Ein Land ohne Staat
In Libyen drohen ein Bürgerkrieg und der Rückfall in vorkoloniale Zeiten
Weit entfernt von nationaler Einheit: Die von den Vereinten Nationen eingesetzte Regierung in Tripolis kann die zahlreichen Konflikte in Libyen nicht lösen. Im Gegenteil. Der Staat zerfällt, kriminelle Banden treiben grenzüberschreitenden Handel mit Waffen und Menschen, die aus Westafrika nach Europa gelangen wollen. Und die EU schaut nur zu.
Über die dünn besiedelte Fessan-Provinz im Südwesten weiß man selbst an der 800 Kilometer entfernten libyschen Mittelmeerküste nur wenig. Dabei entscheidet sich hier, in den rohstoffreichen Grenzgebieten zu Algerien und Niger, ob die Entstaatlichung weiter um sich greift. Sollten die zahlreichen Konflikte in Libyen zu einem Bürgerkrieg führen, könnte das Land wieder in drei Provinzen zerfallen – ähnlich der Aufteilung während des Osmanischen Reiches.
Junge Männer wie der 28-jährige Milizionär Issa Hassan aus Sabha sind sich durchaus bewusst, dass sie alte, ungelöste Konflikte zwischen Stämmen und Städten des Fessan fortsetzen, die der Diktator Muammar al-Gaddafi wie ein Kolonialherr für seinen Machterhalt nutzte. „Wir haben nun 500 Gaddafis in Libyen, und ohne einen Stamm oder klare Identität ist man in einem Land ohne Staat auf verlorenem Posten“, erklärt Issa Hassan.
Doch das ehemals feste Sozialgefüge des reichsten Staates in Afrika wird von Terrorgruppen und Schmugglern gefährdet. Das erlebt Youssef al-Gaddafi vom Stamm des ehemaligen Diktators immer wieder. Der 51-Jährige vermittelt in Sebha zwischen Clans, Familien und Milizen, die fast nur noch vom Schmuggel leben. Doch je mehr Touareg, Tobu oder arabische Stämme sich auf der reichen nördlichen Seite der Sahara niederlassen, desto seltener halten die Abkommen der weisen Männer, klagt er. „Die Islamisten und Schmuggler erkennen die strategisch günstige Lage Libyens, von wo aus sie schon 2012 den Mali-Krieg gestartet haben. Ein Gebiet von der Größe Frankreichs ist außer Kontrolle. Falls Boko Haram oder der IS einen Staat ausrufen, dann würde es hier so werden wie im Süd-Sudan.“
Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen, Martin Kobler, versucht mit der Bildung einer Einheitsregierung unter Fayez al-Sarraj den Zerfall aufzuhalten. Obwohl das nach Tobruk in den Osten des Landes geflohene Parlament bisher noch nicht über deren Einsetzung entschieden hat, erklärten UN und EU den 59-jährigen ehemaligen Geschäftsmann aus Tripolis zu ihrem einzigen Ansprechpartner. Das ist ein eher ungewöhnlicher Schritt, der zeigt, für wie dramatisch man den Staatszerfall mittlerweile hält.
Dass die Vereinten Nationen ihren eigenen Friedensplan übergehen, gefällt vielen in der östlichen Kyrenaika-Provinz nicht, zumal die UN heimlich mit den Milizen in Tripolis verhandeln, vor denen das Parlament floh. 27 von einem Gericht freigesprochene Regimeanhänger wurden Mitte Juni nach ihrer Freilassung ermordet aufgefunden. Martin Kobler setzt auf die zurzeit gegen den IS in Sirte kämpfenden Milizen der Handelsstadt Misrata, wo man auf Waffen und medizinische Hilfe hofft. Der russische UN-Botschafter warnte nach dem Fall des Waffenembargos am 14. Juni, die Entscheidung des Sicherheitsrats dürfe kein Freibrief sein, um eine Seite des innerlibyschen Konflikts gegen die andere zu stärken. Eine Kontrolle von Waffenlieferungen wird jedoch nur mit militärischer Präsenz im Land möglich sein; das aber ist ein Schritt, den zurzeit niemand wagt. Die NATO bereitet immerhin ein verstärktes Engagement im Seegebiet vor Libyen vor, denn mit weiterhin ungebremstem Waffennachschub riskiert die Allianz einen landesweiten Bürgerkrieg.
„Libyen ist wie ein Krankenwagen, der ohne gültige Zulassung zu einem Einsatz fährt“, erklärt Kobler seine Unterstützung für den neu geschaffenen Präsidialrat und Ministerpräsident Sarraj. Zuletzt erwarb sich der deutsche Diplomat bei seinem Einsatz im Kongo den Ruf eines Machers. Nun will Kobler in der Wüste Libyens ein Friedensabkommen durchsetzen, dem die beiden konkurrierenden Regierungen in Tripolis und Beida zugestimmt haben. Da die tonangebenden Stämme im Osten der Machtübergabe an die in Tripolis herrschenden islamistischen Milizen nicht trauen, findet Parlamentspräsident Ageela Saleh immer wieder neue Gründe, nicht über die neue Regierung abstimmen zu lassen. „Sollen wir den Rettungswageneinsatz nur deshalb abbrechen, weil das Kennzeichen am Wagen fehlt?“, kommertiert Kobler die Verzögerungstaktik aus Kyrenaika. Dort gelang es General Khalifa Hafter, die Bürgermilizen unter sein Kommando zu stellen. Die Spannungen zwischen den im Westen dominierenden Milizen und dem hinter der Armee stehenden Osten werden immer größer.
Offene Grenzen werden zum einträglichen Geschäftsmodell
Langsam setzt sich bei einigen Diplomaten die Erkenntnis durch, dass man vielleicht mit den falschen Partnern verhandelt hat. Fayez al-Sarray konnte nur mit einem Boot zum Sitz der Regierung auf der Marinebasis Abu Sitta gelangen, weil die konkurrierende, mit Islamisten verbündete „Fajr“ (Morgendämmerung)-Regierung den Luftraum sperren ließ; sie wollte den Einzug der „UN-Regierung“ in Tripolis verhindern. Zwar gelang Sarray die offizielle Übernahme von zehn Ministerien; diese haben jedoch kein Geld für Projekte und Gehaltszahlungen zur Verfügung.
Weil gesamtstaatliche Strukturen im Osten und Süden des Landes fehlen, werden die Forderungen nach einer losen Konföderation immer lauter. Ohne Beziehungen zu den Machtzirkeln der Hauptstadt glauben die Menschen in Bengasi und Sebha, leer auszugehen. Deshalb wollen sie einen starken Mann wie General Hafter. Auch eint sie die Abneigung gegen die Vertreter des politischen Islam, die sich in Tripolis und Misrata trotz verlorener Wahlen, dafür aber mit Waffen an die Macht geputscht haben, eint die Regionen um Sabha und Bengasi. Martin Kobler und die EU setzen eher auf die smarten Geschäftsleute aus der Handelsstadt Misrata, die als einzig zuverlässige Partner erscheinen; nicht zuletzt durch ihre türkischen Wurzeln werden sie direkt aus Ankara sowie aus Doha mit Waffen und Geld versorgt. Vielen anderen bleibt nur der Schmuggel: Der Zusammenbruch der Erdölförderung und der Wertverlust des libyschen Dinars machen die offenen Grenzen zum einträglichsten Geschäftsmodell der ehemaligen „sozialistischen Volksrepublik“.
Auf verlorenem Posten
Issa Hassan und seine Brigade wollen dagegenhalten. „Ich warte seit fünf Jahren, dass meine Einheit Umm al-Anarab in die Armee integriert wird und wir den Kampf gegen die Schmuggler wieder aufnehmen können. Doch ohne Bezahlung muss ich zweimal die Woche Taxi fahren“, sagt Issa. Obwohl eine gut geteerte Straße in die 100 Kilometer entfernte Oase Murzuk führt, bitten seine Fahrgäste ihn meist, einen Umweg über die Schlaglochpisten zu nehmen, weit entfernt von den Checkpoints der Uleid-Sliman-Milizen in Sabha.
Seine Passagiere gehören wie er zur Volksgruppe der Tobu, den Ureinwohnern der Sahara. Die wenigen Polizisten und Uniformierten auf den Straßen der 300 000-Einwohner-Stadt gehören hingegen zum arabischen Stamm Uleid Sliman. Für sie sind nicht nur die Tobu Feinde, sondern auch der Stamm des Ex-Diktators, die Gadadfa. Seit der Revolution haben die Uleid Sliman und ihre Verbündeten aus der Küstenstadt Misrata das Sagen; die Tobu hingegen halten zu General Haftar in Bengasi. Der lachende Dritte sind die Dschihadisten, die sich im nachrevolutionären Gewirr erst als Ansar al-Scharia in Libyen ausbreiteten und mit Bezug auf den IS in Nordafrika für Angst und Schrecken sorgen. Dem IS nahe stehende Milizen unterhalten bei Sabha und Ubari längst geheime Trainingscamps und werden sich eines Tages auch auf den Weg über das Mittelmeer machen – da sind sich die Tobu-Milizionäre sicher. Wenige Kilometer vom Taxistand entfernt, im Stadtteil Jama Ramla, werben die Milizen des libyschen Al-Kaida-Veteranen Abdul Khalifa um die aus der Sahara kommenden Flüchtlinge, die nach Sirte geschickt werden.
Issa Hassan hat nach fünf Jahren genug davon, die Grenzen eines verschwundenen Staates zu sichern. Bei seinen Taxifahrten nach Sabha kommt er an den Checkpoints vorbei, wo die Milizionäre an den vorbeifahrenden Flüchtlingstransporten verdienen. Für jeden Flüchtling zahlen die Schmuggler 50 Dinar, umgerechnet 15 Euro. „Die Arbeit suchenden Afrikaner wollen nach Sabha und von dort weiter nach Tripolis. Kontrollpunkte sind lukrativ. Wir aber haben uns geschworen, aus dem Schicksal der Migranten keinen Gewinn zu schlagen. Das widerspricht dem Islam und wäre ein Verrat an allen, die für unsere Freiheit gestorben sind.“
Um al-Anarab ist wohl die letzte Miliz, die in Südlibyen gegen Schmuggler vorgeht. Ihre Patrouillen in der Wüste haben sie vor Kurzem eingestellt. Zu groß ist die Gefahr, auf schwer bewaffnete Extremisten zu treffen. Oder auf Freunde und Verwandte, die selbst zu Schmugglern geworden sind.
Die EU schaut weg
Mit dem Sommer beginnt die Hauptsaison für die Schleuser. In einer stillen Nacht legen von dem 30 Kilometer langen Strandabschnitt zwischen Garabulli und Tripolis bis zu vier Boote ab. Am Horizont sind die Patrouillenschiffe der NATO zu sehen – sie haben Lampedusa als Ziel der Schlauchboote abgelöst. Die Marineoffiziere in den Häfen von Misrata und Tripolis greifen nur selten ein. „Jedes Mal, wenn wir mit unserem Patrouillenboot ablegen, sehen wir die Lichter der kleinen Schlauchboote“, sagt Abdulrahim Niwijy von der libyschen Marine, der in seiner leuchtend weißen Uniform zwischen den verrosteten Booten völlig fehlt am Platz wirkt. Seine Matrosen seien erbärmlich schlecht ausgerüstet und ausgebildet.
Offizier Ashraf al-Badry blickt missmutig auf das Radar eines der drei Boote, die noch funktionstüchtig sind. Dort empfängt er Signale von italienischen Fischkuttern in den internationalen Gewässern vor Tripolis und Garabulli, die von libyschen Schmugglern Benzin aufnehmen. „Die EU fordert von uns, die Migranten zu stoppen, tut aber selbst nichts gegen ihre eigenen Kriminellen. Ein italienischer Zerstörer kreuzt doch nur vier Seemeilen von dem Kutter entfernt“, sagt er entnervt und klopft auf das Display. „Kooperation wäre, wenn wir die EU-Gewässer vor Menschenhandel und die EU uns vor Spritschmuggel schützen würde. Doch die EU sorgt sich nur um die Flüchtlinge, nicht um den Benzinschmuggel und die illegale Fischerei in libyschen Gewässern, die vor ihren Augen geschehen. Da wir aus der illegalen Migration keinen Nutzen ziehen, sollten wir die Menschen gehen lassen“, meint al-Badry.
Wie jeden Morgen läuft der Schlepper „Maghreb“ der libyschen Marine in den Hafen von Misrata ein. Ob Flüchtlinge an Bord sind, hängt vom Platz in den Gefängnissen ab. „Wir könnten jeden Tag Tausend Menschen zurückbringen“, sagen die Matrosen. Diesmal sind es 600 Westafrikaner aus fünf Gummibooten; 1000 Euro hatten die Flüchtlinge für die lebensgefährliche Fahrt nach Lampedusa gezahlt. Die „Maghreb“ setzt sie zunächst in Misrata ab, von dort aus geht es wieder Richtung Tripolis. Die afrikanischen Migranten sind zurück in Garabulli, mitten im libyschen Bürgerkrieg.
Die Milizen in Tripolis wollen zeigen, dass sie den Zustrom von Flüchtlingen nach Europa trotz leerer Kassen stoppen könnten. So will man gegen das international anerkannte Parlament in Tobruk auftrumpfen und hofft auf Wohlwollen seitens der EU. In einem ehemaligen Gefängnis für politische Gegner in Garabulli an der Straße nach Tripolis haben die Behörden 300 Gastarbeiter und Flüchtlinge untergebracht. Das Gefängnis liegt versteckt am Ende einer Nebenstraße. Eine Stunde am Tag dürfen die Insassen in den Innenhof; die Wärter halten sich aus Angst vor Krankheiten fern. Ein Mann aus Eritrea beschwert sich über die unhaltbaren sanitären Bedingungen; einer Nigerianerin hat man, wie den meisten hier, Geld und Pass abgenommen.
Die Schlacht in Sirte war noch nicht das Ende
In dem Seegebiet vor Misrata und Tripolis begegnen sich die Menschen- und Waffenhändler. Jeden Tag legen Fischerboote voller Waffen von Misrata nach Bengasi ab, um den Krieg des Schura-Rates gegen die libysche Armee zu unterstützen. Der Schura-Rat ist mit dem Islamischen Staat verbündet, den die Misrata-Brigaden in Sirte bekämpfen, aber in Bengasi unterstützen. „Der IS ist eine von vielen Gruppierungen der islamistischen Szene“, warnt Issa Hassan. „Viele Milizen teilen nicht sein Vorgehen, aber seine Ideologie.“
Was viele bewaffnete Gruppen im Westen des Landes eint, ist der Widerstand gegen Polizei und Armee, denn sie bedrohen die Geschäftsgrundlage der Milizen. Für deren Kommandeure ist der Konflikt mit der Schlacht gegen den IS in Sirte noch lange nicht zu Ende. Der oberste Mufti Libyens, Sadiq al-Ghariani, gab mit seiner Fatwa einen Ausblick auf die unmittelbar drohende Gefahr: ein Bürgerkrieg zwischen Tripolitanien und der Kyrenaika-Provinz. Nicht die „verirrte Jugend von Sirte“, sondern Armeegeneral Khalifa Hafter sei der Hauptfeind, so der greise Geistliche. Die Truppen aus Misrata sollten nicht zurückkehren, bis Bengasi vom Joch der Hafter-Armee befreit sei.
Falls Europa die Brandstifter Libyens weiter gewähren lässt, werden schon bald diejenigen in den Booten nach Europa sitzen, von denen man sich in Brüssel erhofft, dass sie den Flüchtlingsstrom aus Westafrika stoppen.
Mirco Keilberth berichtet als freier Journalist seit 2011 für verschiedene deutsche Medien aus Libyen und Tunesien, darunter die taz, der Spiegel, Arte und Deutschlandfunk.
Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 28-32