Die stille Katastrophe
Um das Artensterben zu stoppen, sind vor allem drei Dinge wichtig: politischer Wille, die Einbeziehung der Menschen vor Ort – und deutlich mehr Geld.
Die Natur scheint auf bedrückende Weise zu verstummen. „Silent Spring“ nannte Rachel Carson ihr 1962 erschienenes Buch. Es gilt als Beginn der Umweltbewegung und als eindringliche Mahnung zu einem sorgsameren Umgang mit der Natur. Seither sind 60 Jahre vergangen, aber der Verlust an Arten und Biodiversität ist nicht etwa gestoppt, sondern hat sich immer weiter beschleunigt.
Wissenschaftler sprechen vom sechsten Massenaussterben, so dramatisch ist die Lage: Mehr als 50 Prozent aller natürlichen Ökosysteme sind bereits zerstört. Jedes Jahr verschwindet Wald etwa in der Größe Portugals, die Hälfte aller Korallenriffe ist verloren, Meere und Flüsse sind verschmutzt und bis an die Grenze der Nachhaltigkeit überfischt, eine von acht Arten ist vom Aussterben bedroht. Die Liste der Fakten ließe sich beliebig fortsetzen und ausdifferenzieren. Aber ebenso wichtig ist es, auf die Folgen zu blicken und vor allem über Lösungen zu sprechen.
Denn die Konsequenzen sind enorm, für uns alle. Selbst wenn wir in der Stadt leben – wie weltweit die meisten Menschen heutzutage –, wir den Salat im Supermarkt holen und Natur vor allem aus Filmen im Fernsehen kennen, bleiben wir von den Folgen des Biodiversitätsverlusts nicht verschont. Ob wir Wasser, Luft, Nahrung oder Rohstoffe betrachten, immer basiert unser Überleben auf einer intakten Natur. Selbst wenn uns dies nicht immer bewusst sein mag.
Risiken auch für die globale Wirtschaft
Dazu gibt es inzwischen immer mehr Hinweise auch aus Bereichen, die traditionell eher wirtschaftsnah und weniger Naturschutzorganisationen zuzuordnen sind. So zählt das Weltwirtschaftsforum in der Schweiz den Biodiversitätsverlust mittlerweile zu den fünf größten globalen Risiken der kommenden zehn Jahre. Es hat zudem errechnet, dass mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung durch den Niedergang der Natur potenziell gefährdet ist. „Business as usual hat keine Zukunft“, heißt es dort. Auch Untersuchungen der niederländischen und französischen Zentralbanken zeigen, dass jeweils ein Drittel bis zur Hälfte des Portfolios im Finanzsektor direkt von Natur abhängig und entsprechend anfällig für deren Schwund ist. Es handelt sich also um Risiken, die immer mehr in die Realwirtschaft durchschlagen. Dass sich auch 80 Prozent der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele durch den Verlust an Biodiversität nicht erreichen lassen, ist dann schon fast wieder ein Hinweis für Eingeweihte, soll hier aber nicht unerwähnt bleiben. Kurz gesagt: Eine weitere Schwächung der Natur und ihrer Leistungen können wir uns nicht mehr erlauben.
Deshalb ist es so wichtig, dass das Thema Biodiversität endlich den Stellenwert erhält, den es angesichts seiner Bedeutung für unsere Zukunft haben muss. Während es für den Klimawandel ein allgemeines Bewusstsein und seit 2015 mit dem Pariser Abkommen auch einen international verabredeten Fahrplan gibt, fehlt diese Aufmerksamkeit für den Arten- und Naturschutz noch. Und wenngleich die Fortschritte im Klimaschutz immer noch deutlich hinter den Notwendigkeiten zurückbleiben, ist doch klar definiert, wohin die Reise gehen muss.
Anders beim Biodiversitätsschutz: Hier ist keine Spur von Bewusstseinswandel oder Aufbruchstimmung zu erkennen. Ein altes Abkommen mit den sogenannten Aichi-Zielen ist 2020 ausgelaufen, ohne dass sie erreicht worden wären. Der entscheidende Gipfel für einen Nachfolger, der in einem internationalen Biodiversitätsabkommen (Global Biodiversity Framework) neue Ziele bis 2030 festlegen soll, wurde seit zwei Jahren wegen der Corona-Pandemie immer wieder verschoben. Man wird den Eindruck nicht los, dass die „Sendepause“ manchen Ländern auch ganz gelegen kam. Jetzt endlich gibt es einen Termin; im Dezember trifft sich die Staatengemeinschaft im kanadischen Montreal, um dann hoffentlich zu neuen verpflichtenden Verabredungen zu gelangen. Denn diese sind genauso überfällig wie deren konsequente Umsetzung.
Der Natur mehr Raum lassen
Naturschutz wirkt. Dafür gibt es inzwischen viele Beispiele. Bestände erholen sich, wenn man ihnen den Raum und Ruhe lässt. Das gilt an Land genauso wie im Meer. Bestimmte Bereiche dem direkten Eingriff des Menschen zu entziehen oder klare Regeln für deren Nutzung aufzustellen, ist eine angemessene Strategie, um überlebenswichtige Biodiversität zu sichern. Aber nur, wenn Schutzgebiete gut gemanagt werden. Von großer Bedeutung ist dabei, Sozial- und Umweltstandards zu berücksichtigen, damit die indigene und lokale Bevölkerung keine negativen Folgen erleiden muss. Zudem gehören zu einer professionellen Verwaltung ausreichend Kapazitäten, um sich vor illegaler Wilderei zu schützen, gute Überwachungs- und Kontrollsysteme, um die Fauna und Flora im Blick zu behalten, sowie partizipative Gremien, damit die Bevölkerung an Entscheidungen teilhaben kann. Auch Vorkehrungen für nachhaltigen Tourismus, dessen Einnahmen fair aufgeteilt werden, sind wichtig. Bisher ist das leider nicht überall der Fall.
Deshalb braucht es klare Vorgaben, welche Anteile der Erde unter Schutz stehen sollen und wie wir sicherstellen, dass diese Gebiete ihrer Aufgabe dann auch effektiv nachkommen können. Dazu steht die Forderung im Raum, bis zum Jahr 2030 rund 30 Prozent der Erde unter Schutz oder nachhaltige Nutzung zu stellen – und das möglichst effizient. Bisher liegen wir bei etwa 17 Prozent von Schutzgebieten an Land und 8 Prozent im Meer.
Das sogenannte 30x30-Ziel ist einer der wichtigsten Punkte des bevorstehenden Gipfels, aber nicht unumstritten. Während Wissenschaftler meinen, man müsste sogar eher in Richtung 40 oder 50 Prozent gehen, um den gefährlichen Artenschwund aufzuhalten, sind die 30 Prozent vielen Staaten schon zu kompliziert und zu viel. Das hat auch Gründe, weil dieses Konstrukt viele Fragen aufwirft, die noch nicht gelöst sind. Dazu zählen folgende: 30 Prozent in jedem Land oder weltweit? Wer prüft später, ob der Artenschwund gestoppt ist? Wer bezahlt für die Schutzmaßnahmen? Naturschutz kostet Geld. Und er konkurriert in vielen Staaten mit anderen Aufgaben, wie dem Kampf gegen Hunger und Armut, Bildung, oder – in Zeiten der Pandemie besonders wichtig – Gesundheitsdiensten. Dazu kommt, dass sich rund 80 Prozent aller Arten auf etwa 20 Prozent der Erdoberfläche konzentrieren, von denen der größte Teil in Entwicklungsländern liegt. Dort fehlt es häufig schon jetzt an den nötigen Mitteln, um Schutzgebiete effektiv und im Einklang mit den Interessen der lokalen Bevölkerung zu verwalten. Das gilt erst recht für das Ausweisen von neuen Schutzflächen.
Woher die Mittel nehmen?
Neben dem politischen Willen, den Naturschutz international zu verankern und mit einem anspruchsvollen quantitativen Ziel zu versehen, fehlt es also auch schlicht und einfach am Geld. Selbst wenn hier Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind, geben sie doch einen groben Eindruck der Lage: Der weltweite Bedarf für Investitionen in den Naturschutz mit Blick auf das 30x30-Ziel wird dem „Little Book of Investing in Nature“ zufolge auf 150 bis 230 Milliarden Dollar jährlich geschätzt. Bisher fließen in Schutzgebiete aber erst rund 24 Milliarden Dollar. Es besteht also eine riesige Finanzierungslücke, die aus öffentlichen Budgets allein nicht aufzubringen ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die Entwicklungsländer bisher den kleinsten Anteil an den großen Biodiversitätszuwendungen haben; sie erhalten derzeit nur geschätzt ein Fünftel der internationalen Gelder dafür. Neue Finanzmittel gerade für sie bereitzustellen, ist daher eine zentrale Aufgabe für die nächsten Jahre.
Eines dieser Instrumente, um private und öffentliche Geber gemeinsam in den Dienst des internationalen Naturschutzes zu stellen, ist der Legacy Landscapes Fund (LLF), den die KfW im Auftrag der Bundesregierung gegründet hat. Die Idee hinter dieser neuen Stiftung ist einfach und gleichzeitig bestechend: Wenn es gelingt, möglichst viele Arten in den biodiversitätsreichen, aber einkommensarmen Gegenden dieser Welt zu bewahren, lässt sich ein guter Teil der Biodiversität für die gesamte Menschheit sichern. Auch blieben dadurch wichtige Kohlenstoffsenken erhalten – eine natürliche Maßnahme gegen den Klimawandel. Entsprechend lautet das Ziel: bis zu 30 der wichtigsten Schutzgebiete weltweit für mindestens 15 Jahre (im Idealfall auf ewig) finanziell zu fördern, damit sie Natur wirklich schützen können. Eine Million Dollar erhält jedes Schutzgebiet pro Jahr; das ist nicht ausreichend, um alle Kosten zu decken, aber genügt für die Grundfinanzierung, damit – grob gesprochen – in den Parks „das Licht nicht ausgeht“.
Neue Geldquellen erschließen
Das Besondere an dem Fonds ist: Es unterstützen ihn nicht allein öffentliche Geber wie Deutschland und Frankreich, sondern auch private Unternehmen und Stiftungen. Schon jetzt sind die Gordon and Betty Moore Foundation, die Rob & Melanie Walton Foundation, die Arcadia Foundation und die Wyss Foundation mit von der Partie. Weitere private Akteure, darunter auch renommierte Unternehmen, haben Interesse signalisiert und werden in den nächsten Monaten als zusätzliche Geldgeber beitreten. Denn auch in der Privatwirtschaft wächst das Bewusstsein, dass die natürlichen Ressourcen endlich sind und wir dringend mehr in den Biodiversitätsschutz investieren müssen. Theoretisch gibt es für diesen neuen Fonds kein Limit (praktisch vielleicht schon): Je mehr Geber sich finden, desto mehr Natur kann weltweit und dauerhaft geschützt werden.
Bisher fördert der LLF sieben Pilotgebiete mit einer Fläche von mehr als 60 000 Quadratkilometern; das entspricht etwa drei Viertel Österreichs. Das war der Start. Inzwischen hat eine öffentliche Ausschreibung stattgefunden. Der Selektionsprozess läuft noch, aber es sieht so aus, als könnten bis Mitte nächsten Jahres mindestens sieben weitere Naturschutzgebiete in die Förderung kommen.
Mit dem Legacy Landscapes Fund werden also erstens private Geldquellen zusätzlich zu öffentlichen Mitteln erschlossen, ohne die es nicht gehen wird. Während private Stiftungen traditionell eher kurzfristiger fördern, dafür aber schnellere Entscheidungswege haben, sind öffentliche Geber möglicherweise etwas langsamer in ihrer Entscheidung, doch denken sie langfristiger. So versucht der LLF zweitens, aus beiden Welten zu lernen und die bestmögliche Unterstützung vor Ort zu gewährleisten. Außerdem achtet er darauf, dass alle Investitionen entwicklungspolitischen Zielen und Standards entsprechen. Aus all diesen Gründen braucht es öffentlich-private Einrichtungen für den Erhalt von Biodiversität wie den Legacy Landscapes Fund. Das ist eine der bisherigen Lehren.
Naturschutz mit den Menschen
Eine andere Erkenntnis ist, dass sich Naturschutz nur mit den Menschen umsetzen lässt. Die sogenannte „Fortress Conservation“ mit ihrer Festungsmentalität aus hohen Zäunen und extremen Zugangsbeschränkungen funktioniert nicht. Solche Gebiete lassen sich nicht einfach abtrennen von den Gemeinschaften, die in den oder um die Schutzgebiete leben.
Moderner Naturschutz muss in größeren Zusammenhängen, in ganzen Landschaften denken, Schutz und Nutzung sorgsam austarieren und einen fairen „Vorteilsausgleich“ schaffen. Klingt einfach und einleuchtend, ist es in der Praxis aber nicht. Auch kann es je nach Situation ganz Verschiedenes heißen: dass umliegende Gemeinden an den Einnahmen aus dem Tourismus beteiligt werden, dass es begrenzte Jagdrechte oder Geschäftsmodelle gibt, bei denen sich mit nachhaltigen Naturprodukten Geld verdienen lässt und manches mehr. Doch solche Modelle muss man entwickeln und zwar überall und immer zusammen mit den Menschen vor Ort. Das kostet Mühe, Zeit und ebenfalls Geld. Hier stehen wir erst am Anfang, aber klar ist schon jetzt, dass soziale und lokale wirtschaftliche Aspekte eine viel größere Rolle im Naturschutz spielen müssen.
Die Aufgaben, um den beispiellosen Schwund an Biodiversität aufzuhalten, sind groß und nicht einfach zu lösen. Naturschutz ist dafür ein wichtiger, aber nicht der einzige Baustein. Gerade deshalb kann nicht länger gezögert werden. Der Gipfel in Montreal darf nicht nur halbherzige Ziele hervorbringen, er darf kein zweites Kopenhagen werden. Damals im Jahr 2009 war die internationale Gemeinschaft in der dänischen Hauptstadt dramatisch gescheitert, ein neues Klimaschutz-Regime zu verabschieden, nachdem das alte ausgelaufen war. Kopenhagen steht bis heute stellvertretend für das größte Versagen der Weltgemeinschaft in der Nachhaltigkeitsdebatte. Danach dauerte es sechs Jahre, bis in Paris 2015 eine neue Lösung gefunden wurde.
Doch so viel Zeit haben wir nicht für eine Trendwende beim Verlust an Biodiversität. Deshalb braucht es in Montreal entschlossene Politiker und Unterhändler, ein klares Aufbruchssignal und ambitionierte Ziele. Es braucht – auf einen kurzen inhaltlichen Nenner gebracht – mehr und besseren Naturschutz, mehr Geld und mehr Beteiligung der Menschen. Biodiversität darf nicht länger als „nice to have“ betrachtet werden, sondern benötigt einen klar formulierten politischen Rahmen. Ohne entschlossenes Handeln zerstören wir unsere Lebensgrundlage, und zwar unser aller Lebensgrundlage.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 94-99
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