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01. Jan. 2019

Diplomatie und Abschreckung

Die Zukunft des Nuklearabkommens zwischen den EU3+3-Staaten und Iran hängt am seidenen Faden. Dem umfassendsten Nonproliferationsabkommen der Geschichte droht das Ende, wenn kein Weg gefunden wird, Iran die wirtschaftliche Dividende aus dem Abkommen zu sichern, die dem Land per Abkommen zusteht. Noch übt sich Teheran in „strategischer Geduld“ und erfüllt laut Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) weiterhin alle im Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) festgelegten Auflagen. Europa versucht derweil, einen neuen, von US-Sanktionen weitgehend immunen Handelsweg mit Iran zu entwickeln. Das so genannte Special Purpose Vehicle (SPV) wurde am Rande der UN-Vollversammlung von der Hohen Repräsentantin der EU, Federica Mogherini, als neues Instrument zur Aufrechterhaltung internationaler Handelsbeziehungen mit dem Iran vorgestellt. Wann dieses jedoch operativ Fahrt aufnimmt, bleibt ungewiss. Ebenso wenig lässt sich voraussagen, in welchem Umfang fortan tatsächlich Handel mit dem Iran über das SPV abgewickelt werden wird.

Das laufende iranische Kalenderjahr 1397 endet am 20. März 2019. Iran wird wohl mindestens bis dahin warten, um die Praktikabilität des SPV zu prüfen. Aber: Ohne zumindest einen positiv stimmenden Präzedenzfall einer Transaktion über diesen Kanal werden den Fürsprechern des JCPOA in Teheran nach und nach die Argumente ausgehen.

Noch in der ersten Jahreshälfte 2019 dürfte das Schicksal des JCPOA besiegelt werden. Da im Februar/März 2020 Parlamentswahlen im Iran stattfinden, wird sich die innenpolitische Stimmung noch stärker polarisieren. Das Lager der Prinzipientreuen wird alles daransetzen, die Mehrheit der 290 Parlamentssitze zurückzugewinnen. Effektives Mittel wird massive Kritik an der Außen- und Wirtschaftspolitik der Regierung Hassan Rohani sein. Diesmal dürften aber auch die Reformer mit ähnlichem Ansatz auf Stimmenfang gehen. Auch sie sind mit Hassan Rohanis Regierungsstil unzufrieden und kritisieren ihn vor allem für seine Personalentscheidungen im Kabinett. Da auch laut Umfragen im Iran der Atomdeal an Zustimmung verliert, wird es für Präsident Rohani und Außenminister Dschawad Sarif noch schwieriger, für einen Verbleib in dem Abkommen zu plädieren. Auch auf Staatsebene wird die „strategische Geduld“ schwinden, sie will vor allem den Verkauf des iranischen Erdöls gesichert wissen.

Sicherheitspolitische Implikationen

Unabhängig vom Schicksal des JCPOA muss aber eines klar sein: Der Ausstieg der USA aus dem JCPOA und der damit einhergehende Verstoß Washingtons gegen UN-Sicherheitsratsresolution 2231 haben Realitäten in Irans Sicherheitszirkeln geschaffen, die auch ein funktionierendes SPV und das Aufrechterhalten des JCPOA nicht ändern werden. Washington hat einen Kurs gegen Teheran eingeschlagen, der an Schärfe und Eifer beispiellos ist. Mit an Deutlichkeit kaum zu überbietender Rhetorik binden die USA ihre regionalen Verbündeten Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Israel ein – allesamt Rivalen, von denen sich der Iran bedroht fühlt. Ungeachtet der Frage, wie viel Iran selbst zur Verhärtung der Konfliktlinien im Mittleren Osten beigetragen hat, sieht sich der iranische Sicherheitsapparat wieder maximal bedroht. Genau das aber ist Treiber der iranischen Außen- und Sicherheitspolitik, prägt wiederum Diplomatie und Abschreckung. Präsident Rohani und sein Team hatten es geschafft, den Sicherheitsapparat der Islamischen Republik davon zu überzeugen, dass ein klarer Fokus auf Diplomatie das Land geopolitisch und global besser dastehen lassen würde. Als Gegenmodell diente die Amtszeit von Machmud Achmadinedschad (2005–2013). Der Ertrag aus eben jenem Fokus auf Diplomatie war der Abschluss des Nuklearabkommens. In den höchsten Rängen des Militärs, ganz gleich ob Nationale Armee oder Revolutionsgarden, wurde die Linie Rohanis unterstützt. Gegner des Abkommens gerieten ins Abseits. Doch genau sie sind es, die nun mit der JCPOA-Krise wieder Oberwasser haben. Ihre Forderung: mehr Abschreckung.

Man ist sich in Teheran der militärischen Unterlegenheit gegenüber allen regionalen Rivalen bewusst. Einzig effektives Mittel, den Feind auf Distanz zu halten, ist das Aufrüsten der Abschreckungskapazitäten. Diese umfassen das ballistische Raketenprogramm, die Allianz mit nichtstaatlichen Akteuren und Milizen, die Fortentwicklung der eigenen Cyber-Angriffstools sowie die fortwährende Entwicklung bewaffneter Drohnen, wie zuletzt im Schlag gegen den Islamischen Staat im syrischen Deir ez-Zor eingesetzt. Diese Instrumente iranischer Abschreckung sollen eine Drohkulisse für amerikanische Militärbasen, saudische Ölfelder, israelisches Territorium und emiratische Ziele aufbauen. Daher beschränkt sich die Reichweite der ballistischen Raketen derzeit auf angeblich 2000 bis 2500 Kilometer. Die Führung ist davon überzeugt, dass es die auf Israel gerichteten Raketen der Hisbollah im Südlibanon sind, die Israel bislang davon abhielten, iranische Nuklearanlagen mit Luftschlägen zu zerstören wie einst in Irak und Syrien. Außerdem geht man in Teheran davon aus, dass amerikanische Regionalpolitik im Mittleren Osten dann eingedämmt werden kann, wenn Verbündete Washingtons sich zu sehr vor iranischen Reaktionen auf die US-Politik fürchten. Das könnte dazu führen, dass Teheran seine Drohkulisse auch auf Saudi-Arabien und die VAE ausbaut. Zwar betrachtet Iran Saudi-Arabien nach wie vor nicht als Bedrohung, sieht aber für die Region und eigene Interessen in unmittelbarer Nachbarschaft eine große Gefahr in der Außenpolitik des Kronprinzen Mohammed Bin Salman. Viele Gesprächspartner in Teheran sehen in MBS einen neuen Saddam Hussein. Sie spielen darauf an, dass auch der irakische Diktator sich der US-Unterstützung zu sicher war und nach der Iran-Invasion als nächstes Kuwait angriff. 

Nun begründen die USA ihren Rückzug aus dem Nuklearabkommen zwar damit, Irans Regionalpolitik zurückdrängen zu wollen. Die aktuelle Linie aber wird genau das Gegenteil bewirken. Irans außenpolitisches Handeln ist relativ leicht auszurechnen. Denn die Personen, die die iranische Sicherheitsdoktrin entwickelt haben und für deren Umsetzung verantwortlich sind, sind seit fast 40 Jahren dieselben. Unverändert sehen sie den Iran umgeben von Feinden. Sie werden angesichts der Drohungen aus Washington wieder auf fortentwickelte Abschreckungsmethoden der asymmetrischen Kriegsführung bauen. Europa, China und Russland können dieser Tendenz nichts entgegensetzen. Niemand kann auf Riad, Abu Dhabi oder Tel Aviv beschwichtigend einwirken, gemeinsam mit Teheran an vertrauensbildenden Maßnahmen zu arbeiten. Daher sind die verbleibenden Partner des JCPOA für den Iran wirtschaftlich relevant, sicherheitspolitisch jedoch kaum.

Gesprächskanal für Europa offen halten

Auch wenn Europa wenig Einfluss auf die regionalpolitischen Konflikte im Mittleren Osten hat, ist die Region doch von höchster sicherheitspolitischer Bedeutung. Der beispiellos wertvolle Sicherheitsaspekt des JCPOA wird in der europäischen Debatte indes viel zu selten thematisiert. Dieses Abkommen bedeutete einen wichtigen Schritt für die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen. Der Handel, der dem Iran als Gegenleistung für die Drosselung seines Nuklearprogramms angeboten wurde, ist für Europa bestenfalls sekundär. Sollte es jedoch gelingen, mithilfe des Transaktionskanals des SPV eine für Teheran akzeptable wirtschaftliche Dividende aus dem JCPOA zu sichern, bleibt für die europäischen Hauptstädte ebenso wie für Peking und Moskau ein krisenresistentes, multilaterales Gesprächsformat mit Teheran offen. Mit Blick auf die Einflussmöglichkeiten Irans in Syrien, Irak, Afghanistan, Libanon und Jemen und der potenziellen Zuspitzung regionaler Konflikte ist ein solcher Gesprächskanal mit UN-Mandat nahezu unverzichtbar.

Am 9. April 2015, eine Woche nach Verkündung des Lausanner politischen Abkommens, das den Abschluss des JCPOA bereits in Aussicht stellte, verglich Irans Revolutionsführer Ajatollah Ali Khamenei in einer Rede die Verhandlungen mit einem „Experiment“. Sollte sich die andere Seite als vertrauenswürdig erweisen, könnten die Gesprächsthemen auch auf andere Felder übertragen werden. Dies sollte sich die europäische Politik zu eigen machen. Die Sicherung des JCPOA würde zeigen, dass man ein verlässlicher Gesprächspartner für die vielen Probleme einer Region ist, deren unmittelbarer Nachbar Europa ist. Teheran ist sich bewusst, dass es aufgrund seiner geostrategischen Einflussmöglichkeiten stets Teil des Problems und Teil der Lösung ist. Europa ist besser damit bedient, Iran als Teil der Lösung zu begegnen. Erst dann sieht sich Teheran gezwungen, auch wirklich der konstruktive Akteur zu sein, der es so oft lediglich vorgibt zu sein. Wenn Europa das erreichen will, muss es mindestens denselben Eifer zur Rettung des JCPOA entwickeln, den Washington einbringt, um ihn in sich zerfallen zu sehen.

Adnan Tabatabai ist CEO des Center for Applied Research in Partnership with the Orient.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2019, S. 23-26

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