„Die Ukraine ist eine der wichtigsten Prioritäten“
Im Juli übernimmt Prag die EU- Ratspräsidentschaft. Es wirbt für eine Politik, die Staaten in Osteuropa nicht länger in ein „geopolitisches Gefängnis“ sperrt.
Interview mit Jaroslav Kurfürst
IP: Herr Botschafter, welche Auswirkungen hat der Einmarsch Russlands in die Ukraine auf die EU?
Jaroslav Kurfürst: Die russische Aggression hat zu einem größeren Zusammenhalt in der EU geführt, zu einer größeren Einigkeit innerhalb der Union. Ich denke, dieser Zusammenhalt schlägt sich in gewisser Weise auch in einer neuen Anerkennung der politischen Stärke der EU nieder: Je geschlossener und geeinter Europa ist, desto stärker wird es als geopolitischer Akteur. Für viele Staaten ist es eine neue Erkenntnis, dass die EU diese Rolle ausfüllen kann. Wichtig ist dafür aber auch, dass es innerhalb der EU in der Frage, wer Angreifer und wer Opfer ist, keine einzige abweichende Stimme gibt. Alle EU-Mitgliedstaaten sind sich einig, dass es in diesem illegalen Angriffskrieg auch um die Ordnung nach dem Kalten Krieg geht, um Demokratie, um liberale Werte und um eine regelbasierte internationale Ordnung. Es besteht Einigkeit, dass wir diese Werte verteidigen müssen. Diese Einigkeit ist extrem wichtig. Natürlich gibt es aber auch viele Herausforderungen – und die EU wird künftig die richtigen strategischen Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen geben müssen: zum Beispiel darauf, wie sie am besten mit dem EU-Beitrittsantrag der Ukraine umgeht, aber auch mit den Anträgen Georgiens und Moldaus. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, wie es mit den Ländern des Westlichen Balkans weitergeht. Bei diesen Fragen geht es um die EU selbst und darum, wie sie in Zukunft aussehen wird. Es ist aber auch klar, dass die russische Aggression die gesamte Politik der Östlichen Partnerschaft der EU nachhaltig umgeschrieben hat. Wir müssen zugeben, dass unsere bisherige Politik problematisch war. Als EU haben wir die europäischen Bestrebungen unserer östlichen Partner stets gefördert, auch was die Übernahme von Normen, Standards und Werte anging. Einen Beitritt haben wir jedoch immer ausgeschlossen. Damit haben wir diese Länder in eine Art geopolitisches Gefängnis gesperrt und gleichzeitig in Russland die imperialistische Versuchung geschürt, sich in diesen Staaten so viel Territorium wie möglich anzueignen.
Wie tief geht diese europäische Einigkeit wirklich? Ungarn zum Beispiel hat wochenlang ein russisches Ölembargo blockiert ...
Natürlich führen allein schon die vielen unterschiedlichen geografischen und geopolitischen Gegebenheiten innerhalb der EU dazu, dass einzelne Mitgliedstaaten unterschiedliche Ansätze vertreten. Binnenländer wie Ungarn, die sich bisher auf Pipelines verlassen haben, haben es beispielsweise schwerer, bei Erdöl und Erdgas auf andere Versorgungswege umzusteigen als andere Staaten. Vor diesem Hintergrund kann man die ungarische Position sicherlich zum Teil als legitime Sorge bezeichnen. Auch wir Tschechen haben ja unsere eigenen berechtigten Bedenken. Und schließlich gab es Ende Mai dann ja auch eine Einigung. Aber ja, der europäische Zusammenhalt wird weiterhin auf die Probe gestellt werden. Bislang hat die EU mit ihrer Sanktionspolitik und ihrer unmissverständlichen Unterstützung für die Ukraine jedoch zumindest in Mittel- und Osteuropa an Ansehen und Vertrauen gewonnen.
Eine der Lehren, die man ziehen muss, ist, dass die deutsche Russland-Politik bis zum Beginn des Krieges falsch war. Warum hat Berlin Ihrer Meinung nach nicht auf seine osteuropäischen Nachbarn gehört, die immer wieder vor Putins Regime und seinen Bestrebungen gewarnt hatten?
Nun, Wunschdenken auf deutscher Seite ist sicherlich ein Teil der Antwort. Ein anderer Teil lautet Pragmatismus. Deutschland wollte so weitermachen wie bisher: die Beziehungen zu Russland ausbauen, die Gasimporte erhöhen und so weiter. Und das tat man eben bis zu dem Zeitpunkt, als es nicht mehr möglich war, also bis zum Beginn der russischen Aggression in der Ukraine. Seitdem sehen wir, dass die deutsche Politik ihre Fehler im Umgang mit Wladimir Putin und Russland anerkennt und eine neue Politik wagt, die unter dem Schlagwort der „Zeitenwende“ steht. Diese neue Politik ist Berlin allerdings sichtlich unangenehm. Man zögert, konsequent zu handeln und harte Entscheidungen zu treffen. Viele erwarten von Deutschland als größter Volkswirtschaft und stärkstem Akteur innerhalb der EU jedoch, dass es eine Führungsrolle übernimmt. Stattdessen schaut sich Berlin meist an, wo es in der EU eine Mehrheit gibt, und schließt sich dieser dann an. Mit anderen Worten: Deutschland ist noch etwas verwirrt. Aber Berlin bewegt sich in die richtige Richtung und versucht, sich verantwortungsvoll zu verhalten. Es sollte sich aber bewusst sein, dass Zögern oft dazu führt, dass strategische Impulse verpasst werden. Und das kann in einer Situation wie dieser durchaus ernsthafte Konsequenzen haben.
Sie haben bereits erwähnt, dass die Frage nach der EU-Mitgliedschaft der Ukraine und anderer Länder eine Schlüsselfrage sein wird. Welche Rolle wird dieses Thema bei der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft spielen?
Für die Ukrainer ist die Mitgliedschaft in der EU das Ziel. Wir müssen verstehen, dass diese Geschichte begann, als Präsident Viktor Janukowitsch 2013 das Assoziierungsabkommen nicht unterzeichnete. Damit löste er den Euromaidan aus, was wiederum zu Gewalt durch prorussische Kräfte, weiteren Protesten, der Flucht von Janukowitsch, der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine führte. All das ist Teil der gleichen Geschichte. Wir haben es hier also mit einem Krieg zu tun, in dem Menschen für die europäischen Ambitionen der Ukraine sterben. Die Europäische Kommission bereitet derzeit eine Diskussion zu diesem Thema für den Europäischen Rat im Juni vor (nach Redaktionsschluss der IP). Tschechien tritt jedoch erst im Juli die Nachfolge Frankreichs an, sodass wir uns auf der Ratstagung im Juni zunächst in nationaler Funktion dafür einsetzen werden, dass die Ukraine den Kandidatenstatus erhält. Wir können es uns einfach nicht leisten, die Ukraine weiterhin in das erwähnte geopolitische Gefängnis zu sperren. Zudem werden wir den notwendigen Wiederaufbau der Ukraine angehen müssen. Hier ist schwer vorstellbar, dass die EU das Geld ihrer Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in eine Art Pufferzone investieren wird, die erneut zum Ziel einer russischen Aggression werden könnte. Die Investition in ein potenzielles EU-Mitglied ist wiederum sinnvoll, ebenso wie die Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine. Sollte dieser gewährt werden, dann wird die Rolle der tschechischen EU-Präsidentschaft darin bestehen, den Prozess bis zum Beginn der Beitrittsgespräche zu lenken. Dass dieser Prozess abgekürzt oder durch politische Einmischung beeinflusst werden kann, glaube ich wiederum nicht. Es wird vielmehr wichtig sein, richtige und glaubwürdige Beitrittsgespräche zu führen. Dementsprechend sollten sich die Ukrainer auf einen langen, schmerzhaften Prozess einstellen und darauf, dass die Ukraine alle erforderlichen Kriterien erfüllen muss.
Das Ersuchen der Ukraine, der EU beizutreten, erregt auch die Aufmerksamkeit anderer Staaten, die seit Jahren darauf warten, den Kandidatenstatus zu erhalten oder der EU-Mitgliedschaft einen Schritt näher zu kommen. Dazu zählen beispielsweise die Staaten des Westlichen Balkans – Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien –, aber auch Georgien und Moldau. Besteht die Chance, dass die aktuellen Umstände zu einer generellen Beschleunigung der Beitrittsprozesse führen werden?
Wir müssen hier zwischen dem Kandidatenstatus, den Beitrittsgesprächen und der Mitgliedschaft unterscheiden. Das sind sehr unterschiedliche Entscheidungen und Stadien. Der Kandidatenstatus eröffnet die Möglichkeit, den europäischen Traum zu träumen. Er kann den Ländern gewährt werden, die Artikel 49 des Vertrags über die EU und Artikel 2, auf den sich Artikel 49 bezieht, erfüllen. Meiner persönlichen Meinung nach sollten die Ukraine, Georgien und Moldau dazugehören. Die bevorstehende politische Debatte darüber wird allerdings sehr heikel sein, weil diese drei Länder, umschreibt man es einmal vorsichtig, sehr anfällig für den russischen Imperialismus sind. Im Hinblick auf die Beitrittsgespräche ist es aber so, dass wir sagen: Jedes Land sitzt in seinem eigenen Boot und muss paddeln. Es ist unsere Aufgabe sicherzustellen, dass alle Länder, die an den Beitrittsgesprächen teilnehmen, auch alle technischen, alle wirtschaftlichen und alle politischen Kriterien erfüllen – und zudem auch in Bezug auf ihr Bekenntnis zu den europäischen Werten glaubwürdig sind. Sobald wir das sichergestellt haben, sollte es dann allerdings auch keine Abweichungen mehr vom Ziel der Erweiterung geben.
Braucht die EU nicht trotzdem eine neue Erweiterungspolitik?
Ich weiß, dass in einigen Thinktanks innovative Ideen für eine neue Erweiterungspolitik kursieren – und diese auch von Analysten und Politikern gefördert werden. Auch wenn wir den Prozess anders gestalten können, ist eines unumgänglich: An seinem Ende sollte immer die EU-Mitgliedschaft und damit die EU-Erweiterung stehen. Das ist, denke ich, das Entscheidende. Der Prozess sollte für beide Seiten glaubwürdig sein.
Glauben Sie, dass der französische Präsident Emmanuel Macron dies im Sinn hatte, als er in Straßburg eine „europäische politische Gemeinschaft“ vorgeschlagen hat?
Da das eine neue Initiative ist, brauchen wir dazu erst mehr Details. Wenn diese Vision nicht an die Stelle des Erweiterungsprozesses treten soll, dann ist sie aber zumindest diskussionswürdig. Wenn sie wiederum eine Art Mitgliedschaft zweiter Klasse bedeuten würde, dann glaube ich nicht, dass sie wirklich attraktiv wäre. Das wäre vielmehr eine alte Idee in einem neuen Gewand. Wenn wir nur einen neuen Namen für eine Art EU-Vorbeitrittsstatus schaffen, dann wird das den russischen Imperialismus nicht aufhalten. Denn dieser wurde durch die Zweideutigkeit der EU gegenüber den osteuropäischen Ländern ja zuletzt eher angestachelt. Dieses Konzept würde dementsprechend nicht dazu beitragen, die Stabilität im Osten unseres Kontinents zu sichern – und es würde der Glaubwürdigkeit der EU nicht zugutekommen, auch nicht auf der globalen Bühne.
Macron sprach sich auch für Änderungen der EU-Verträge aus, um mehr Mehrheitsentscheidungen zu ermöglichen ...
Auch hierzu meine persönliche Meinung: In der momentan stark veränderten geopolitischen Lage sind Diskussionen über die zukünftige Gestalt und das Innenleben der EU absolut legitim und notwendig. Vertragsänderungen sind zwar eine sehr komplizierte Angelegenheit, aber die Geschichte lehrt uns, dass die EU vor jeder größeren Erweiterung darüber diskutieren musste, ob und wie sie in der Lage ist, diese Erweiterung zu verdauen und sich entsprechend anzupassen. Eine erneute Erweiterung würde die EU zweifelsohne verändern – nicht nur in Bezug auf ihre geopolitische Lage, sondern auch institutionell und was die Entscheidungsprozesse angeht. All das sollte also auch gründlich diskutiert werden.
Wenn ein Land die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, strebt es in der Regel danach, ein umfassendes Programm festzulegen und Themen und Agenden zu setzen, nur um dann recht schnell zu erleben, wie minutiös erarbeitete Pläne von den Ereignissen überholt werden. So erging es den Deutschen in der zweiten Hälfte des Jahres 2020, als die Coronavirus-Pandemie ausbrach, und den Franzosen in der ersten Hälfte dieses Jahres, als Russland in die Ukraine einmarschierte. Was erwarten Sie sich von der tschechischen Präsidentschaft?
(lacht) Wir werden den französischen und deutschen Beispielen folgen! In der Tat haben wir uns viel vorgenommen. Ich hatte zum Beispiel ein umfassendes Konzept für die Östliche Partnerschaft ausgearbeitet. Jetzt müssen wir natürlich alles neu schreiben – und dabei äußerst flexibel bleiben, da es derzeit viel zu viele unbekannte Variablen gibt. Die Ukraine wird mit Sicherheit eine der wichtigsten Prioritäten der tschechischen Präsidentschaft sein. Um unserer Ukraine-Agenda eine Struktur zu geben, wollen wir unsere Vorhaben in fünf Bereiche einteilen. Dazu gehören erstens die Themen mit unmittelbarem Bedarf, also beispielsweise die Fortführung der Zusammenarbeit und Unterstützung der Ukraine in humanitären Fragen, zweitens der längerfristige Wiederaufbauprozess, der viele Elemente und Diskussionen umfassen wird, die wir moderieren wollen, drittens der Weg zum EU-Beitritt und viertens die Organisation eines Gipfeltreffens, um den politischen Zusammenhalt der EU und den Schulterschluss mit potenziellen anderen Teilnehmern zu demonstrieren. Der fünfte Punkt ist die Resilienz. Neben der Ukraine wird sicherlich auch die Energiesicherheit eine wichtige Rolle spielen und ebenso die Stärkung der Verteidigungskapazitäten der EU, die Cybersicherheit und die strategische Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft sowie unserer demokratischen Institutionen. Das sind die Schlüsselthemen.
Russlands Krieg hat auch die NATO wiederbelebt. Wie sehen Sie die Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO?
Die beiden Organisationen arbeiten schon jetzt in einer noch nie dagewesenen Weise zusammen. Putins Krieg hat die NATO sozusagen beflügelt. Mit Schweden und Finnland, zwei EU-Mitgliedstaaten, die der NATO beitreten wollen, werden die beiden Organisationen noch enger zusammenrücken. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, eine gewisse Rollen- beziehungsweise Arbeitsteilung zu wahren. Die NATO kann beispielsweise nicht die wirtschaftlichen Instrumente nutzen, die der EU zur Verfügung stehen, um Russland zu sanktionieren. Die besondere Rolle der NATO ist es wiederum, für eine glaubwürdige strategische Abschreckung zu sorgen, an der es der EU mangelt. Eine engere Zusammenarbeit ist also eine Win-win-Situation für beide Organisationen.
Das liegt natürlich auch daran, dass sich die USA wieder sehr stark in Europa engagieren. Wie groß ist Ihre Sorge, dass sich dies mit einer anderen US-Regierung im Jahr 2025 umkehren könnte?
Ich möchte nicht über künftige US-Regierungen spekulieren. All das liegt zu weit in der Zukunft. Aber als Europäer müssen wir einen sehr intensiven Dialog mit allen politischen und intellektuellen Strömungen in den USA führen. Und dieser Dialog sollte auch unsere strategischen Wahrnehmungen und potenzielle Bedrohungen thematisieren. Ich glaube aber ohnehin, dass Europa in der gegenwärtigen Situation durchaus in der Lage ist, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass die transatlantische Einheit im Interesse der Verbündeten auf beiden Seiten des Atlantiks ist. Der größte Streitpunkt zwischen den USA und der EU – und das haben wir vor allem während der Trump-Regierung gesehen – war stets der Mangel an europäischen Fähigkeiten und insbesondere militärischen Fähigkeiten. Daraus ist in den Vereinigten Staaten das Gefühl entstanden, dass die USA für die europäische Sicherheit bezahlen und die Europäer Trittbrettfahrer sind. Ich denke aber, dass sich diese Wahrnehmung nun dramatisch ändern wird, weil die Verteidigungsausgaben in ganz Europa stark ansteigen werden. Zudem wird es auch eine verstärkte Diskussion über unsere beiderseitige strategische Wahrnehmung Chinas geben.
Im Moment zumindest haben wir es mit einem Post-Trump-Amerika zu tun. Können Sie sich auch heute schon ein Verhältnis der EU zu einem Post-Putin-Russland vorstellen?
Es wäre schön, ein Post-Putin-Russland zu sehen, aber ich muss zugeben, dass ich dieses Russland noch nicht klar am Horizont erkennen kann. In der Zwischenzeit wird es wichtig sein, die EU-Politik gegenüber Russland neu zu gestalten. Wir müssen lernen, wie wir mit einer revisionistischen Macht umgehen und wie wir ihren Einfluss eindämmen und sie von weiterem aggressiven Verhalten abhalten können. Über die nächste Phase der europäisch-russischen Beziehungen können wir aber erst sprechen, wenn Russland sich ändert. Für mich persönlich wird der Lackmustest dafür die Ukraine sein. Wie wird sich Russland in Zukunft gegenüber der Ukraine verhalten? Das ist das alles Entscheidende.
Das Interview führten Henning Hoff, Anna-Sophie Humer-Hager und Joachim Staron.
Aus dem Englischen von Kai Schnier
Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 25-30