Drei Fragen an ... Joe Kaeser
Vorstandsvorsitzender des Siemens-Konzerns
1. Wie wird Corona Wirtschaft und Arbeit verändern?
Die Pandemie hat uns allen viel abgefordert und Defizite schonungslos aufgedeckt. Sie hat aber auch die digitale Transformation enorm beschleunigt. Veränderungen, die sonst Jahre gedauert hätten, wurden in wenigen Wochen vollzogen. Wir haben aus der Not eine Tugend gemacht und bewiesen, dass wir anpassungsfähig und innovativ sind. Das stimmt mich optimistisch. Ja, wir können digitale Bildung – auch wenn noch einige Hindernisse überwunden werden müssen. Und ja, wir können von zuhause arbeiten – und zwar in weitaus größerem Umfang als angenommen. Siemens ist das erste große Unternehmen, das zwei bis drei Tage mobiles Arbeiten auch nach der Pandemie zur neuen Normalität machen wird.
2. Wie kann Europa seine wirtschaftliche Bedeutung besser in außenwirtschaftlichen Einfluss übersetzen?
Europa ist der größte Binnenmarkt der Welt, aber politisch nicht annähernd so einflussreich wie die USA oder China. Wir verkaufen uns unter Wert. Das liegt vor allem daran, dass wir nicht mit einer Stimme sprechen, keine gemeinsame Außenpolitik haben. Das ist aber unerlässlich, wenn wir unsere wirtschaftliche Bedeutung in politischen Einfluss ummünzen wollen. Nur so können wir das in der Diplomatie allgemein akzeptierte Prinzip der Reziprozität konsequent umsetzen: Wer Zugang zu unserem Markt will, der muss auch seinen Markt öffnen. Das wäre für europäische Unternehmen ein Riesenschritt nach vorne.
3. Was muss Europa tun, um technologische Souveränität zu bewahren?
Abgesehen von einer gemeinsamen Außenpolitik sind zwei Dinge wichtig. Wir müssen viel mehr in Forschung und Entwicklung investieren, vor allem in Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz. Wollen wir auf der Weltbühne mitspielen, dürfen wir bei der Innovation nicht nachlassen. Und wir sollten uns gut überlegen, inwieweit wir die Beteiligung von Unternehmen aus anderen Ländern an systemkritischen Technologien, Infrastrukturen und Lieferketten zulassen. Die Pandemie hat Risiken für das öffentliche Gesundheitswesen offengelegt. Aber nicht „jeder für sich“; wir sollten den Dialog intensivieren, und der Abschluss multilateraler Abkommen minimiert diese Risiken.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 6