Drei Fragen an ... Věra Jourová
Vizepräsidentin der EU-Kommission, Kommissarin für Werte und Transparenz
1. Im Streit mit Warschau in Sachen Rechtsstaatlichkeit hat Brüssel zuletzt den Druck erhöht. Was wirft die EU-Kommission der polnischen Regierung vor allem vor?
Unsere größte Sorge gilt der Unabhängigkeit der Justiz im Allgemeinen und der Rolle der neu eingeführten Disziplinarkammer im Besonderen. Die Immunität polnischer Richterinnen und Richter wurde aufgehoben, manche wurden aus ihren Ämtern gedrängt. Das untergräbt die Rechtsstaatlichkeit. Wir haben einige Maßnahmen ergriffen, aber die Situation hat sich immer weiter verschlechtert. Und dies ist nicht allein die Haltung der EU-Kommission – der Europäische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sehen das auch so.
2.Als Bundeskanzlerin hatte Angela Merkel dafür plädiert, in der Streitfrage einen Kompromiss zu finden. Wie könnte dieser aussehen?
Wir waren und sind jederzeit zum Dialog mit Warschau bereit. Aber wenn es um grundlegende Werte der EU geht, können wir keine Kompromisse eingehen. Die polnische Regierung muss sich an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs halten und die Einsetzung der Disziplinarkammer rückgängig machen. Nur eine gemeinsame Rechtsordnung sichert gleiche Rechte, Rechtssicherheit, Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und damit die Grundlage gemeinsamer Politik. Es geht um die Fundamente der EU, um gegenseitiges Vertrauen in das Rechtssystem des anderen.
3. Sollte der Streit weiter eskalieren, bewegen wir uns dann auf einen „Polexit“ zu, auf den Austritt Polens aus der Europäischen Union?
Das glaube ich nicht. Die EU ist bei den polnischen Bürgerinnen und Bürgern sehr beliebt. Und wir stehen immer wieder vor neuen Herausforderungen, die wir am besten gemeinsam bewältigen, wie beispielsweise die Akte von hybrider Kriegsführung, die wir an der polnischen Grenze zu Belarus erleben. Auf diese Angriffe geben wir gerade eine starke, eine gemeinsame europäische Antwort.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 8