Frieden verhandeln, aber wie?
Bereits drei Mal haben sich russische und ukrainische Delegationen zu Gesprächen getroffen, am Donnerstag (10.03.2022) sprachen die Außenminister beider Länder – ohne konkretes Ergebnis. Welche Erfolgsaussichten haben diese Treffen überhaupt? Ein Blick auf andere Konflikte zeigt, wann Friedensverhandlungen gelingen.
Seit zwei Wochen führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. In diesem Zeitraum haben sich Unterhändler beider Seiten drei Mal zu Verhandlungen getroffen; am Donnerstag kamen die Außenminister zu Gesprächen in der Türkei zusammen. Bis auf eine Einigung, humanitäre Korridore zur Evakuierung der Zivilbevölkerung zu schaffen, blieben diese Runden jedoch ohne Ergebnis. Die Bemühungen sollen aber weitergehen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat angekündigt, bei Sicherheitsgarantien über die Neutralität seines Landes verhandeln zu wollen.
Welche Erfolgsaussichten haben solche Gespräche überhaupt – und können sie zu einer Deeskalation beitragen? Für Antworten auf diese Fragen lohnt sich der Blick auf andere Konfliktländer. Dabei wird klar: Obwohl weder die Kriterien noch die Bedingungen für echte oder erfolgreiche Friedensgespräche in der Ukraine gegeben sind, sind diplomatische Bemühungen dennoch dringend geboten.
Eine Frage des Zeitpunkts
Erfolgreiche Friedensgespräche brauchen, erstens, die richtigen Ausgangsbedingungen. Zu den wichtigsten Voraussetzungen gehört dabei die durch den amerikanischen Friedensforscher William Zartman geprägte Idee des „Reifegrads“ eines Konflikts: Frieden ist eine Frage des Zeitpunkts. Verhandlungen führen dann zum Ziel, wenn sich beide Seiten in einer schmerzhaften Pattsituation befinden und gezwungen sind, zu erkennen, dass Gewalt nicht die gewünschten Ergebnisse bringt.
Ein gutes Beispiel ist Angola. Dort ging der 1961 ausgebrochene Unabhängigkeitskrieg gegen die portugiesische Kolonialmacht nahtlos über in einen Bürgerkrieg zwischen den früheren Befreiungsbewegungen. Erst Ende der 1980er-Jahre ergab sich die Gelegenheit für Friedensgespräche. Vorher mussten die Kriegsparteien – Angolas Regierung, unterstützt von Kuba, und die Rebellengruppe UNITA, unterstützt von Südafrika – in der Schlacht um Cuito Cuanavale lernen, dass sie einander nicht besiegen konnten. Nach monatelangen Kämpfen waren die Verluste auf allen Seiten hoch. Infolgedessen zogen sich Kuba und Südafrika aus dem Krieg zurück. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion fiel eine weitere Finanzierungsquelle für Angolas Regierung weg. Erst das ermöglichte ernsthafte Verhandlungen, die in der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Bicesse im Mai 1991 gipfelten.
Von einer solchen Pattsituation ist man in der Ukraine weit entfernt. Obwohl Wladimir Putin womöglich unterschätzt hat, welchen Widerstand die Ukraine leisten und wie deutlich der Westen reagieren würde, ist die Ukraine militärisch weit unterlegen. Solange Putin glaubt, seine Ziele mit militärischen Mitteln erreichen zu können, wird es keine ernsthaften Gespräche geben. Natürlich kann die internationale Gemeinschaft durch Wirtschaftssanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine dazu beitragen, den Krieg für Russland kostspielig und unattraktiv zu machen. Das sind aber mittelfristige Druckmittel, die einen Krieg nicht automatisch beenden, sondern ihn auch verschärfen können.
Eine Frage der Teilhabe
Erfolgreiche Friedensdiplomatie ist, zweitens, eine Frage von Teilhabe. Dazu zählen Überlegungen, wer für die Konfliktparteien am Tisch sitzt oder welche Drittpartei zwischen ihnen vermittelt. Immer mehr Studien zeigen darüber hinaus, dass es einen Unterschied macht, ob die Zivilgesellschaft in Gespräche eingebunden wird.
Das klingt angesichts der Situation in der Ukraine nach einem Luxusproblem. Müssen Waffen nicht erst einmal schweigen, bevor man sich über Repräsentation Gedanken machen sollte? Es wird oft angenommen, dass Diplomatie zwischen mächtigen Männern mit Waffen und hinter verschlossenen Türen für eine Einigung unerlässlich sei – etwa, weil zu viele beteiligte Akteure einen Kompromiss erschwerten.
Doch der Ruf nach breiter gesellschaftlicher Teilhabe ist kein rein moralischer Appell. Im Gegenteil: Die Beteiligung der Zivilgesellschaft kann Verhandlungen effektiver machen. Sie kann neue Ideen für Lösungswege hervorbringen, den Druck auf Kriegsparteien erhöhen oder die Legitimität von getroffenen Vereinbarungen stärken.
Die schwedische Politikwissenschaftlerin Desirée Nilsson hat herausgefunden, dass das Risiko des Scheiterns von Friedensabkommen um 64 Prozent sinkt, wenn die Zivilgesellschaft an Gesprächen mitwirkt. Ein gutes Beispiel ist Liberia. Dort wurde der Friedensvertrag im Jahr 2003 nicht nur von den Kriegsparteien unterzeichnet, sondern auch von achtzehn politischen Parteien und vielen Nichtregierungsorganisationen. Letztere haben unter anderem offizielle Delegierte zu den Verhandlungen geschickt. Mit ihrer Teilnahme konnten sie dazu beitragen, dass Klauseln zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen und zum Schutz von Menschenrechten in das Abkommen aufgenommen wurden.
Ein Anfang, immerhin
Liberia zeigt damit, drittens, dass sich echte Friedensgespräche um mehr als nur das Ende der Waffengewalt drehen. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Letzteres ist ein erster Schritt, aber nicht gleichzusetzen mit einem nachhaltigen Friedensprozess, in dem die Ursachen der Gewalt aufgearbeitet und politische Lösungen gefunden werden.
Um solche Aspekte geht es in der Ukraine derzeit nicht. Ein umfassendes Friedensabkommen, womöglich mit konkreten Zusicherungen von Russland zur territorialen Integrität der Ukraine, ist völlig unrealistisch. Zwar werden die aktuellen Treffen gemeinhin als „Friedensgespräche“ bezeichnet, in denen – wie Medien am Donnerstagmorgen berichteten – „Optionen für ein Ende des Kriegs“ ausgelotet werden sollen. Eigentlich werden dabei jedoch höchstens ein zeitlich und räumlich sehr begrenzter Waffenstillstand und weitere Fluchtkorridore verhandelt.
Das bedeutet aber nicht, dass diese Gespräche zwecklos sind. Sie sind sogar dringend geboten. Selbst wenn sie nicht mit der Absicht auf ernsthafte Kompromisse stattfinden, können solche frühen Treffen („Gespräche über Gespräche“) spätere Verhandlungen vorbereiten – etwa, indem sie Kriegsparteien helfen, Befehlsketten der anderen Seite zu verstehen oder sich gegenseitig auf ein Prozedere zu einigen.
Ein Beispiel ist Kambodscha. Obwohl das Friedensabkommen über den dortigen Krieg erst 1991 unterzeichnet wurde, begannen diplomatische Bemühungen schon 1980. Dazu zählten Initiativen der Vereinten Nationen genauso wie die „Jakarta Informal Meetings“ der indonesischen Regierung, die aufgrund ihres zwanglosen Charakters als „Cocktail-Diplomatie“ beschrieben wurden. Diese Gespräche blieben oft ohne konkreten Ausgang, trugen aber dazu bei, dass Gesprächskanäle trotz eskalierender Gewalt offenblieben.
Auch wenn ein umfassender Frieden in der Ukraine derzeit unrealistisch ist, sind daher selbst kleine diplomatische Schritte unbedingt geboten, um der Zivilbevölkerung zu helfen.
Dr. Julia Strasheim ist stellvertretende Geschäftsführerin und Programmlinienleiterin für Europa und internationale Politik bei der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung.
IP Online exclusive, März 2022