Dynamik und Divergenz
Bevölkerungspolitik in Entwicklungsländern
Von 6,2 Milliarden Menschen wird die Weltbevölkerung im Jahr 2050 auf 9,1 Milliarden anwachsen; heute findet dieses Wachstum fast ausschließlich in den ärmeren Entwicklungsländern statt und geht einher mit vielschichtigen, kaum noch zu lösenden Problemen. Die Autoren beklagen das fehlende „Bewusstsein der Dringlichkeit“ in Sachen Weltbevölkerungsentwicklung und die sinkende Finanzierungsbereitschaft für Maßnahmen zur Familienplanung und Bildung.
Bis zum Jahr 2050 wird die Weltbevölkerung um fast die Hälfte zunehmen, von heute 6,2 Milliarden auf 9,1 Milliarden. Ihr Wachstum findet heute nahezu ausschließlich in den Entwicklungsländern statt und konzentriert sich hier zunehmend auf die ärmeren Länder. Die Bewältigung dieses Problems wird durch die Dynamik weiterer demographischer Veränderungen wie Migration, Urbanisierung und Alterung sowie durch HIV/AIDS erschwert. Demographische Entwicklungen innerhalb von Regionen und Ländern divergieren stark und stellen die Politik vor neue Herausforderungen.
Der Weltentwicklungsbericht 2002 der Vereinten Nationen enthält gleich zu Beginn eine eindeutige Botschaft: die „Kernherausforderung“ für die menschliche Entwicklung liege darin, so der Bericht, dass in den nächsten 30 Jahren die heutige Weltbevölkerung um weitere zwei Milliarden Menschen – vor allem in den Entwicklungsländern – wachsen werde und dann nochmals um ungefähr eine Milliarde Menschen in den nachfolgenden zwei Jahrzehnten.
Die Bevölkerungszunahme wäre noch erheblich höher, wenn nicht die Basisversorgung auf dem Gebiet der Familienplanung auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit ausgedehnt worden wäre. Zahlreiche andere Entwicklungserfolge wären zudem ohne diese Ausdehnung in den letzten Jahrzehnten kaum möglich gewesen. In den Entwicklungsländern, in denen die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau in den vergangenen Jahrzehnten sank, ging dies häufig mit einer Verbesserung der sozioökonomischen Bedingungen einher; praktisch immer war der Geburtenrückgang mit einer deutlichen Zunahme der Nutzung von modernen Verhütungsmitteln und -methoden verbunden.
Nach wie vor jedoch ist jede vierte Schwangerschaft nicht nur ungeplant, sondern auch ungewollt. Nach wie vor haben über 300 Millionen Paare keinen Zugang zu Familienplanungsdienstleistungen. Der Bedarf an Familienplanung wächst allein schon aufgrund der Bevölkerungszunahme; es wird geschätzt, dass in den Entwicklungsländern allein die Nachfrage nach Verhütungsmitteln in den nächsten 15 Jahren um etwa 50 Prozent steigen wird.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich aber die Bedingungen für die Bewältigung des globalen Bevölkerungszuwachses – der sich weitestgehend auf die Entwicklungsländer konzentriert – gegenüber früheren Dekaden verschlechtert. So stößt z.B. die Ausdehnung landwirtschaftlicher Nutzflächen mittlerweile an Grenzen. Die Zahl der Länder mit Wasserknappheit oder -mangel ist seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts deutlich gestiegen und wächst weiter. Je nach Bevölkerungsentwicklung wird in der Mitte des 21. Jahrhunderts schätzungsweise jeder dritte oder vierte Mensch in einem Land ohne ausreichend Wasser leben.
Mehr als in vergangenen Jahrzehnten haben Entwicklungsländer auch mit den zerstörerischen Folgen der vor allem durch die Industrienationen verursachten globalen Klimaveränderung zu kämpfen; die Entwicklungsländer tragen zudem schon aufgrund ihres Bevölkerungswachstums immer stärker selbst zu diesem Problem bei. Dort, wo sich das Bevölkerungswachstum vollzieht, sind in großem Ausmaß Waldgebiete, die vor einigen Jahrzehnten noch als Ressource zur Verfügung standen, nicht mehr vorhanden oder erheblich geschrumpft. Das Artensterben hat in einem Ausmaß zugenommen, dass ganze Biome zusammenbrechen oder zusammenzubrechen drohen.
Heute sind nach Schätzungen der Weltarbeitsorganisation (International Labour Organization/ILO) bereits eine Milliarde Menschen arbeitslos oder unterbeschäftigt. Um wenigstens einen weiteren Anstieg dieses extrem hohen Niveaus von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung – in manchen Ländern fast die Hälfte der Erwerbsbevölkerung – zu vermeiden, sind nach Berechnungen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung in den nächsten fünf Jahrzehnten fast 500 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze erforderlich.
Die Ausbreitung der HIV/AIDS-Pandemie, die global gesehen das Bevölkerungswachstum noch relativ geringfügig verzögert, hat neben den tragischen Folgen für die unmittelbar Betroffenen in immer mehr Ländern u.a. zur Folge, dass Kinder elternlos verwahrlosen, volkswirtschaftliches Wachstum gebremst wird und das öffentliche Gesundheitssystem, das auch bevölkerungspolitisch hochbedeutsam ist, vor dem Zusammenbruch steht. Mit über 28 Millionen HIV-Infizierten ist Afrika südlich der Sahara am schlimmsten von der Immunschwächekrankheit betroffen; die durchschnittliche Infektionsrate liegt bei neun Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Dennoch wird die Bevölkerung in Afrika bis zum Jahre 2050 voraussichtlich um eine Milliarde zunehmen – von heute 840 Millionen auf 1,8 Milliarden Menschen (s. auch die Grafik auf S. 5).
Eine neuere demographische Herausforderung ist der schnell wachsende Anteil alter Menschen. Weltweit wird sich in den nächsten 50 Jahren der Anteil der Menschen über 60 Jahre von heute ungefähr zehn Prozent der Weltbevölkerung mehr als verdoppeln, und ihre Zahl wird von heute ungefähr 600 Millionen auf etwas mehr als das Dreifache steigen. Der überwiegende Teil von ihnen wird in Entwicklungsländern leben. Dort erodieren großfamiliäre und ländliche Solidarstrukturen im Zuge von Verstädterung und Industrialisierung. Privatwirtschaftliche oder sozialstaatliche Altersversorgungssysteme sind aber für einen großen Teil der Bevölkerung auf absehbare Zeit faktisch unerreichbar.
Häufig wird übersehen, dass die Bevölkerungsbewegungen innerhalb einzelner Länder erheblich größer sind als die internationale Migration. Genau wie das Bevölkerungswachstum konzentrieren sich diese Wanderungen überwiegend auf Entwicklungsländer. Allein in China dürften mit einer „floating population“ von derzeit über 100 Millionen Menschen fast ebenso viele Menschen unterwegs sein wie weltweit zwischen Staaten. Bei aller Datenunsicherheit über das globale Ausmaß der internationalen und Binnenwanderungen ist unbestritten, dass viele hundert Millionen Menschen sich in der Situation freiwilliger oder erzwungener Migration befinden und ihre Zahl rapide steigt.
Zu den demographischen Herausforderungen, die eine geordnete Entwicklung mehr denn je erschweren, gehört insbesondere die historisch einmalige Geschwindigkeit der heutigen Verstädterung. Die Stadtbevölkerung der Erde wächst prozentual noch erheblich schneller als die Weltbevölkerung – vor allem in Entwicklungsländern. Die Zahl der Stadtbewohner wird sich dort in den nächsten 30 Jahren voraussichtlich verdoppeln, von zwei auf vier Milliarden Menschen.
Demographische Trends
Wir leben in einer Welt wachsender divergierender demographischer Trends. Herkömmliche Unterscheidungen von langsam wachsenden Bevölkerungen der Industrienationen einerseits und schnell wachsenden Bevölkerungen der Entwicklungsregionen andererseits greifen heute nicht mehr. Die Unterschiede innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer sind mittlerweile größer als die zwischen der Gesamtheit der Industrie- und der Entwicklungsregionen. Vor dem Hintergrund stark divergierender Entwicklungen dürfte eine Einteilung in vier Ländergruppen angebracht sein:
Die erste Gruppe bilden die Nationen, deren Fertilität seit längerem unter dem Ersatzniveau liegt und deren Bevölkerung entweder bereits schrumpft oder jedenfalls noch im Laufe der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts nennenswert zu schrumpfen beginnen wird. In diese Gruppe gehören die meisten Industrienationen, aber auch Länder wie z.B. Kuba oder die sich im wirtschaftlichen Übergang befindlichen Länder der ehemaligen UdSSR, in denen ein besonders dramatischer Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen ist.
Eine zweite Gruppe bilden Länder, deren Bevölkerung aufgrund gesunkener Fertilität nur relativ langsam wächst und spätestens in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts beginnen wird zu schrumpfen. In diese Gruppe gehören China und weitere Länder Ostasiens, ferner sind die USA dieser Gruppe zuzuordnen.
Eine dritte Gruppe bilden Länder, in denen zunächst die Bevölkerung noch rapide wächst und parallel die Zahl der AIDS-kranken Menschen verheerende Ausmaße annimmt. Spätestens im zweiten Quartal unseres Jahrhunderts wird dann millionenfacher AIDS-Tod in diesen Ländern die Bevölkerungszunahme nahezu oder gänzlich zum Stillstand bringen. Anders als eine durch niedrige Fertilität verursachte Bevölkerungsstagnation oder -schrumpfung dürfte dieser durch eine drastisch erhöhte Sterblichkeit verursachte Prozess, der auch mit ungeheuren Krankheitszahlen gekoppelt ist, zum Zusammenbrechen des Gesundheitssystems, zu einer dramatischen Verschlechterung der inneren Stabilität, der Wirtschaftsentwicklung und der sozialen Lage führen. Zu dieser Gruppe können aufgrund der schlechten HIV/AIDS-Datenlage bislang mit Sicherheit nur einige Länder Afrikas südlich der Sahara, allen voran Simbabwe, Botsuana und Südafrika gezählt werden. Jedoch werden eine verbesserte Datenlage und der künftige Verlauf der Pandemie dazu führen, dass weitere Länder dieser Gruppe hinzugerechnet werden müssen, vor allem in Afrika und Asien.
Eine vierte Gruppe von Ländern wird in den nächsten 50 Jahren voraussichtlich durch einen weiterhin sehr hohen Bevölkerungszuwachs gekennzeichnet sein. Für einen Großteil der Länder dieser vierten Gruppe ist kennzeichnend, dass sich zwar das prozentuale Bevölkerungswachstum abgeschwächt hat und vermutlich weiter sinken wird, dass jedoch die Zunahme der absoluten Bevölkerungszahl in den nächsten fünf Jahrzehnten höher ausfallen wird als die der vergangenen fünf Jahrzehnte. So hat sich z.B. die Bevölkerung Äthiopiens in den letzten 50 Jahren von 18 auf 62 Millionen Menschen mehr als verdreifacht. Für die kommenden 50 Jahre rechnet die mittlere Variante der UN-Bevölkerungsprojektionen mit einem Wachstum auf 186 Millionen Menschen (s. Grafik auf S. 35).
Konsens und Versagen
Ob es gelingt, das Bevölkerungswachstum auch in den ärmeren Entwicklungsländern nachhaltig zu verlangsamen, hängt wesentlich von politischen Entscheidungen der nächsten Jahre ab. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Umsetzung der Beschlüsse der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz von 1994. Zu den Kernpunkten des Kairoer Aktionsprogramms gehören eine qualitative und quantitative Verbesserung der reproduktiven Gesundheitsversorgung und die Stärkung der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Stellung der Frauen.
Wie in Kairo beschlossen, bemühen sich viele Länder um eine Verbesserung der Qualität, des Umfangs und der Verfügbarkeit von Diensten zur Förderung der reproduktiven Gesundheit, einschließlich Aufklärung, Familienplanung, Schwangerenvorsorge, Geburtshilfe sowie HIV/AIDS-Prävention. Sie bilden Personal aus, um bessere Informationen, ein umfassenderes Angebot und eine bedarfsorientierte Versorgung bereitzustellen. Kurz, die politische Wirkung der Kairoer Konferenz von 1994 ist heute unübersehbar.
Für Vollansicht bitte hier klicken Dies gilt auch für islamische Länder. Familienplanung und Islam werden oft als unvereinbar angesehen; entgegen weit verbreiteter Vorstellungen ist das Verhältnis des Islams zu Familienplanung jedoch nicht grundsätzlich ablehnend. Manche islamisch geprägten Länder – wie etwa Bangladesch und Iran – haben die Versorgung der Bevölkerung mit Dienstleistungen der reproduktiven Gesundheit und Familienplanung bereits seit Jahren zu einer Aufgabe des Staates gemacht. In Bangladesch wurde bereits vor 30 Jahren ein offizielles Familienplanungsprogramm gestartet; die Verhütungsrate ist seit 1975 von sieben auf 43 Prozent gestiegen. Selbst Pakistan hat nach jahrelangem Widerstand im eigenen Land jüngst ein neues bevölkerungspolitisches Programm gestartet, das innerhalb der nächsten acht Jahre jedem Pakistani Zugang zu Familienplanung ermöglichen soll.
Experten gehen davon aus, dass die Kinderzahl pro Frau in den Entwicklungsländern insgesamt weiter sinken wird. In vielen Ländern dieser Regionen ist dies bereits passiert – oft schneller, als erwartet. Es hat sich jedoch gezeigt, dass in den ärmsten Entwicklungsländern der Geburtenrückgang zum Teil langsamer verläuft als in der Vergangenheit angenommen. In einigen der ärmsten afrikanischen Länder sind die Kinderzahlen mit sechs bis sieben Kindern pro Frau anhaltend hoch. Die Bevölkerungszahl wird sich dort bis zum Jahr 2050 verdreifachen.
Die künftige Dynamik des Weltbevölkerungswachstums hängt vor allem davon ab, wie sich die Kinderzahlen in den bevölkerungsreichsten Ländern China und Indien sowie in einigen der ärmsten Länder Afrikas entwickeln werden. Rund 1,3 Milliarden Menschen leben derzeit in China. Mit einem neuen Familienplanungsgesetz will die Regierung erreichen, dass das Bevölkerungswachstum bis zum Jahr 2050 bei schätzungsweise 1,6 Milliarden Menschen gestoppt wird. Mit dem neuen Gesetz ist keine Lockerung der bisherigen rigiden Ein-Kind-Politik verbunden; es will lediglich dem Missbrauch in der Vergangenheit entgegenwirken. Gleichzeitig läuft in China ein vom UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) unterstütztes Pilotprogramm, dass auf freiwillige Familienplanung auf der Basis informierter Entscheidungen ausgerichtet ist. Es ist offen, wie diese bevölkerungspolitischen Ziele erreicht werden sollen, aber an einer Durchsetzung besteht auch im Zeitalter der partiellen wirtschaftlichen Liberalisierung kein Zweifel.
Indien – mit einer Bevölkerung von mehr als einer Milliarde Menschen – hat seine seit Jahrzehnten bestehende, auf Zielvorgaben und Plansolls ausgerichtete Familienplanungspolitik durch einen Ansatz ersetzt, der sich an der Nachfrage und dem individuellen Bedarf im Bereich der reproduktiven Gesundheit orientiert. Dies schließt umfangreiche Dienstleistungen, darunter eine größere Auswahl an Verhütungsmethoden, mit ein. Nach Meinung von Experten ist die Bevölkerungsentwicklung in Indien noch offen. Obwohl insgesamt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau in den letzten Jahren auf 3,2 Kinder zurückgegangen ist, gibt es große regionale Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung.
Inwieweit die bevölkerungspolitischen Ziele von Kairo verwirklicht werden, hängt auch vom Engagement der Industrienationen ab. Fünf Jahre nach Kairo zeigte sich aber bereits, dass die Bereitschaft der Industrieländer zur Finanzierung ihres Anteils am so genannten Kairo-Kernpaket gegen Ende des 20. Jahrhunderts nachgelassen hat; dieser Trend hält an. Der Bedarf an Familienplanung und anderen Maßnahmen der reproduktiven Gesundheit wächst aber schon aus demographischen Gründen, denn die Zahl der Menschen im reproduktiven Alter wächst. Diese Scherenentwicklung zwischen wachsendem Bedarf an Familienplanungsmaßnahmen und sinkender Finanzierungsbereitschaft ist auch für andere Bereiche der Entwicklungszusammenarbeit typisch und gefährdet die Erreichung international vereinbarter Entwicklungsziele.
Besonders zwei Maßnahmen sind bevölkerungspolitisch bedeutsam: Bildung und reproduktive Gesundheitsdienstleistungen. Diese Maßnahmen erlauben es Individuen, ihre Chancen u.a. zur Vermeidung ungewollter Schwangerschaften besser wahrzunehmen. Eine Politik, die eine nachhaltige Entwicklung zum Ziel hat, sollte diesen Maßnahmen daher höchste Priorität einräumen.
Die Vernachlässigung des Themas Weltbevölkerungsentwicklung auf dem Umweltgipfel der Vereinten Nationen in Johannesburg zeigt aber, dass das „Bewusstsein der Dringlichkeit“ in Sachen Weltbevölkerungsentwicklung abhanden gekommen ist. Darum ist zu befürchten, dass das bevölkerungspolitische Engagement der Industrienationen weiter nachlassen wird – mit negativen Konsequenzen für alle Entwicklungsbereiche.
Internationale Politik 11, November 2002, S. 31 - 36.