Die Revolution bleibt zu Hause
In der Corona-Krise versucht die angeschlagene Regierung Piñera, politische Legitimität zurückzugewinnen. Chiles Medien sind weitgehend auf ihrer Seite.
An einem Freitag Anfang April legte Sebastián Piñera einen Zwischenstopp auf dem Weg vom Regierungspalast zu seinem Wohnsitz im Stadtviertel Las Condes ein. Der chilenische Präsident, dessen Popularitätswerte seit dem Volksaufstand vom 18. Oktober 2019 zeitweise auf ein historisches Tief von gerade einmal 6 Prozent gesunken sind, ließ die Staatskarosse an der Plaza de la Dignidad anhalten, dem legendären Ground Zero des Oktober-Aufstands. Anschließend überquerte er den wegen der Quarantänebestimmungen menschenleeren Platz und ließ sich vor der Reiterstatue ablichten.
Die Qualität des Fotos war mäßig, die Reichweite des Medienechos gewaltig – jedoch nicht im Sinne der präsidentiellen Kommunikationsabteilung. „Chiles Präsident löst mit seinem Besuch auf dem unter Quarantäne stehenden Platz des Massenaufstands Proteststürme aus“, betitelte Reuters eine Meldung, die von der New York Times aufgegriffen wurde.
Es war nicht das erste Mal, dass Chiles Präsident Negativschlagzeilen in internationalen Medien auslöste. Bereits Anfang Januar 2020 hatte die New York Times einen Artikel des peruanischen Politikwissenschaftlers Alberto Vergara abgedruckt, der schonungslos den mangelnden politischen Erfolg und die geringe Popularität konservativer Unternehmer in der Region analysierte, die in Präsidentenämter gewählt worden waren.
Vergara zitiert den amerikanischen Volkswirt und Sozialwissenschaftler Albert Hirschman, wonach „nicht eingehaltene Versprechen zu Lasten der Bevölkerung gehen“ und führt in Bezug auf Chile aus: „Für den Moment halten wir fest, dass die Regierung der Unternehmer ein Albtraum war und die Idee, ein Land wie ein Unternehmen führen zu können, Unsinn.“
Letztlich scheiterte Piñera daran, dass er nicht in der Lage war, Antworten auf die grundlegenden Sorgen der chilenischen Gesellschaft zu geben, die – wie die Nachbarländer – von extremen, strukturell verankerten Ungleichheiten gekennzeichnet ist.
Eingebildete Schweiz
Noch einen Tag vor dem Volksaufstand hatte Präsident Piñera sein Land in einem Interview mit der Financial Times als eine Oase der Stabilität bezeichnet und erklärt: „Odysseus ließ sich am Mast eines Schiffes festbinden, mit Wachs in den Ohren, um nicht Opfer des Sirenengesangs zu werden. Wir sind bereit, alles zu tun, um nicht in Populismus, in Demagogie zu verfallen.“ Tags drauf legten erzürnte Demonstranten landesweit das öffentliche Leben lahm, mit erheblichem Sachschaden und zum noch größeren Nachteil für das Image der angeblichen Oase. Die Wucht des Volkszorns im Oktober 2019 überraschte nicht nur den Präsidenten, sondern viele internationale Beobachter, die zu lange übersehen hatten, dass Chile trotz des hohen Durchschnittseinkommens eben doch nicht die Schweiz Lateinamerikas ist.
Schaut man auf die Daten, dann zeigt sich, dass Chile mehr mit den sogenannten Rentenökonomien der Region gemeinsam hat als mit den sozialen Marktwirtschaften der OECD. Das gilt etwa für die Ungleichheitsraten, die im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch sind, für den mangelnden Zugang zu Bildung und zu Gesundheit, für das ungerechte, rein kapitalgedeckte Rentensystem und für eine Exportwirtschaft, die von der gnadenlosen Ausbeutung von Naturressourcen abhängt.
Eine kleine Kaste von wirtschaftlichen und politischen Eliten, etwa zwei Dutzend Familien, hatte sich jahrzehntelang die Rohstoffeinkünfte untereinander aufgeteilt oder von der Privatisierung grundlegender öffentlicher Güter wie Bildung, Gesundheit, Renten und Wasser profitiert, während sich ein Großteil der Bevölkerung, bis weit in die Mittelschichten, verschuldete.
Zwar fiel in den Zeiten des Rohstoffbooms auch ein Teil des Gewinns für breitere Teile der Bevölkerung ab. Der neue Wohlstand steht jedoch in einem Land, in dem der Staat kaum öffentliche Güter zur Verfügung stellt, auf tönernen Füßen. Bereits ein einziges Lebensereignis wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder ein Unfall kann dazu führen, dass eine Familie wieder ins Prekariat abrutscht.
Die Armut breiter Teile der Bevölkerung ist einer der Faktoren, die die Wucht des Oktober-Aufstands erklären. Der Artikel „60 Tage Gewalt in der imaginären Oase“, den das unabhängige Journalistenkollektiv Ciper kurz vor Weihnachten 2019 online veröffentlichte, fasst das treffend zusammen. Fast sieben von zehn chilenischen Arbeitnehmern verdienen weniger als 600 Euro, und das bei Lebenshaltungskosten, die deutlich über denen einer Stadt wie Berlin liegen. Das kontinuierliche wirtschaftliche Wachstum ist niemals bei der breiten Bevölkerungsmehrheit angekommen.
Für eine neue Verfassung
Die Ursachen für die Malaise sahen die Oktober-Demonstranten neben einer verfehlten Sozialpolitik in einem Verfassungskorsett, das noch während der Militärherrschaft verabschiedet wurde und auch in der nachautoritären Zeit Gültigkeit behielt.
Anders als in anderen Ländern Lateinamerikas wurde die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung mit dem demokratischen Übergang 1990 nicht außer Kraft gesetzt, sondern behielt weiterhin Gültigkeit. Die junge Demokratie in Chile blieb somit in ein Verfassungskorsett gezwängt, das 1980 von den sogenannten „Chicago Boys“ um Jaime Guzmán passgenau auf die Interessen der Unternehmerelite zugeschnitten war.
Deshalb konzentrierten sich die Forderungen der Zivilgesellschaft rasch auf eine neue Verfassung, die nicht mehr alleine auf Unternehmerinteressen und den Schutz des Privateigentums zugeschnitten sein sollte, sondern einen demokratischen Neuanfang ermöglichen sollte.
Differenzierte Analysen zu den sozialen, politischen und ökonomischen Hintergründen des Volksaufstands vom 18. Oktober lassen sich eher in der internationalen Presse finden als in der chilenischen. 96 Prozent der chilenischen Medien werden von zwei großen Konzernen (El Mercurio und Grupo Copesa) kontrolliert, die im Wesentlichen die Interessen der Agrar- und Bergbaulobby widerspiegeln. Wegen des mangelnden Pluralismus wird Chile im World Press Freedom Index inzwischen als „problematisch“ eingestuft. Im Mittelpunkt der Berichterstattung der chilenischen Medien zum Volksaufstand vom 18. Oktober standen denn auch weniger die sozialen Ursachen der Protestwelle als vielmehr die möglichen Sachschäden am Privateigentum und die Kosten des Vandalismus für die Unternehmerschaft.
Während der Massenproteste wurden nach Angaben von Amnesty International mindestens 13 000 Menschen verletzt, 1600 Personen erstatteten Anzeige wegen Folter und grausamer Behandlung oder wegen sexueller Übergriffe seitens der Polizeikräfte; mehr als 350 Personen erlitten Augenverletzungen.
Unter dem Titel „Es ist Verstümmelung“ widmete die New York Times den jungen Menschen, die ihr Augenlicht aufgrund von Gummi- und Tränengasgeschossen verloren hatten, eine Reportage, die im April 2020 vom Wettbewerb World Press Photo als beste digitale Reportage des Jahres ausgezeichnet wurde. „Der Preis für Protest in Chile ist eine Kugel ins Auge“, schrieb ein NYT-Reporter neun Tage später.
Fünf internationale Menschenrechtskommissionen haben inzwischen detaillierte Vorschläge für eine Aufarbeitung der massiven Menschenrechtsverletzungen und grundlegende Reformen der Polizeikräfte und Militärs vorgelegt. Nichts von dem wurde bisher umgesetzt. Die chilenische Presse schenkte den massiven Übergriffen der Polizeikräfte und Militärs kaum Aufmerksamkeit; stattdessen druckte man die Stellungnahmen von Regierung und Polizeikräften ohne größere Nachfragen ab.
Ebenso tendenziös ist die Berichterstattung, wenn es um die Verantwortung der chilenischen Eliten für den Volksaufstand geht und um deren Unfähigkeit, die sozialen Nöte der Bevölkerungsmehrheit zu verstehen und politische Lösungen zu finden. Eine Ausnahme bilden die Beiträge des Fernsehjournalisten Daniel Matamala in der Zeitung La Tercera. Einen Tag nach dem Oktober-Aufstand schrieb er in seiner Kolumne unter der Überschrift „Die Stadt der Wut“: „Die Mächtigen definieren Schwarzfahrer, die ein Ticket in Höhe von 830 Pesos nicht bezahlen, als Verbrecher. Das ist ein Wort, das sie niemals für die Mitglieder der Oberschicht verwenden würden, die jährlich rund 860 Millionen Pesos an Steuern hinterziehen und, wenn es hoch kommt, zu Schulungen in Sachen Ethik verurteilt werden. Wenn die Politik den legitimen Ungehorsam nicht kanalisiert, setzt sie den primitiven Geist der Gewalt frei.“
Aufstand von Außerirdischen
Ein halbes Jahr später hat das Corona-Virus Chile fest im Griff, die Zahl der Infizierten steigt dynamisch. Der Weg zu einer neuen Verfassung und der Lösung der sozialen Krise verzögert sich. Das Verfassungsplebiszit sollte nun nicht mehr am 26. April, sondern am 25. Oktober stattfinden. Wenn es nach dem Willen der Eliten ginge, sogar gar nicht.
Brisant ist, dass die Pandemie genau diejenigen Faktoren verschärft, die zum Ausbruch des Massenaufstands im Oktober geführt haben: Schulschließungen und die Verlagerung des Unterrichts auf digitale Formate zeigen deutlich die digitale Lücke und die Chancenungleichheit im privaten und öffentlichen Bildungssystem. Das Gesundheitssystem ist stark fragmentiert und chronisch unterfinanziert. Trotz des vergleichsweise hohen Durchschnittseinkommens verfügt Chile über gerade einmal zwei Klinikbetten pro 1000 Einwohner.
Das kapitalgedeckte Rentensystem hat in der Corona-Krise Verluste in Höhe von 25 Milliarden US-Dollar gemacht; das wird insbesondere ältere Menschen treffen. Ein Drittel der Bevölkerung verfügt über keine formalen Arbeitsverhältnisse und ist der Krise ohne Absicherung ausgesetzt. Fast eine Million Menschen in Chile haben keinen hinreichenden Zugang zu Trinkwasser und können somit die notwendigen Hygieneregeln nicht einhalten. Besonders dramatisch bleibt die Situation derjenigen, die in Barackensiedlungen oder auf der Straße leben. „Sie brauchen keine polizeiliche Erlaubnis oder Passierscheine“, schrieb Luis Cordero Vega, Jura-Professor der Universidad de Chile, in seiner Kolumne „Die Unsichtbaren“ Mitte April in der Zeitung La Segunda, „denn sie existieren in den Anordnungen des sanitären Leviathans einfach nicht.“
Hinzu kommt, dass die chilenischen Oberschichten seit der Krise keinen Lernprozess durchlaufen haben: Corona-Partys in den Vierteln der Reichen, Missachtungen der Quarantänebestimmungen, um shoppen zu gehen oder die Wochenenden an den Zweitwohnsitzen am Meer zu verbringen, sind klare Anzeichen für die mangelnde Sensibilität gegenüber den Nöten der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. Dazu passt der Mitschnitt eines privaten Telefongesprächs der Präsidentengattin, der während des Oktober-Aufstands der Presse zugespielt wurde. Sie vergleicht hier die Demonstrationen mit der Invasion von Außerirdischen, so als sei das Problem von außen in die chilenische Gesellschaft hineingetragen worden.
Die Regierung Piñera versuchte monatelang hartnäckig, durch Fehlinformationen und Fake News die These vom mächtigen und gnadenlosen inneren Feind aufrechtzuhalten, der durch ausländische Mächte unterstützt werde. Die Kriegsmetaphorik des mächtigen Feindes hat der Präsident nun auch wieder im Kontext der sanitären Krise bemüht und sich in martialischer Heldenpose gemeinsam mit dem Gesundheitsminister auf einem Kriegsschiff ablichten lassen.
Laut einer Studie des Linguisten Federico Navarro und des Ökonomen Carlos Tromben, die das Politmagazin The Clinic Mitte April veröffentlichte, hat der Präsident den Satz vom „mächtigen und gnadenlosen Feind“, „der nichts und niemanden respektiert“, mindestens 14 Mal seit Amtsantritt benutzt. Hinterfragt wurde die Verschwörungstheorie lediglich von der kleinen Minderheit unabhängiger Medien wie Ciper, El Mostrador und El Desconcierto.
Geordneter Rückzug
Im Kontext der Corona-Krise kündigten Frauenbewegungen, Gewerkschaften, soziale Organisationen und Umweltbewegungen frühzeitig den geordneten Rückzug an. „Quédate en casa“ – „Bleib zu Hause“ und „Schütze die Anderen“ waren die zentralen Parolen seit Mitte März. Während die Regierung Piñera noch zögerte, drastische Maßnahmen anzuordnen, zog sich die organisierte Zivilgesellschaft in den privaten Bereich zurück. Das lähmte die Debatte über eine neue Verfassung. Gleichzeitig kam es zu einer kreativen Umgestaltung bisheriger Protestformen; die traditionelle Freitagsdemonstration wurde in die sozialen Netzwerke verlagert: Tausende Personen posteten ihre Erinnerungsfotos, Videos und andere Beiträge, die Veranstaltung war stundenlang trending topic auf Twitter.
Die Versuche der Regierung Piñera, die Corona-Krise zu nutzen, um das angeschlagene Image aufzubessern, zeitigen bisher mäßigen Erfolg. Die Mischung aus einer Verschärfung bereits bestehender sozialer Ungleichheiten und der Frivolität der Eliten ist ein gefährlicher Cocktail, der nach Corona zur Reaktivierung und Radikalisierung der sozialen Proteste führen könnte.
Und so wies der regionale Vertreter des Internationalen Währungsfonds Alejandro Werner in einem Interview mit dem Mercurio vom 17. April darauf hin, dass die positive IWF-Prognose für einen baldigen Wirtschaftsaufschwung Chiles auf der Annahme beruhe, dass man die soziale Krise bewältigen werde. Ein weiterer Aufschub des Plebiszits über den Oktober hinaus, wie von einigen Unternehmern bereits gefordert, könnte da das falsche Signal sein.
Dr. Ingrid Wehr ist Leiterin des Regionalbüros Cono Sur der Heinrich-Böll-Stiftung in Santiago de Chile.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2020, S. 116-119