Interview

01. Mai 2020

„Die Pandemie legt die Schwächen neoliberaler Gesellschaften offen“

Ein Gespräch mit Richard Sennett

Über die Folgen von Corona für Zusammenleben und Städte, Arbeit und Architektur – und einen „psychotischen“ US-Präsidenten.

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Bild: Richard Sennett
Richard Sennett ist amerikanisch-britischer Soziologe und einer der wichtigsten Theoretiker städtischen Lebens. Hauptthemen sind die Individualisierung und Fragilität der Gesellschaft sowie ihre Wechselwirkungen mit der Ausübung von Herrschaft. Sennett lehrt an der New York University und der London School of Economics.
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IP: Wie viel Sorge müssen wir haben, dass Regierungen die Pandemie ausnutzen könnten? Wird der Ausnahmezustand nach diesem Frühjahr anhalten?

Richard Sennett: Es gibt wirklich Grund zur Sorge. Was wir jetzt erleben, könnte die neue Normalität sein und noch sehr lange anhalten. Ich kann mich an eine ähnliche Situation erinnern: Nach den Terroranschlägen vom 11. September in New York mussten beim Bau neuer Gebäude besondere Bedingungen eingehalten werden. Die ersten acht Stockwerke mussten bombensicher gemacht werden. Somit wurde das, was am 11. September geschah, Teil der neuen Normalität. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis solche Verordnungen wieder geändert wurden. Im weitesten Sinne ist dies das, was Giorgio Agamben in „Homo sacer“ beschreibt: Eine Krise führt dazu, dass der Staat massive Kontrollmaßnahmen ergreift, die dann die Krise überleben. So könnten etwa Stadtplaner längerfristig von solchen Maßnahmen betroffen sein. Nicht nur die Versammlungsfreiheit auf öffentlichen Plätzen könnte eingeschränkt werden, es könnte auch Verordnungen geben, die nur noch das Errichten von kleineren öffentlichen Plätzen zulassen, auch nach der Krise.

Mächtige Akteure können Krisen ausnutzen, um ihre Kontrolle auszuweiten, wie wir es beispielsweise in China, Russland oder Ungarn sehen. Wie sieht es mit der Freiheit im öffentlichen Raum aus? Steht uns mehr Überwachung, mehr Kontrolle bevor? Auch in der EU?

Nicht im gleichen Maße, nein. In den USA kann ich mir das allerdings vorstellen. Dort haben wir Vergleichbares bereits gesehen, man kann dort mit solchen Dingen nicht besonders gut umgehen. Es ist ein Klischee, dass die USA ein individualistisches Land sind. Es ist in Wirklichkeit ein ziemlich repressives Land, wenn es mit einer Krise umgehen muss.

Wie sieht es in Großbritannien aus?

Zum einen wird aufgrund der Pandemie wieder viel über den Brexit gesprochen. Viele Maßnahmen müssen eigentlich von der EU als Ganzes getroffen werden. Vielen Leuten scheint langsam klar zu werden, dass sie beim Brexit getäuscht wurden. Schauen Sie sich nur die grundlegenden Probleme an, die die Briten jetzt haben, dass sie zum Beispiel nicht mehr so leicht durch die Flughafensicherheit kommen. Ein anderes Beispiel ist der Klimaschutz. Das Vereinigte Königreich hat sich die Chance genommen, an einigen wirklich guten Ansätzen der EU im Kampf gegen den Klimawandel mitzuwirken. Viele Briten merken, dass ihre Regierung keine Idee hat, was sie nun „Britisches“ machen kann. Es ist sinnlos! Deshalb frage ich mich wirklich, ob jetzt nicht der perfekte Zeitpunkt dafür ist, sich zu fragen, wie zum Teufel man diesen katastrophalen Fehler wieder rückgängig machen kann. Es ist nichts weiter als eine nationalistische, selbst zugefügte Wunde. Aber Großbritannien ist nicht die USA oder Brasilien. Es mag zwar einigermaßen nationalistisch sein, aber es hat keine solchen Bevölkerungsgruppen wie in Amerika, die tatsächlich glauben, der Klimawandel sei eine Verschwörung der Universität Harvard.

Was hat das mit der Pandemie zu tun?

Viele der Strategien im Umgang mit dem Klimawandel, die die UN verfolgen – wo ich gerade arbeite –, beschäftigen sich damit, Städte zu verdichten. Diese Strategien stehen in einem Gegensatz zu der Tatsache, dass dies nun für die allgemeine Gesundheit nicht mehr der richtige Ansatz ist. Ich denke zwar nicht, dass die Lösung darin liegt, Städte so zu errichten, dass es keine Menschenansammlungen mehr gibt. Wir müssen einen anderen Weg finden, um die Verdichtung in Städten zu erhöhen und gleichzeitig zu wissen, dass dies nicht die letzte Pandemie gewesen sein wird.

Es braucht also neue urbane Konzepte für Gemeinschaft und Architektur?

Genau. Damit müssen sich Forschung und Politik befassen. Wie kann man eine gesunde Verdichtung schaffen? Für uns ist offensichtlich, dass das New Yorker Modell mit sehr hohen Gebäuden und nur wenigen Aufzügen zu mehr Ansteckungen führt. Dies könnte das Aus für Le Corbusiers Traum von einer Stadt der Türme bedeuten. Eine gewisse Verdichtung ist dennoch notwendig, es ist ja quasi das Grundprinzip von Städten. Man will einen Agglomerationseffekt haben, und dafür sind Ballungsgebiete wünschenswert. Auch sozial ist es sinnvoll, wenn man auf engem Raum auf Leute trifft, mit denen man sonst nichts zu tun hätte.

Kann das bisherige Modell nicht modifiziert werden?

Wir müssen den richtigen Weg finden. Vielleicht ist Blockbebauung wie in Berlin die Lösung. Eine Idee für Paris, wo sehr viele Menschen auf engem Raum leben, sind sogenannte „15-Minuten-Städte“: so zu wohnen, dass man nur 15 Minuten zu Fuß zur Arbeit braucht. Mitarbeiter der Regierung würden dann dafür bezahlt werden, möglichst nah an den Ministerien zu wohnen und nicht mehr über weite Entfernungen zu pendeln. Vielleicht würde so etwas auch in Berlin funktionieren. Die Frage ist nur, ob man die Synergien einer Großstadt erreicht, wenn alles fußläufig erreichbar sein muss. Und was würde das für Städte in Entwicklungs- oder Schwellenländern bedeuten, Mexico City beispielsweise? Müssten dann auch Fabrikarbeiter zu ihrer Arbeitsstelle laufen können? Das sind also eher langfristige Ansätze.

Zurück zur aktuellen Situation. Wie sehen Sie die Rolle der Medien?

Ich ärgere mich über die Art und Weise, wie mit dieser Pandemie umgegangen wird, diese Panik und Weltuntergangsstimmung. Die Menschheit wird das Ganze schon überleben …

Wird „Social Distancing“, von der Regierung angeordnet, zur neuen Normalität? Was hat das für Konsequenzen für ältere, alleinlebende Menschen?

Das sind zwei verschiedene Fragen. Wenn Distanz die neue Normalität wird, müsste ein Großteil des öffentlichen Nahverkehrs eingestellt werden. Das wird nicht passieren, und das ist nur ein Beispiel. Ganz grundsätzlich ist es ein handwerkliches Problem zu denken, dass ein Werkzeug für alle Zwecke nützlich ist. „Social Distancing“ ist ein Werkzeug, das momentan nützlich ist. Aber wenn das Abstandhalten zu einer umfassenden Strategie wird, drängt man die Menschen wieder zurück in ihr eigenes Fahrzeug und verschärft die Klimakrise. Das kann nicht die Lösung sein. Für Politiker ist es sehr attraktiv zu denken: „Das ist das Problem, und das hier ist die Lösung.“ Aber „Social Distancing“ kann nicht dauerhaft sein.

Und was ist mit den älteren Menschen?

Aus demografischer Sicht sind Zentraleuropa und die angelsächsische Welt sehr unterschiedlich. Mein Eindruck ist, dass es in Deutschland viel mehr generationsübergreifende soziale Kontakte gibt. In Großbritannien und den USA ist es dagegen so, dass ab einem Alter von 65 auch der Kontakt zur eigenen Familie rapide abnimmt; dort ist man sehr stark auf das Hier und Jetzt, auf die aktuelle Kernfamilie fokussiert. Die älteren Menschen gehen dabei verloren. Momentan wirft die Notwendigkeit von sozialer Isolation grundlegende Fragen über die Schwächen unserer Zivilgesellschaft auf. Die Pandemie legt die Schwächen unserer neoliberalen Gesellschaften offen. Die USA, Großbritannien, Australien: Diese Länder haben stark neoliberale Gesellschaften, die sich untereinander im Falle einer Krise nicht helfen, und deren Gesundheitssysteme katastrophal sind, da sie privatisiert wurden. Wir sehen allmählich die großen Schwächen, die sich unter der Oberfläche solch starker Staaten verbergen.

Warum protestieren Bürger und ganze Gesellschaften nicht laut gegen fundamentale Eingriffe in ihre Grundrechte?

Ich glaube, dass in neoliberalen Staaten und in schwachen Zivilgesellschaften einfach niemand wegen der Einschränkung von Grundrechten auf die Straße gehen würde. Für sie hat die Pandemie nichts damit zu tun. Wenn man solch individualisierte Gesellschaften hat, sind schwache zivilgesellschaftliche Bindungen normal. Es gibt keine Grundlage für Proteste. Ich glaube aber nicht, dass diese Entwicklung schon am Ende ist, insbesondere in den USA. Donald Trump ist psychotisch. In den ersten Wochen der Krise war er komplett in einer Fantasiewelt. Wenn klar ist, wie viele Menschen wegen seiner am Anfang gemachten Fehler gestorben sind, werden wir sehen, was passiert. Aber seine Basis will die Fantasien glauben, die Trump präsentiert. Warten wir ab.

Die Entwicklung der USA in den vergangenen Jahren ist immer noch schwer nachzuvollziehen.

Es gab schon immer diesen aggressiven, destruktiven Individualismus – und eine Art Glaube an kollektive Fantasien. Erst die beiden Weltkriege haben das Land realistischer werden lassen. Aber ich als Amerikaner sehe das sozusagen im genetischen Code dieses Landes.

Trump ist eine sehr amerikanische Figur …

Ja, und auch seine Verrücktheit ist sehr amerikanisch. Es geht nur um eines: „Ich muss mich nicht um irgendjemanden außer mich selbst kümmern, das sind nicht meine Probleme, also warum sollte ich mich um dich kümmern?“ Nun werden die soziologischen Folgen der Pandemie zum Lackmustest des kränkelnden Neoliberalismus.

Zurück zum Thema Überwachung und Gesellschaften und zum Thema Technologie. Bei Hightech geht es ja nicht nur um Überwachung. Könnte die Pandemie dazu führen, dass die Nutzung von Hightech in Städten humanisiert wird?

Ich denke schon. Auch die Überwachungsvorrichtungen könnten humanisiert werden. Technologie ist grundsätzlich neutral, ein Werkzeug. Man kann es gut oder schlecht einsetzen. Und natürlich teilen Menschen heute viel mehr Informationen online untereinander, sie sind viel sozialer, und das ist auch gut so. Eine Sache bereitet mir allerdings Sorgen, und zwar der Zusammenhang zwischen Veränderungen in der Arbeitswelt durch die Pandemie und sozialer Ungleichheit. Es wird eine Art Spaltung in der Arbeitswelt geben. Von zu Hause arbeiten werden vor allem Menschen mit Jobs der Mittelklasse, die durch ihre elektronische Arbeit unabhängiger sind. Wenn du im Krankenhaus oder als Müllmann arbeitest, ist das Konzept vom Homeoffice für dich bedeutungslos. Du musst für deine Arbeit anderen Menschen direkt gegenüberstehen. Und das beunruhigt mich. Wenn es einen Langzeiteffekt geben wird und noch mehr Arbeit künftig autonom von zu Hause erledigt werden kann, verschärft das die Spaltungen zwischen Arbeiterklasse, Dienstleistungssektor und der Bourgeoisie. Das wird ein großes Experiment werden. Wir werden sehen, ob das funktioniert. Die Antwort ist irgendwo dort draußen. Nichts ist mehr garantiert.



Das Interview führte Martin Bialecki; Übersetzung aus dem Englischen: Melina Lorenz.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2020, S. 46-49

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