt. Zusätzlich könnten internationale Geber- und Finanzinstitutionen wie die Weltbank und die Asiatische Entwicklungsbank einbezogen werden.
Vereinbarungen und Verträge
Darüber hinaus ginge es darum, eine neu entstandene Lage auf der koreanischen Halbinsel durch internationale Vereinbarungen und Verträge langfristig abzusichern. Diese Aufgabe ließe sich mit der internationalen Einbettung der deutschen Vereinigung mit Hilfe des Zwei-plus-Vier-Vertragswerks vergleichen. Ob es zu einer formellen Wiedervereinigung der beiden koreanischen Staaten käme oder nicht: Eine Reihe von Fragen, die auch die Nachbarländer und die Staatengemeinschaft insgesamt beträfen, bedürften der einvernehmlichen Regelung. Dazu zählen
- die Ablösung des gegenwärtigen UN-Waffenstillstandsregimes auf der koreanischen Halbinsel durch einen Friedensvertrag;
- die einvernehmliche Festlegung der Grenzen auf der koreanischen Halbinsel und in den angrenzenden Gewässern. Dies beträfe insbesondere die Landgrenze zwischen China und Nordkorea;
- die Zukunft des bilateralen amerikanisch-koreanischen Sicherheitsvertrags und damit der geopolitischen Orientierung Koreas im Spannungsfeld der Beziehungen zwischen China, den USA und Japan. Damit verbunden ist die Frage, ob auch in Zukunft amerikanische Soldaten in Südkorea stationiert sein sollen und können – eine Frage, deren Beantwortung die militärische Präsenz der USA in Japan und damit in ganz Ostasien tangieren dürfte;
- schließlich der zukünftige Status der koreanischen Halbinsel mit Blick auf die bestehenden Regime zur Ächtung von nuklearen, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen.
Keines dieser Probleme ist leicht zu lösen, und einige dürften die Fähigkeit und die Bereitschaft der ostasiatischen Mächte zur Zusammenarbeit und zu einem abgestimmten Vorgehen bis an die Grenze des Vorstellbaren belasten. Natürlich bleibt zu hoffen, dass diese Grenzen nicht ausgelotet und ausprobiert werden müssen und dass es zu einer „weichen Landung“ und zu einem friedlichen Ende des Zombie-Staates kommt. Aber es wäre unverantwortlich, sich auf die Stabilität eines Regimes zu verlassen, das wiederholt und ostentativ grundlegende Regeln des internationalen Zusammenlebens und der Menschenrechte mit Füßen tritt. Mit Zombie-Staaten lässt es sich eben nicht friedlich zusammenleben.
Prof. Dr. HANNS W. MAULL lehrt Politikwissenschaft an der Uni Trier und forscht gegenwärtig in den USA.
- 1Für eine andere, nordkoreanische Sicht zu Kim Jong Un vgl. Myong Chol Kim: Young general has got what it takes, Asia Times Online, 23.11.2010, http://www.atimes.com/atimes/Korea/LK23Dg01.html.
- 2Nach Aussagen der Website Daily NorthKorea, die primär von Nordkorea-Flüchtlingen aufgebaut wurde, beginnt die allgemeine Wehrpflicht in Nordkorea mit 16 Jahren; die Einstellungs-voraussetzungen sind eine Körpergröße von 148 cm und ein Mindestgewicht von 48 kg. Auf der Seite findet sich auch ein (anonymes) Interview mit einem nordkoreanischen Soldaten, der nach Hause geschickt wurde, um seine chronischen Ernährungsdefizite auszukurieren. Vgl. Daily NorthKorea, 25.7.2005, http://www.dailynk.com/english/read.php?cataId=nk00100&num=225.
- 3In Nordkorea soll es nicht weniger als 22 000 Statuen von Kim Il Sung geben.
- 4Vgl. International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies, World Disaster Report 2007, Focus on Discrimination, Genf 2007, S. 200 ff, einsehbar unter http://www.ifcr.org/Docs/pubs/disasters/wdr2007/WDR2007-English.pdf.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 94-99