Die weißen Tauben sind müde
Verständigung, Versöhnung, konfliktfreie Lösungen: Für all das steht die Europäische Union. Doch das Bild der Friedensmacht hat zuletzt empfindliche Risse bekommen – nicht nur im Mittelmeer und an den Außengrenzen. Höchste Zeit für Europa, sich der Pflege der eigenen Werte wieder nachdrücklich zu widmen.
Es ist nicht einfach, dieser Tage einen optimistischen Text über die „Friedensmacht Europa“ zu schreiben. Noch keine zehn Jahre ist es her, dass die Europäische Union vom Nobelkomitee in Oslo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde und die kontinentale Erzählung einer „Friedensmacht“ oder eines „Friedensprojekts“ in aller Munde war. In den vergangenen Monaten häufen sich jedoch die Widersprüche in diesem Narrativ.
Menschenunwürdige Zustände
Die Liste der Krisen ist lang, die der Erzählung des europäischen Einigungsprozesses als Motor für Frieden auf dem Kontinent zuwiderlaufen und das Leitbild der EU als Friedensmacht in ihrer Außenpolitik im tiefsten Kern treffen. Am deutlichsten scheitert das Friedensprojekt im Mittelmeer, wo seit 2014 nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 20 000 Schutzsuchende auf dem Weg nach Europa ertrunken sind. In Lagern wie auf der griechischen Insel Lesbos verharren Geflüchtete in menschenunwürdigen Zuständen. An der EU-Außengrenze häufen sich Hinweise auf Polizeigewalt und illegale „Pushbacks“, durch die Geflüchtete teilweise gewaltsam zurückgeschickt werden sollen.
In der direkten Nachbarschaft der EU geht der Krieg in der Ostukraine derweil ins siebte Jahr. Mehr als 13 000 Menschen sind dort seit 2014 durch Waffengewalt ums Leben gekommen.
Was passiert, wenn der Konfliktbewältigungsmechanismus des europäischen Institutionengefüges wegbricht, lässt sich in Nordirland beobachten: Die gewaltsamen Ausschreitungen dieses Frühjahrs in dem Land, das lange Zeit Vorbild für einen erfolgreichen Friedensprozess war, sind auch auf den Sonderstatus der Provinz infolge des Brexit zurückzuführen.
Zwar geht nach Angaben des Konfliktdatenprogramms in Uppsala die Zahl der Kriegstoten weltweit seit ihrem Höhepunkt 2014 wieder zurück. Aber gerade in Ländern, in denen die EU und ihre Mitgliedstaaten zuletzt besonders aktiv waren, wächst die Kriegsgewalt. Dazu zählen Afghanistan und die Sahel-Zone.
Insbesondere im Sahel, wo Europa nach 2011 im Wesentlichen auf Terrorismusbekämpfung, Migrationskontrolle, Entwicklungszusammenarbeit sowie Ausbildung und Ausrüstung staatlicher Sicherheitskräfte setzte, steht die EU-Strategie in der Kritik. So schrieb der Menschenrechtsaktivist Drissa Traoré Anfang 2021 in einem Gastbeitrag für Le Monde, dass in Mali im Jahr 2020 mehr Zivilistinnen und Zivilisten von im Rahmen der EU-Trainingsmission EUTM ausgebildeten malischen Sicherheitskräften getötet worden seien als von dschihadistischen Gruppen.
Waffen und andere Widersprüche
Auch die Kritik an der generellen Ausrichtung der europäischen Friedenspolitik wird lauter, weil sie weniger auf ihre erprobte Soft Power und den Ansatz der Friedens- durch Demokratieförderung und mehr auf sicherheitspolitische Strategien setzt. Ein Beispiel ist die im März 2021 errichtete Europäische Friedensfazilität. Mithilfe dieses Instruments kann die Europäische Union künftig tödliche Waffen an Drittländer liefern. Bereits im November 2020 warnten 40 Nichtregierungsorganisationen in einer gemeinsamen Stellungnahme, dass etwaige militärische Mehrausgaben nicht auf Kosten der zivilen Friedensförderung gehen dürften und dass in stabile Drittländer exportierte langlebige Waffen auch in die Hände von Sicherheitskräften geraten könnten, die damit Verbrechen begehen.
Diese Widersprüche in der Erzählung von der EU als einer Friedensmacht sind nicht neu. Im Grunde begannen sie schon mit dem Schuman-Plan zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 9. Mai 1950. Durch die Zusammenlegung der für die Rüstungsindustrie so zentralen Kohle- und Stahlproduktion sollte ein erneuter Krieg „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ gemacht werden. Dass Frankreich zur gleichen Zeit einen blutigen Kolonialkrieg in Indochina führte, in dem Schätzungen zufolge Hunderttausende Zivilistinnen und Zivilisten starben, wird heute kaum erwähnt. Neu ist dagegen die Vielzahl der Krisen, die zu einer Krise der Friedensmacht-Erzählung beitragen. Die Krisenforschung lehrt uns, dass es schwierig ist, inmitten einer Krise nach vorne zu blicken und Lösungsstrategien zu entwickeln. Wie kann es dennoch gelingen?
Ein geflügeltes Wort für fast alle EU-politischen Fragen ist dieser Tage: Europa muss seine eigenen Werte wieder ernst nehmen und zu Hause „leben“, was es international predigt. Die EU möchte in der Demokratieförderung weltweit glaubhaft sein? Dann muss sie antidemokratischen Kräften auch in Europa entschieden entgegentreten. Die EU erwartet konsequente Bekenntnisse zu Rechtsstaatlichkeit von internationalen Partnern? Dann muss sie nicht nur scharfe Worte für Entwicklungen in Ungarn und Polen finden, sondern auch institutionelle Strukturen entwickeln und stärken, durch die Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien verhindert oder sanktioniert werden.
Der Ruf nach dem „Leben eigener Werte“ gilt auch für die Friedenspolitik. Die Debatte über dieses Feld ist aber oft eine europäische Nabelschau. Der Großteil der Forschung zur EU-Friedensförderung beschäftigt sich mit Instrumenten und Strategien in Brüssel und den Mitgliedstaaten. Viel seltener liegt der Fokus darauf, wie EU-Friedensförderung in Konflikt- und Postkonfliktländern umgesetzt und von den Menschen vor Ort wahrgenommen wird. Noch seltener werden Denkmuster kritisch hinterfragt, denen zufolge die EU als Friedensförderin gilt, ohne dass strukturelle und physische Gewalt innerhalb der Union und an ihren Außengrenzen thematisiert wird.
Kein gutes Vorbild
Nirgends zeigt sich das so gut wie in der Frage nach Gleichstellung in der Friedensförderung. Wenn es um die Umsetzung der im Oktober 2000 in Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats begründeten Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ geht, liegen die EU und ihre Mitgliedstaaten statistisch weit vorne. Nach Angaben der OECD haben die EU-Institutionen allein im Jahr 2018 6,7 Milliarden US-Dollar oder 37 Prozent ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit für Projekte ausgegeben, die Gleichstellung zum Ziel hatten.
Aber ist die EU da auch ein gutes Vorbild? In allen Mitgliedstaaten sind in den vergangenen Jahren rechtspopulistische Parteien erstarkt, die Antifeminismus im Programm haben. In Polen gilt seit Januar ein nahezu vollständiges Abtreibungsverbot. In den Lagern an der EU-Außengrenze, aber auch in Unterkünften mitten in der EU sind geflüchtete Frauen sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Das sind auch alles friedenspolitische Fragen, denn es geht darum, wer in Europa in Frieden und Freiheit leben darf.
Auch bei den Instrumenten für Friedensförderung ist die EU von gleichberechtigter Frauenteilhabe weit entfernt. Von derzeit 17 Missionen und Operationen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) werden nur drei von Frauen geleitet. Diese Pionierinnen sind Nataliya Apostolova für die Polizeimission in den Palästinensischen Gebieten, Antje Pittelkau für die Polizeimission in Niger und Natalina Cea für die Mission zur Unterstützung des Grenzmanagements in Libyen.
Bei all dem geht es nicht nur um Moral. Sondern, erstens, um Effektivität. Eine größere Teilhabe von Frauen an GSVP-Missionen und -Operationen etwa könnte wesentlich zum Gelingen dieser Missionen beitragen, da weibliches Personal oft bessere Zugänge zu einheimischen Frauen in Konfliktländern findet, ihre Bedürfnisse so besser kennenlernt – aber auch schneller an wichtige Informationen für das Gelingen von Einsätzen gelangt. Zweitens geht es um Glaubhaftigkeit und Legitimität. Im Rahmen meiner Forschung über das Gelingen von Friedensprozessen erzählte mir eine europäische Diplomatin etwa, dass die Frauenquoten, die europäischen Geberinstitutionen für Ausbildungsprogramme der Polizei in Asien oder Afrika vorschweben, nicht mal in Berlin, Paris oder Brüssel eingehalten werden könnten. Und Politiker in Nepal wiesen mich in Gesprächen gerne darauf hin, dass die Forderungen nach einer stärkeren Frauenquote für die nepalesische Armee stets von einer Riege männlicher europäischer Sicherheitsexperten vorgetragen würden. Drittens geht es auch um die Sicherheit von EU-Personal in Konfliktländern, denn schlimmstenfalls können Friedenseinsätze mit Legitimitätsproblemen Risiken für neue Gewalt erhöhen.
Die Erfolge nicht vergessen
Um ihrer Krise als Friedensmacht entgegenzuwirken, sollte sich die Europäische Union auf ihre eigenen Stärken besinnen. Das heißt zum einen, neben sicherheitspolitischen Instrumenten auch die zivilen Kompetenzen konsequent zu stärken und finanziell zu untermauern.
Einige vielversprechende Ansätze gibt es bereits. So hat die EU ihre institutionellen Kapazitäten für Friedensmediation in Konfliktregionen zuletzt systematisch ausgebaut und erweitert. Erst im Dezember 2020 verabschiedete der Rat der Europäischen Union ein neues Konzept für EU-Friedensmediation, in dem er diesem Instrument eine zentrale Rolle in der Konfliktprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung beimisst.
Zum anderen heißt das, die Erfolge nicht zu vergessen. Die EU kann sehr selbstbewusst sein: Sie gehört zu den weltweit wichtigsten Playern bei der Prävention und Bewältigung innerstaatlicher Konflikte und der Förderung nachhaltigen Friedens in Postkonfliktländern. EU-Institutionen und Mitgliedstaaten leisten gemeinsam mehr als 50 Prozent der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit, sind die größten globalen Geber für humanitäre Hilfe in Katastrophengebieten und tragen etwa ein Viertel zum Gesamthaushalt der Vereinten Nationen bei.
Seit 2003 hat die EU mehr als 35 zivile und militärische GSVP-Einsätze durchgeführt, und EU-Vertreterinnen und -Vertreter haben an Hunderten Friedensverhandlungen teilgenommen oder sie beraten. Umfragen des Pew-Forschungszentrums aus dem Jahr 2019 zeigen, dass im Schnitt 74 Prozent der Bürgerinnen und Bürgern in den Mitgliedstaaten die EU mit Frieden in Verbindung bringen. Besonders viele sind es in Polen, Deutschland und Schweden – und auch in weiten Teilen der Welt wird die EU so positiv bewertet.
Googelt man heute „Friedensprojekt Europa“, dann findet man vorwiegend Texte, die die historischen Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses für Frieden auf dem Kontinent in den Vordergrund rücken. Die Erzählung beginnt meist mit den frühen Wegbereitern der Idee einer europäischen Friedensordnung im 18. Jahrhundert: Abbé de Saint-Pierre, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant. Dann folgen in der Regel Verweise auf den Geist der idealistischen Friedensvision nach Ende des Zweiten Weltkriegs und auf die Wandlung des „Europas der Vaterländer“ zu einem Europa des Friedens, der Zusammenarbeit und der Versöhnung der ehemaligen Kriegsrivalen Deutschland und Frankreich. Besonders der Schuman-Plan wird dabei stets aufgegriffen, nur selten fehlt auch das Bild von der mächtigen symbolischen Geste von Helmut Kohl und François Mitterrand, die sich 1984 bei einer Zeremonie in Verdun, Schauplatz einer der größten Schlachten des Ersten Weltkriegs, an der Hand hielten.
Doch gerade für junge Menschen ist das historische Nachkriegsnarrativ der Friedenserhaltung nicht ausreichend, um die EU heute als legitimes Friedensprojekt zu verstehen. Und das hat nicht nur mit den offensichtlichen Widersprüchen zu tun, sondern schlicht damit, dass sie Krieg nicht mehr selbst erlebt haben. Da greift ein wenig das Präventionsparadox: Die EU ist Opfer ihres eigenen Erfolgs. Da Krieg unter den Mitgliedstaaten „undenkbar“ geworden ist, schreiben wir der EU die Friedenserhaltung nicht mehr zu. So zeigt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass junge Deutsche die EU zwar auch als Friedensbündnis verstehen, aber nicht mehr emotional dahinterstehen: Die EU ist „Mittel zum Zweck“, kein Herzensprojekt.
Was es also auch braucht, ist eine friedenspolitische Zukunftsvision, frei nach der Idee der Historikerin Stella Ghervas, die in ihrem Buch „Conquering Peace: From the Enlightenment to the European Union“ einen neuen Friedensplan für Europa fordert. Die EU muss in eine neue Botschaft investieren, warum sie heute noch ein Friedensprojekt ist und wie genau sie Friedensförderung zum Kern ihrer Außenpolitik macht. Diese Botschaft darf sich nicht in einer Liste historischer Errungenschaften erschöpfen. Angesichts der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit muss die EU sich kritisch mit der eigenen Vorbildrolle auseinandersetzen und die Vorzüge der Friedensförderung, für die sie steht, den Menschen deutlich machen – inner- und außerhalb der Union.
Dr. Julia Strasheim ist stellvertretende Geschäftsführerin und Programmlinienleiterin für Europa und internationale Politik bei der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung.
Internationale Politik Special 04, Juli 2021, S. 18-22
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