Disneyland mit Niveau
Buchkritik
Schon in wenigen Jahrzehnten wird Europa in politischer und wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit versinken: So lautet die These, die Walter Laqueur in seinem Essay „Die letzten Tage von Europa“ vertritt. Auch ohne direkte Bezüge zu Jeremy Rifkins Werk über den Europäischen Traum lässt sich der Text als eine Art „Anti-Rifkin“ verstehen.
Belege für seine pessimistische These vom unaufhaltsamen Abstieg Europas schöpft Walter Laqueur, Historiker und Publizist, aus vier Quellen: der Entvölkerung Europas, der Masseneinwanderung und ihren Folgen, der Unfähigkeit zur Reform des Wohlfahrtsstaats und der Wirkungslosigkeit aller Versuche, Europa zu einen. Seien noch vor 30 Jahren die interessantesten Sehenswürdigkeiten Europas das Barbican Centre, das Centre Pompidou oder die Berliner Mauer gewesen, so müssten dem interessierten Besucher inzwischen Brent oder Peckham in London, St. Denis oder Evry in Paris und Neukölln oder Kreuzberg in Berlin als signa temporisgezeigt werden: All diese Orte versinnbildlichen für Laqueur die immer deutlichere Prägung des Gesichts Europas durch Einwanderer.
Die Einwanderung an sich sei zwar in der europäischen Geschichte nichts Neues, neu seien aber ihr Ausmaß und ihre Folgen. Während Immigranten früher große Anstrengungen unternommen hätten, sich zu integrieren, überwögen heute Ghettoisierung und das Leben in Separatgemeinschaften. Diese Auffassung formuliert der Autor mit noch größerer Deutlichkeit in einem nach Erscheinen des Buches geführten Interview mit dem World Security Network: Der Begriff der „Integration“ sei zumindest in den Regionen, in denen Muslime die Bevölkerungsmehrheit stellen, irreführend. Inwieweit, so fragt Laqueur rhetorisch, solle es im Interesse der majoritären Gruppe liegen, sich zu integrieren?
Ein weiteres Krisensymptom stellen für Laqueur sinkende Geburtenraten und die dadurch verursachten sozialen und wirtschaftlichen Folgen dar. So zitiert er die Prognose, Europas Anteil an der Weltbevölkerung werde im Jahre 2050 noch bei höchstens vier bis fünf Prozent liegen. Doch wenn Laqueur als wichtigsten Grund für sinkende Geburtenraten etwa in Deutschland die gestiegene Anzahl von vollzeitbeschäftigten Frauen nennt, so ignoriert er dabei sowohl die noch höhere Kinderlosigkeit von Akademikern als auch alle anderen Strukturprobleme. Und das zum trüben Bild nicht passende Beispiel Frankreichs, wo hohe Geburtenzahlen und Berufstätigkeit von Frauen keine Gegensätze sind, bleibt gar unerwähnt.
Ärgerlich sind Simplifizierungen, wenn nicht fehlende Detailkenntnisse bei der Darstellung des europäischen Integrationsprozesses. So verwechselt der Autor European Council und Council of Europe, lässt die Versuche der 1950er Jahre, eine Verteidigungspolitik ins Leben zu rufen, außer Acht und verschweigt die zwanzigjährige Existenz des Europäischen Parlaments vor den direkten Wahlen (1979).
Andere Passagen wiederum zeugen von tiefen und fundierten Kenntnissen der Materie. Das gilt etwa für die Ausführungen zur Terrorismus-Problematik, wo der Verfasser als einer der besten Spezialisten Herkunft und Aktivitäten radikal anti-demokratischer muslimischer Organisationen in Deutschland und Großbritannien und die teilweise fehlerhaften Handlungsstrategien der jeweiligen Regierungen schildert. Als ebenso informativ erweist sich seine kritische Analyse des so genannten Euro-Islams und der Islamophobie der Europäer.
Laqueur gibt kein abschließendes Urteil ab, ob der völlige Niedergang Europas aufzuhalten sei oder nicht. Er ist sich jedoch sicher, dass „das Zeitalter der Illusionen“ vorbei sei. Die zentrale Metapher in seinem Text ist denn auch der Kontinent als Museum in spe: „Angesichts seiner schrumpfenden Bevölkerung wird Europa (jedenfalls beträchtliche Teile Europas) möglicherweise zu einem Themenpark für betuchte Besucher aus China und Indien werden, zu einer Art Disneyland auf kulturell hohem Niveau“. Es bleibt abzuwarten, ob Laqueurs Thesen eine ebenso rege Diskussion auslösen wie die rosigen Visionen von Jeremy Rifkin. Sein nüchterner Text mit zahlreichen verlässlichen Daten und Fakten stellt jedenfalls einen guten Ausgangspunkt für eine intensive Debatte dar.
Walter Laqueur: Die letzten Tage von Europa. Ein Kontinent verändert sein Gesicht. Aus dem Englischen von Henning Thies. Berlin: Verlag Propyläen 2006, 256 Seiten, 19,90 €
Kornelia Konczal ist freie Mitarbeiterin am Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin.
Internationale Politik 4, April 2007, S. 133 - 135.