Die Sucht nach Unsterblichkeit
Schlusspunkt
Was islamistische und westliche Selbstmordattentäter verbindet
Hätte die Stadt Haifa geheißen und der junge Mann Hassan, wäre alles klar gewesen: ein Selbstmordattentat. Aber die Stadt hieß Winnenden und der junge Mann Tim. Also sprach man von einem Amoklauf. In Haifa wäre für den gewöhnlichen deutschen Kommentator noch mehr klar gewesen: dass man sich bei allem Mitgefühl für die Opfer auch fragen müsse, was einen jungen Mann dazu treibe, seinem Leben auf diese Weise ein Ende zu bereiten. Und die Antwort wäre auch klar: Israels Besatzungsregime. In Winnenden war nichts klar. Die Stadt ist wohlhabend. Der Mörder kam aus einer gut situierten, intakten Familie: Vater-Mutter-Kind-Kind-Eigenheim; er hatte einen Ausbildungsplatz und spielte im Tischtennisverein. Sicher, er war ein wenig dick, einzelgängerisch, computersüchtig und depressiv. Aber wenn alle übergewichtigen, „Counterstrike“-spielenden Muttersöhnchen potenzielle Selbstmordattentäter sind, hat Deutschland ein größeres Problem als Israel mit der Hamas.
Gibt es etwas, das die Taten islamistischer und westlicher Selbstmordattentäter bei aller Verschiedenheit des sozialen, politischen und kulturellen Umfelds verbindet? Ja. Es ist die Sucht nach Unsterblichkeit. Das klingt paradox, ist es aber nicht. Den eigenen Tod als Preis des ewigen Lebens ein wenig vorziehen – das kann eine rationale Entscheidung sein. Dazu muss man nicht unbedingt seine eigene Existenz hassen. Man muss nur die Unsterblichkeit mehr lieben als das Leben. Dem gläubigen „Märtyrer“ winken die 72 Jungfrauen im Paradies und die weniger konkrete, aber vielleicht verlockendere Aussicht auf die Unsterblichkeit auf den Plakaten und Websites der Dschihadisten. Dem „Amokläufer“ winkt der Platz in der Walhalla dieser spezifischen Form der Ruhmessucht. Die meisten von uns kennen zwar nur noch die Orte: Columbine, Littleton, Erfurt, Winnenden. Aber die Szene kennt und verehrt die Täter als Stars.
Und schon das Wort „Star“ macht klar, worum es geht. Wie heißt es im Titelsong des Musicals „Fame!“: „I’m gonna live forever / I’m gonna learn how to fly / High / I feel it coming together / People will see me and cry / Fame / I’m gonna make it to heaven / Light up the sky like a flame.“ Die Verbindung von „Unsterblichkeit“, „Himmel“, „weinen“ und „Flamme“ ist verräterisch. Denn auch diese Unsterblichkeit hat einen Preis, kalkuliert den eigenen Tod mit ein. Wöchentlich können wir gerade miterleben, wie bei der Casting-Show „Deutschland sucht den Superstar“ dieser Tod vor Millionenpublikum zelebriert wird, bis nur einer übrig bleibt.
Verehren wir also im Westen, fragte eine kluge Freundin, die Selbstvernichtungssucht nur geschickter und verlogener als die Islamisten? Schwer zu sagen. Aber eines ist sicher: Die Geschichte hat nichts Tödlicheres hervorgebracht als die Vorstellung der Unsterblichkeit.
ALAN POSENER, Welt am Sonntag
Internationale Politik 4, April 2009, S. 112.