Titelthema

18. Nov. 2022

Die Wege des Xi Jinping

Eine Analyse der rationalen Grundlagen der Belt and Road Initiative im Nahen Osten

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Bild: gezeichnetes Porträt von Xi Jinping
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Xi Jinping ist einer der einflussreichsten Staatsführer der Welt. Seit seinem Amtsantritt hat der Präsident der Volksrepublik das internationale Ansehen Chinas vielfach gestärkt, unter anderem mit Blick auf die chinesische Wirtschaft, die Handelsbeziehungen und die finanziellen wie infrastrukturellen Investitionen in Entwicklungsländer mit besonderem Schwerpunkt auf Afrika und dem Nahen Osten.



Die Belt and Road Initiative (BRI) folgt als ein strategisch-wirtschaftliches Projekt Xis Vision, Chinas Stellung zu festigen und seine Interessen zu fördern. Die BRI soll Afrika und Europa mit Asien verbinden und gleichzeitig ein strategisches Netz aus kulturellen, staatlichen, Handels- und Investitionsverbindungen zwischen Staaten und Städten schaffen. China, das sich jahrzehntelang abgeschottet hat, begibt sich immer mehr auf die internationale Bühne. Doch strebt Xi dabei nach globalem Einfluss und einer Führungsrolle, um eine polarisierte Welt mitgestalten und den USA die Stirn bieten zu können? Oder profitiert China nicht gerade von dem Supermachtstatus der USA und kann seine Bemühungen so auf die Stärkung der eigenen Sicherheit und des regionalen Einflusses konzentrieren, um sich mit seinen Infrastrukturprojekten eine Überlegenheit gegenüber seinen Nachbarstaaten zu sichern?



Chinas Einfluss auf den Nahen Osten und insbesondere auf Israel als wichtigen Bestandteil der BRI bildet zusammen mit seiner Abhängigkeit vom iranischen Erdöl eine strategische Gemenge­lage, die auch Auswirkungen auf die nukleare Bedrohung in der Region hat. Darüber hinaus herrscht auf chinesischer Seite eine gewisse kommunika­tive Ambiguität, was den Umfang des Projekts, sein Management und seine Ziele angeht.



Die BRI – ein neuer Marshallplan?

Eine Schlüsselfrage ist die nach der Konzeption der BRI. Wie sieht Xi Jinping ihre Reichweite und was ist seine Motivation? Ist die BRI das Äquivalent zum amerikanischen Marshallplan in Europa, mit dem die USA nach dem Zweiten Weltkrieg die dortige Infrastruktur entwickelten und die Wirtschaft stabilisierten? Oder handelt es sich um eine Neuauflage der alten Seidenstraße, die in den Texten Marco Polos aus dem 13. Jahrhundert beschrieben wird, also um ein Netz für den Transport und den Austausch von Waren und Wissen zwischen dem Westen und China? Ist Xi von einer beispiellosen politischen Ambition getrieben, die es China ermöglichen wird, weltweit diplomatischen und politischen Einfluss auszuüben und die US-amerikanische Hegemonie herauszufordern?



Wie es scheint, ist Xis Investitionspolitik im Rahmen der Belt and Road Initiative zwar rational begründet und folgt wirtschaftlichen Präferenzen. Trotzdem herrscht unter Fachleuten Unsicherheit über die Entscheidungsfindung hinter dem Projekt. Gerade wegen der unzureichenden politischen Transparenz in China bleibt unklar, ob eine einzelne Person beziehungsweise Xi die Entscheidungen trifft oder eine Gruppe von Spitzenfunktionären der Kommunistischen Partei. Xis Entscheidungen könnten also auch Mitgliedern der Partei zugeschrieben werden.



Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht die Frage nach Xis Entscheidungsmustern vor dem Hintergrund einer angenommenen „Belagerungsmentalität“, insbesondere im Zusammenhang mit den Investitionsentscheidungen im Rahmen der BRI, die er in seiner Amtszeit als Präsident getroffen hat; später gilt das Augenmerk des Textes der Frage, ob Xi eher risikofreudig oder -scheu ist, wenn es um Investitionen in dieses Projekt geht.



Der vorliegende Text geht von der Annahme aus, dass das Framing eines Vorhabens wie der BRI tatsächliche Entscheidungen beeinflusst – und dass Xi im Rahmen der „Belagerungsmentalität“ zwischen Risikobereitschaft und -aversion schwankt. Denn wer sich ständig mental unter Druck gesetzt fühlt („Ich gegen die ganze Welt“), der neigt dazu, das Risiko zu suchen. Wer sich von Anfang an in einer vorteilhaften Situation wiederfindet, neigt dazu, risikoscheu zu sein, um seine Position noch weiter zu verbessern. Dieser Text vermittelt Einblicke in das Framing der BRI und will zeigen, dass Xis und Chinas Risikobereitschaft von außen manipuliert werden können. Anhand spezifischer Fälle wird gezeigt, wie Xi seine Präferenzen unter dem Mantel einer „Belagerungsmentalität“ geändert hat und wie er sich mal für das Risiko und mal dagegen entschieden hat, um seine Ziele zu erreichen.



Relevant ist das vor allem, um Xis Entscheidungsprozess im Rahmen der BRI zu entschlüsseln und so ebenfalls Schlussfolgerungen für seine allgemeineren Handlungen abzuleiten. Denn jede von Xis Entscheidungen hat erhebliche Auswirkungen auch auf das politische Gefüge im gesamten Nahen Osten, auf die Beziehungen zwischen den benachbarten Großmächten und insbesondere auf das Verhältnis zwischen Iran und Israel.



Chinas Politik gegenüber den Ländern, die an der BRI beteiligt sind, hat drei Hauptstränge: den wirtschaftlichen und ressourcenbezogenen, den geostrategischen und den politisch-religiösen. Als größter Brennstoffimporteur Asiens hat China im Nahen Osten und in Afrika einen reichen Quell an wertvollen Ressourcen wie Öl, Gas und anderen Industrieprodukten und Rohstoffen aufgetan. Mit dieser Art der geografisch-wirtschaftlichen Zusammenarbeit könnte China in Zukunft weitere wirtschaftliche und finanzielle Potenziale erschließen. Bereits heute hat China sein Einflusspotenzial in der Region unter Beweis gestellt und bestimmt das geopolitische Geschehen maßgeblich mit. Die chinesische Kontrolle über Ressourcen, Handels- und Transportwege wird dem Land in Zukunft noch weitreichendere Vorteile verschaffen.



China „hilft“scheinbar ohne Bedingungen

Ein entscheidender Vorteil Chinas gegenüber anderen Mächten, die versuchen, im Nahen Osten Einfluss zu nehmen, besteht darin, dass die politische und wirtschaftliche Unterstützung der USA traditionell mit gewissen Bedingungen verbunden ist. Hilfe wird hier meist nur unter dem Vorbehalt geleistet, dass westliche Standards eingehalten und demokratische Werte gelebt werden. China wiederum verlangt keine solchen Garantien. Damit ermöglicht Peking es den Ländern des Nahen Ostens und Afrikas, finanzielle Unterstützung anzunehmen, ohne die eigene Kultur und Regierungsweise aufs Spiel zu setzen. Im Gegenzug hat China die Möglichkeit, sich in diesen Regionen auf Kosten des Westens zu etablieren. Es ist kaum eine Überraschung, dass sich viele Länder für China als Partner entscheiden und dessen globaler Einfluss so weiter zunimmt.



Verschiedene Belagerungsmentalitäten

Die sogenannte Belagerungsmentalität ist ein Konzept, das das kollektive soziale Gefühl beschreibt, ständig von Menschen mit anderen Weltanschauungen angegriffen zu werden. Diesen wird unterstellt, dem entsprechenden Land oder der Gesellschaft gezielt schaden zu wollen. Die Belagerungsmentalität ist in diesem Sinne also das kollektive Gefühl einer Gesellschaft, die in dem Glauben lebt, dass sich die ganze Welt gegen sie verschworen hat. Diese Mentalität führt zu einem Schutzreflex beziehungsweise zum Zwang, sich gegen diejenigen verteidigen zu müssen, die angeblich die eigene Lebensweise zerstören wollen. China findet sich in einer solchen Mentalität auch wegen einer alten chinesischen Philosophie wieder, nach der die Welt aus den Söhnen des Lichts einerseits und den Söhnen der Finsternis andererseits besteht. In dieser Denkweise besteht der Rest der Welt aus den Söhnen der Finsternis, denen China etwas von seinem Licht abgeben muss.



Im jüdischen Volk herrschte schon vor der Gründung des Staates Israel eine Belagerungsmentalität: angefangen bei den alttestamentarischen Erzählungen über die Verfolgungen der Juden über die mittelalterlichen Geschichten der Vertreibungen aus England und Spanien bis hin zu den Pogromen in Osteuropa und dem Holocaust. All dies hat das Wesen der Juden als Volk und später den Staat Israel geprägt. Und selbst mit der Gründung des Staates Israel, der den Juden erstmals ihre Souveränität und Unabhängigkeit gewährte, hörten die Ausrottungs- und Vertreibungsversuche nicht auf. Wie der Unabhängigkeitskrieg von 1948, der Sechs-Tage-Krieg von 1967, der Jom-Kippur-Krieg von 1973 und andere Konflikte zeigen, ist Israel noch immer ständig bedroht. Die iranische Bedrohung, die seit etwa ­einem Jahrzehnt über Israel schwebt, verstärkt diese Bedrohung noch weiter. Eine zusätzliche Ebene sind der wachsende Antisemitismus und die Kritik an Israel durch internationale Institutionen. Israel ist vor diesem Hintergrund in der Vergangenheit einige militärische Risiken eingegangen, etwa im Irak, in Syrien und im Iran.



Seit die Ajatollahs die Macht in Teheran übernommen haben, herrscht auch dort eine Belagerungsmentalität. Nach ihrer Machtübernahme riefen die Ajatollahs den Boykott des Westens und der USA aus. Heute behauptet die iranische Regierung, dass insbesondere die USA auf einen Aufstand im Land drängen, um Machtpositionen zu besetzen und ausnutzen zu können. Im Westen wurde der Iran als Teil der „Achse des Bösen“ gesehen, Israel und die USA werden in Teheran auf ganz ähnliche Weise wahrgenommen. Der Iran, der sich selbst zum größten Rivalen des Westens im Nahen Osten gemacht hat, sieht die ganze Welt als seinen Feind an und unterstellt anderen Staaten, Revolutionen anzuzetteln und die iranische Regierung von innen heraus stürzen zu wollen.



In der Folge werden die Beispiele Israel und Iran mit Blick auf die BRI vorgestellt, um aufzuzeigen, was es mit der Belagerungsmentalität und dem strategischen Dreieck China–Israel–Iran auf sich hat. Zudem wird anhand dieser Beispiele veranschaulicht, wie Xi Jinpings Entscheidungsfindung beeinflusst werden könnte.



Herausragende Rolle der Häfen

Mittelmeerhäfen, darunter auch die israeli­schen Häfen Haifa und Ashdod, spielen in der Planung der Seewege von Chinas BRI eine wichtige Rolle. Denn über diese Knotenpunkte kann China Waren aus Asien über den Suez-Kanal zu den nächstgelegenen europäischen Häfen verschiffen.

Chinesischen Quellen zufolge wurde der Hafen von Haifa deshalb schon früh in den israelischen Teil des Infrastrukturprojekts einbezogen. Im Jahr 2015 erhielt das in Schanghai ansässige internationale Hafenbetriebs- und -managementkonglomerat SIPG, das sich in chinesischem Staatsbesitz befindet, den Zuschlag für den Betrieb des Hafens HaMifratz in der Nähe von Haifa. Genauso wie der Hafen von Athen ist auch dieser Hafen ein strategischer Punkt, weil er für China den Mittelmeerraum – mit seinen europäischen Häfen und amerikanischen Truppenstützpunkten – erschließt. 2020 hat Peking den Zuschlag für den weiteren Betrieb des Hafens bis 2046 erhalten.



Dass sich der Hafen von Haifa in chinesischer Hand befindet, kann für Israel jedoch eine strategische Herausforderung darstellen, da die USA die chinesische Präsenz in Israel offenkundig nicht gutheißen. Außerdem steht zu befürchten, dass China durch seine Präsenz in der Region nachrichtendienstliche Informationen sammeln könnte. Mit amerikanischer Unterstützung wird Israel deshalb jeden chinesischen Versuch abwehren, die amerikanische Präsenz im Land zu untergraben, während die USA Israel ihrerseits dazu zwingen könnten, die chinesische Kontrolle des HaMifratz-Hafens zu untergraben.



Einmal mehr stellt sich deshalb die Frage, ob China die Belt and Road Initiative nutzt, um den Einfluss der USA einzudämmen. Aus realpolitischer Sicht könnte es für Israel sinnvoll sein, seine Allianzen zugunsten einer der Supermächte zu verschieben und dieser das volle Vertrauen auszusprechen. In jedem Fall birgt die chinesische Präsenz in Haifa ein hohes Risiko.



Beeinflussung des Handlungsrahmens

Xi Jinping mag das Risiko, das mit dem Projekt verbunden ist, und investiert in den Hafen. Entscheidungsträger in Israel diskutieren nicht zuletzt deshalb längst darüber, wie sie chinesische und amerikanische Entscheidungen beeinflussen können. Insbesondere für den Fall, dass die USA beschließen sollten, in dieser Angelegenheit gegen israelische Interessen zu handeln. Die Beeinflussung chinesischer Entscheidungen und Prioritäten könnte vor diesem Hintergrund ein wichtiger strategischer Ansatz für die israelische Sicherheitspolitik sein.



Um Xis Entscheidung zu beeinflussen, muss sein Handlungsrahmen verändert werden. Aufgrund seiner Belagerungsmentalität hat Xi ­beschlossen, das Risiko zu suchen und in Israel zu investieren, um Chinas Position in der Region zu stärken. Israel ist deshalb zwischen seiner chinesischen und seiner US-amerikanischen Kooperation gefangen und muss einen Weg finden, nicht unter die Räder der Supermächte zu geraten.



Hinzu kommt die nukleare Bedrohung durch den Iran, aufgrund derer Israel an die USA als Schutzmacht gebunden ist. Gleichzeitig ist nicht ausgeschlossen, dass auch China – durch seine Verbindungen in den Iran und mit seinen Verstrickungen in das iranische Atomprogramm – die geopolitische Lage zugunsten Israels beeinflussen könnte.



Um diesen äußerst schwierigen Spagat zu meistern, könnte Israel einerseits versuchen, durch Soft-Power-Ansätze weitere chinesische Investitionen in den Hafen von Haifa zu verhindern und so die amerikanischen Interessen zu schützen. Andererseits könnte man China erlauben, mehr Geld zu investieren, solange Peking das iranische Atomprogramm vereitelt. Da jedoch klar ist, dass die USA in Bezug auf die chinesische Präsenz in Israel keine Kompromisse eingehen werden und China aufgrund des strategischen Dreiecks mit dem Iran für Israel wichtig ist, scheinen solche Strategien kaum zielführend.



Gemeinsame Unternehmensgründung?

Eine Art goldener Weg könnte derweil in einem ganz anderen und weitaus innovativeren Vorschlag liegen: in der Gründung eines halb israelischen, halb chinesischen Unternehmens.



Dieses würde einerseits volle Transparenz für die amerikanische Seite schaffen und publik machen, was China kauft und warum. Für China wäre es wiederum die Möglichkeit, chinesische Technologie zu verkaufen und seine Interessen in Israel weiter voranzutreiben. Israel könnte auf diese Weise auch mehr über die Motive Chinas erfahren und so wiederum Pluspunkte in Wa­shington sammeln.



Gleichzeitig hätte man China als Partner gegen das iranische Atomprogramm gewonnen und Peking im Gegenzug seine Wünsche erfüllt. Auf diese Weise könnte China seinen Handel mit dem Iran wie gewohnt fortsetzen, während es mit Israel Technologien handeln würde. Die Vereinigten Staaten würden in diesem Fall kein Hindernis darstellen, da das israelisch-chinesische Unternehmen völlig transparent wäre und den USA die Möglichkeit gäbe, die gehandelten Technologien und deren Verwendung zu überprüfen.



Diese Alternative würde zwar kein perfektes Gleichgewicht zwischen dem Iran und Israel in Bezug auf ihre Zusammenarbeit mit China herstellen, nicht zuletzt, weil Peking iranischen Ölfässern wohl stets den Vorzug vor israelischer Technologie geben würde. Aber dieser alternative Weg würde es China ermöglichen, beides zu kaufen und gleichzeitig Israel zu unterstützen, indem es das iranische Atomprogramm vereitelt.



Diese Beeinflussung der Rahmenbedingungen würde sich wiederum auch auf Xi Jinpings Belagerungsmentalität auswirken, indem es ihm ein Gefühl der relativen Sicherheit vermittelt. China hätte so einen Punkt erreicht, an dem es sich gut positioniert fühlt und nicht bereit ist, Risiken einzugehen, die seine Lage verschlechtern könnten. Die Zusammenarbeit mit Israel und dem Iran wären gesichert und ein Konflikt mit den USA vermieden.



Die Rolle des Iran

Der Iran ist innerhalb der Belt and Road Initiative ein strategisch wichtiger Partner, da das Land den Nahen Osten und das Mittelmeer mit seinen vielen europäischen Häfen verbindet. Darüber hinaus ist der Iran für China ein wichtiger Bezugsposten für Öl und Energie. Für den Iran ist China wiederum ein wichtiger Geldgeber, der das Land aus der Wirtschaftskrise herausgeführt hat und der die von den USA verhängten Sanktionen abfedern konnte.



Im März 2021 unterzeichneten der Iran und China ein auf 25 Jahre angelegtes Kooperationsabkommen (auch „umfassende strategische Partnerschaft“ genannt), das eine langfristige wirtschaftliche, sicherheitspolitische und strategische Partnerschaft zwischen den beiden Staaten vorsieht. Nicht zuletzt geht es bei dem Abkommen darum, die iranischen Erdölexporte nach China zu sichern und im Gegenzug die technologische, militärische und entwicklungsbezogene Unterstützung Chinas festzuschreiben. China erhält also Zugang zu wertvollen Ressourcen wie Öl und Gas sowie zu See- und Handelsrouten und der Iran umfassende wirtschaftliche und sicherheitspolitische Unterstützung.



Es scheint in Chinas Interesse zu liegen, im Iran zu investieren. Um Einfluss auf Chinas Entscheidungsfindung im Iran zu nehmen, muss also gleichsam der Rahmen beeinflusst werden. Gefangen in einer Belagerungsmentalität würde China das Risiko einer Investition im Iran trotz der damit verbundenen Gefahren – wie einem potenziellen Konflikt mit dem Westen und der Instabilität im Nahen Osten – wohl eingehen wollen.



Deshalb ist es notwendig, China eine Alternative anzubieten. Würden die USA und Israel etwa Saudi-Arabien dazu drängen, speziell in Energiefragen engere Beziehungen zu China zu knüpfen, würde der Iran für Peking langfristig an strategischer Bedeutung verlieren.



Diese Manipulation des Rahmens würde Xi Jinpings Position stärken und seine Risikokalkulation wohl auch nachhaltig verändern. In diesem Fall würden Investitionen im Iran ein Energieabkommen mit Saudi-Arabien gefährden. Gleichzeitig könnte dieser alternative Weg auch die chinesische Unterstützung für das iranische Atomprojekt verringern und die Kräfteverhältnisse innerhalb des Dreiecks Israel–China–Iran zugunsten Israels verschieben.



Schlussfolgerung

In diesem Text wurde die Entscheidungsfindung Xi Jinpings als Teil seiner Belagerungsmentalität untersucht, insbesondere im Hinblick auf die chinesische Investitionspolitik im Rahmen der Belt and Road Initiative und deren Auswirkungen auf die Staaten Israel und Iran.



Untersucht wurde die Annahme, dass Xi innerhalb des relevanten Handlungsrahmens eine rationale Entscheidung auf der Grundlage von Risikobereitschaft und -vermeidung treffen würde. In Bezug auf die beiden Fälle Israel und Iran – also zweier Staaten mit unterschiedlichen Regierungssystemen, unterschiedlicher Wirtschaftsleistung und unterschiedlicher strategischer Bedeutung für China – scheint Xi innerhalb seines derzeitigen Handlungsrahmens rational gehandelt zu haben. Es kann angenommen werden, dass sich das Verständnis einer Belagerungsmentalität direkt auf Xis rationale Entscheidungsfindung auswirkt. Ein Umstand, der es den wirtschaftlichen, geopolitischen und internationalen Rivalen Chinas ermöglicht, Xis Politik zu beeinflussen.



Dieser Ansatz ähnelt dem Verhalten eines Kugelstoßpendels, bei dem eine Kugel andere antreibt, ohne eine direkte Kraft auf sie auszuüben. Allein die Beeinflussung des Rahmens, der Xis Verhalten bestimmt, kann seine Entscheidungen verändern.



Diese Schlussfolgerung bietet einen neuen Blickwinkel auf die Welt der Außenpolitik und auf das geopolitische Gleichgewicht. Die Beweggründe der Gegenseite zu verstehen, ermöglicht uns, die Schritte eines Rivalen zu beeinflussen, ohne dabei auf Hard Power zurückgreifen zu müssen. Mit seinem aggressiven strategischen Plan baut Xi Jinping ein weit verzweigtes, eng gesponnenes Netz wirtschaftlicher, kommerzieller und staatlicher Beziehungen auf, dessen Ziel noch immer nicht vollends klar ist. Es wird daher in Zukunft von entscheidender Bedeutung sein, den riesigen chinesischen Drachen zu beeinflussen, ohne ihn direkt zu konfrontieren.



Aus dem Englischen von Kai Schnier

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 07, November 2022, S.70-77

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Benaya Cherlow ist Bachelorstudent im Honor Track Program für Strategie und Entscheidungsfindung an der Reichman Universität in Herzliya. In seinem Studium spezialisiert er sich auf die israelisch-chinesischen Beziehungen und nimmt derzeit an einem Praktikumsprogramm am INSS-Institut teil. Neben seinem Studium arbeitet er als Juniorberater in einer strategischen Beratungsfirma. Benaya engagiert sich auch als Sprecher der Studierendenvereinigung an der Reichman Universität.