Ein schweres Erbe
Mexikos neue Staatspräsidentin steht nun an der Spitze eines Landes, das ihr Vorgänger stark verändert hat.
Wenn man dieser Tage durch Mexiko-Stadt spaziert, bekommt man allzu leicht das Gefühl, dass sich in den vergangenen Monaten nur wenig verändert hat. Wie immer vermischen sich die Gerüche der Essensstände schon früh am Morgen mit dem Lärm einer pulsierenden Metropole. Nähert man sich dem Paseo de la Reforma – der Prachtstraße im Herzen der Stadt, wo den Helden der Geschichte, der Unabhängigkeit von Spanien oder den unzähligen Verschwundenen gedacht wird –, blockiert gelegentlich eine Demonstration den nie endenden Verkehr, was ein gellendes Hupkonzert nach sich zieht. Der ewige Stau der Hauptstadt löst sich, wenn überhaupt, nur nachts auf, und demonstriert wird hier regelmäßig. Die Menschen und das Leben gehen ihren geregelten Gang, ganz so, als hätte sich nichts geändert. Allerdings ist viel passiert seit dem 2. Juni.
An diesem Tag wurde Claudia Sheinbaum Pardo zur ersten Präsidentin des Landes gewählt. Nach über 200 Jahren der Unabhängigkeit ist die Wahl einer Frau zum Staatsoberhaupt ein besonderes Zeichen für eine patriarchale Gesellschaft, in der Frauen täglich Opfer von Gewalt werden, wo sogar die meisten Femizide ohne strafrechtliche Folgen bleiben. Wobei Straftaten in Mexiko generell kaum Konsequenzen haben: Die Straflosigkeit liegt bei sagenhaften 95 Prozent. Weder Exekutive noch Judikative sind in der Lage, ihren Kernaufgaben effektiv nachzukommen, für Sicherheit zu sorgen oder das Recht durchzusetzen.
Dies war angeblich auch Anlass für den scheidenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO), noch einige Reformen mit gewaltiger Tragweite durch den neu gewählten Kongress zu bringen: Die Justiz sei von Grund auf korrupt und ineffizient, das Volk müsse sie besser kontrollieren. Wen er damit eigentlich meint, ist die Regierung bzw. seine Partei, das manchmal linke, immer populistische MORENA- Bündnis der nationalen Erneuerung. AMLOs große Popularität ist der Hauptgrund für den Wahlerfolg seiner handverlesenen Nachfolgerin; das wissen beide.
Ausgestattet mit verfassungsändernden Mehrheiten, ließ AMLO eine Reihe von Reformplänen verabschieden, die die demokratischen Strukturen nachhaltig schwächen dürften. Der erratische Präsident hatte in seinen sechs Amtsjahren keinen Zweifel daran gelassen, dass der Justizapparat und vor allem das Oberste Gericht nur lästige Hindernisse für seine „kluge, vom Volk gewollte“ Politik sind.
Mit der im Eiltempo durchgepeitschten Justizreform sollen nun zeitnah alle Richterämter auf allen Ebenen durch Wahlen neu besetzt werden. Dies dürfte dazu führen, dass die Posten politisiert und korrumpiert werden; die notwendig werdenden Abstimmungen öffnen der organisierten Kriminalität Tür und Tor. In Zukunft werden so auch Personen als Richter fungieren, die keine langjährige juristische Laufbahn vorweisen können. Wo genau die Reform die Unabhängigkeit und Transparenz der Justiz verbessern soll, bleibt unklar. Die Folge ist vielmehr eine Schwächung, wenn nicht gar die effektive Abschaffung der Unabhängigkeit der Justiz und somit des Rechtsstaats.
Einen ähnlich drastischen Eingriff nahm AMLO auch an den regierungsunabhängigen Kontrollinstitutionen vor: So wurde ein Um- bzw. Abbau des Nationalen Wahlinstituts und des Nationalen Instituts der Transparenz veranlasst. Ziel ist die politische Kontrolle der autonomen Institutionen, die nach AMLOs Empfinden bloße Störfaktoren sind. Die Geschwindigkeit, fast schon Mühelosigkeit, mit der die Regierung diese Änderungen veranlassen konnte, schockiert selbst erfahrene Beobachter: „Es ist unglaublich, mit welcher Leichtigkeit die mühsam aufgebauten Institutionen des Landes gestutzt wurden, wie sich der Rechtsstaat mit ein paar Federstrichen einfach aushebeln ließ“, sagte kürzlich Juan Pablo, ein befreundeter Jurist. Bis dato steht Claudia Sheinbaum nur brav neben ihrem Übervater und betet seine Mantras nach. „Es un honor estar con Obrador“, sagt sie, es sei eine Ehre, an der Seite Obradors zu sein. Die Konsequenzen seiner Präsidentschaft allerdings wird sie erben.
Kann sich die „Señora Presidenta“ emanzipieren?
Eigentlich war für Mexiko gerade noch eine wahrhaft goldene Chance zum Greifen nah. Die sich zuspitzende Rivalität der Großmächte macht die Weltwirtschaft zunehmend nervös, der Handelskrieg zwischen den USA und China sorgt dafür, dass internationale Unternehmen geopolitische Risiken stärker einpreisen müssen: Der Begriff Nearshoring ist in aller Munde. Auch um Strafzöllen aus dem Weg zu gehen, werden Produktionsstätten näher nach Hause, also „near to shore“ geholt. Durch seine geografische Lage, gute Infrastruktur, ausgebildete Fachkräfte, vor allem aber durch das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada wäre Mexiko potenziell der große Gewinner der Handelskriege und geopolitischen Spannungen. Wenn nun aber die Rechtssicherheit für ausländische Milliardeninvestitionen ins Schwanken gerät, oder sollte Washington das Abkommen gar ganz auf den Prüfstand stellen, könnte wirtschaftlich Ungemach drohen. Für Mexiko steht viel auf dem Spiel.
Die ersten Monate und Amtshandlungen der „Señora Presidenta“, die am 1. Oktober ihr Amt antrat, werden interessant sein. Bleibt sie auf Linie ihres Vorgängers, wird der weiterhin Einfluss ausüben? Oder kann sie sich perspektivisch emanzipieren? Die Menschen zumindest scheinen nicht allzu besorgt. Die Politik ist ja sowieso korrupt und ändern wird sich doch nichts. Vielleicht ändert sich dieses Mal allerdings viel. Doch man wird es erst merken, wenn es zu spät ist.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2024, S. 118-119
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