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01. Nov. 2019

Der unermüdliche Europäer

Josep Borrell. Ein Porträt.

Ein starker Charakter, voller Entschlossenheit und Detailkenntnis: Josep Borrell, der neue Außenbeauftragte der Europäischen Union, ist ein beeindruckender Mann. Er wird kämpfen, um die EU zu einem Schwergewicht auf der Weltbühne zu machen.

Das Leben von Josep Borrell Fontelles, dem nächsten Hohen Vertreter der Europäischen Union für Außenpolitik und Vizepräsidenten der EU-Kommission, ist ebenso außergewöhnlich wie der Mann selbst.

Borrell wurde 1947 als Sohn eines Bäckers in der kleinen Stadt La Pobla de Segur in den katalanischen Pyrenäen nahe Andorra geboren. Mit gerade einmal 22 Jahren schloss er seine Ausbildung als Luftfahrtingenieur ab; mit 25 machte er einen zweiten Bachelor-Abschluss, diesmal in Volkswirtschaft an der Madrider Universidad Complutense, sowie einen Master in Erdölwirtschaft- und -technologie am Institut Français du Pétrole in Paris. Mit 28 folgte ein Master in angewandter Mathematik von der Universität Stanford; mit 29 promovierte er. Im Alter von 35 Jahren war Josep Borrell ordentlicher Professor für Volkswirtschaft an der Madrider Complutense.

Dann wandte sich Borrell der Politik zu. Mit 37 Jahren wurde er Staatssekretär im Finanzministerium, mit 44 Minister für das öffentliche Bauwesen und Umwelt in der Regierung des Sozialisten Felipe González. Präsident des Europäischen Parlaments wurde Borrell mit 57; Präsident des Europäischen Hochschulinstituts mit 63. Dann kehrte er in die spanische Politik zurück und wurde Außenminister unter Pedro Sánchez. Im Alter von 72 Jahren soll er nun Chefdiplomat für 500 Millionen Europäer werden und eine Behörde mit 4000 Beamten führen – ein großer Schritt, selbst für einen so brillanten Kopf.

Zu Borrells wichtigsten Eigenschaften zählt seine Intensität. Seine Energie und seine Zielstrebigkeit haben ihm große Erfolge eingebracht. So war er für die Modernisierung des spanischen Steuersystems verantwortlich, einschließlich der Einführung der Mehrwertsteuer, die nach dem EU-Beitritt Spaniens Mitte der 1980er Jahre für die Finanzierung des Sozialsystems gebraucht wurde. Keine kleine Leistung.

 

Ein Einzelgänger

Allerdings haben Borrell sein ausgeprägter Charakter und sein gelegentlicher Jähzorn immer wieder geschadet. In seinem tiefsten Inneren ist Borrell Mathematiker, und zwar ein außergewöhnlicher. Es gab nicht viele Spanier, die noch zu Zeiten der Franco-Diktatur ein Fulbright-Stipendium verliehen bekamen, um in Stanford zu studieren. Ihm gelang es. Dieselbe überragende mathematische Denkfähigkeit erlaubt es ihm, auf kartesianische Weise an Probleme heranzugehen.

Sie führt aber auch dazu, dass er sehr leicht die Geduld verliert, wenn etwas nicht klappt. Das zeigt sich an seinem Lieblings­hobby, dem Wandern: Als jemand, der im Gebirge aufgewachsen ist, schaut Borrell, wo immer er ist, sofort nach dem höchsten Berggipfel, der zu erklimmen ist.

Beim Wandern geht es nicht so sehr um die Gruppe, sondern um die Leistung des Einzelnen – und auch das passt zu Borrell. Er ist eher Alleingänger als Mannschaftsspieler. Sein Intellekt reagiert in gewisser Weise allergisch auf soziale Konventionen. In einem Land von Fußballbesessenen ist er jemand, der diesen Sport nicht mag. Er hasst auch das Netzwerken (und vielleicht ist das der Grund, warum er nie Vorsitzender der sozialistischen Partei PSOE wurde, obwohl er 1998 die Basis hinter sich hatte und nah dran war). Das heißt aber nicht, dass er kein wohlgefülltes Adressbüchlein hat. Und auch nach seinem Ausscheiden aus einer Position rufen ihn die Leute an, um nach Rat und Ideen zu fragen. Das zeigt, wie sehr Borrell ein starker Charakter und unabhängiger Denker ist.

Vor Kurzem sagte mir ein hochrangiger Beamter des deutschen Auswärtigen Amtes, Borrell werde großen Mut brauchen. Er müsse helfen, die Europäer im Inneren zu vereinen (angefangen mit der von Ursula von der Leyen geführten EU-Kommission) und europäische Macht nach außen zur Geltung bringen. Wenn es um Mut geht – Borrell hat ihn im Übermaß. Als Liebhaber von Rafting und anderen extremen Gebirgssportarten scheut er keinen Kampf, wenn er überzeugt ist, auf der Seite des Guten zu stehen.

Borrells Mitarbeiter betonen, welch hohe Ansprüche er stelle, auch an sich selbst. Er benimmt sich fast wie ein Workaholic, wenn er sich in alle Details eines Falles einarbeitet und versucht, die Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Borrell ist ein kritischer Denker und stets auf der Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten. Vor allem aber ist er aufrichtig. Dummheit ist ihm ein Gräuel. Er sagt, was er denkt und will. Das führt dazu, dass er manchmal schon zu direkt wirkt. Es verleiht ihm aber auch den Mut, offensichtliches Fehlverhalten zu kritisieren.

Im Jahr 2006, als Borrell Präsident des Europäischen Parlaments war, sagte er bei einem Gipfel­treffen im finnischen Lahti dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ins Gesicht, dieser verletze die Menschenrechte. 2010, als er inmitten der Euro-Krise Präsident des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz wurde, wagte er es, der Professorenschaft zu sagen, sie sollte von ihrem Elfenbeinturm herunterkommen und stärker politik­orientiert forschen. Dies führte zu positiven Veränderungen wie der Einführung der inzwischen fest etablierten „State of the Union“-Konferenz, der Gründung des Zentrums für Migrationspolitik und des Programms für Globale Regierungsführung.

Das Engagement brachte Borrell allerdings auch in einen Interessenskonflikt – er war Mitglied im Aufsichtsrat des Energieunternehmens Abengoa – und führte schließlich zu seinem Rücktritt. Das war auch nicht das letzte Mal, dass die Tätigkeit bei Abengoa Borrell Kopfschmerzen verursachte. 2015 verkaufte er aufgrund von Insiderwissen Aktien im Wert von 9000 Euro, die seiner Frau gehört hatten. Dafür musste er eine Strafe zahlen. Doch alles in allem ist es offenkundig, dass Borrell seine Macht nie genutzt hat, um reich zu werden. Seine asketische Lebensführung beweist das.

Katalane, Spanier, Europäer

Die schärfste Auseinandersetzung seines politischen Lebens hat Borrell mit den katalanischen Separatisten geführt. Borrell ist so sehr Kind der französischen Staatskultur, dass er nahezu als Jakobiner gilt.

Er hat nie verstanden, warum so viele seiner katalanischen Mitbürger von der Schaffung eines unabhängigen Staates besessen sind. Borrell ist stolz, Katalane zu sein, er spricht katalanisch, aber den katalanischen Nationalismus hat er schon immer gehasst; jede Form von ethnisch geprägtem Nationalismus lehnt er ab.

Borrells Weltoffenheit – als junger Student arbeitete er auf einem Bauernhof in Dänemark und auf dem Bau in Deutschland; er verbrachte sogar einige Zeit in einem israelischen Kibbutz – wird ihm in seiner Arbeit als Hoher Vertreter der EU sehr nützlich sein.

In den nächsten fünf Jahren wird ein großer Teil von Borrells Aufmerksamkeit ohne Zweifel den Problemen im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika gelten, einschließlich Themen wie Migration und Iran. Die Zukunft Afrikas wird ebenfalls eine große Rolle spielen.

Aber Borrell, der Bergwanderer, braucht höhere Gipfel. Einer von ihnen ist durch die Frage definiert, wie Europa der chinesischen Herausforderung begegnen kann. Aus strategischer Sicht könnte dies das prägende Thema seiner Amtszeit sein. Und hier, davon ist er überzeugt, kommt man nur durch Einbindung und Kooperation voran. Borrell wird sich von seinen Vorgängern unterscheiden. Er wird nicht versuchen, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Wenn er einmal gründlich über ein Problem nachgedacht hat, wird er seine Sicht erläutern und mit dem Ziel verhandeln, einen Konsens in seinem Sinne herbeizuführen.

Borrell ist entschlossen, die EU zu einem Schwergewicht in den internationalen Beziehungen zu machen und die G2 aus den USA und China um Europa zur G3 von morgen zu erweitern. Seine große Erfahrung und seine Entschlossenheit sind dabei ­seine größten Trümpfe.

 

Dr. Miguel Otero-Iglesias ist Senior Analyst für internationale politische Ökonomie am ­Königlichen Institut Elcano und Professor an der IE School of Global and Public Affairs in Madrid.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2019, S. 9-11

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