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01. Juli 2006

Die Nachbarschaftspolitik der EU

Ein Konzept ohne ausreichende Instrumente

Nach ihrer Erweiterung im Jahr 2004 hat die EU mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) ein Konzept entworfen, mit dem die Beziehungen zu ihrer Nachbarschaft – insbesondere zu jenen Staaten ohne Beitrittsperspektive – neu gestaltet werden sollen. Mit diesem anspruchsvollen Konzept versucht sie, ihre Nachbarn näher an sich zu binden und gleichzeitig ihren Binnenraum vor Gefahren und Risiken, die von diesen Staaten ausgehen können, zu schützen. Auf der einen Seite steht die Unterstützung demokratischer und wirtschaftlicher Reformprozesse. Hier geht es der EU darum, die Nachbarstaaten zu verpflichten, die ihr eigenen identitätsstiftenden Werte sowie die Normen und Regeln des Acquis Communautaire zu übernehmen. Auf der anderen Seite steht das Bemühen der EU, organisierte Kriminalität, Migrationsströme oder Terrorismus von sich fern zu halten. Kurz, sie versucht ihre Nachbarschaft zu verändern und trotzdem Abstand zu ihr zu wahren.

Kann ihr dieses Kunststück gelingen? Ist die ENP ein stimmiges Konzept und genügen die zur Verfügung stehenden Mittel, um die gesteckten Ziele zu erreichen? Der von Martin Koopmann und Christian Lequesne herausgegebene Sammelband „Partner oder Beitrittskandidaten? Die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union auf dem Prüfstand“ diskutiert diese Fragen anhand von Länderanalysen und ausgewählten Problemfeldern. Insgesamt überwiegt bei den Autoren und Autorinnen des Bandes die Skepsis. Die Ziele der ENP werden zwar kaum in Frage gestellt, um so mehr jedoch die Strategien zu ihrer Umsetzung und die Instrumente, die die EU zur Erreichung der gesetzten Ziele vorsieht. Am grundsätzlichsten wird die Konzeption der ENP in dem Beitrag von Dov Lynch zum Verhältnis der Nachbarschaftspolitik zur GASP kritisiert. Die ENP enthält seiner Einschätzung nach grundsätzliche Konstruktionsfehler, da sie gegenüber den Nachbarstaaten von derselben Logik ausgehe wie gegenüber den ehemaligen Erweiterungskandidaten. Sie sei zu ambitiös, da sie die Umwandlung der Nachbarstaaten fordere, und sie versäume es, die Entwicklung einer EU-Außenpolitik ohne Beitrittsperspektive – ein umfassendes Engagement zugunsten von Stabilität – voranzutreiben.

Martin Koopmann hält hingegen eine Modifikation des ENP-Ansatzes für ausreichend. Den Versuch der EU, mittels der ENP eine einheitliche und kohärente Politik für die gesamte Nachbarschaft der EU zu schaffen und hierzu die politischen Instrumente aus allen drei Säulen zusammenzuführen, beurteilt er als zumindest partiell innovativ. Funktionale Kooperationen, eingebettet in eine Multilateralisierung der ENP und eine Stärkung des regionalen Ansatzes, die Schaffung von Möglichkeiten für die Nachbarn, autonom diejenigen Politikbereiche auszuwählen, in denen sie eine engere Zusammenarbeit mit der EU wünschen, würde die Europäische Nachbarschaftspolitik in seinen Augen zu einem wirksamen Instrument der Gestaltung der EUAußenbeziehungen in ihrem unmittelbaren Umfeld machen.

Das Problem der Übernahme von Pflichten durch die Nachbarstaaten ohne Beitrittsperspektive, von nahezu allen Autoren als das grundlegende Problem der Wirksamkeit der ENP identifiziert, könnte so zumindest teilweise entschärft werden. Andrea Gawrich zeigt am Beispiel der Ukraine das konzeptionelle Problem der ENP auf, einseitige Forderungen zu stellen, im Gegenzug aber nur begrenzte Integrationsleistungen anzubieten. Nicht weniger schwierig gestalten sich die Beziehungen zu Russland und den nordafrikanischen Staaten. Russland hat auf Sonderbeziehungen zur EU bestanden und sieht allein eine interessenbasierte Kooperation mit der EU als erstrebenswert an. Der Transfer von EUNormen wird hingegen abgelehnt.

Anne de Tinguy kommt in ihrem Beitrag zur russischen Sicht auf die ENP zu der Einschätzung, dass die Ergebnisse der bisherigen Kooperation insgesamt nicht den Erwartungen entsprechen: Der Rahmen der gemeinsamen vier Räume hat es der EU und Russland nicht ermöglicht, einen wirklich konstruktiven Dialog herzustellen. Dorothée Schmid zufolge ist die Ausdehnung der vier Freiheiten auf die südlichen ENP-Staaten wenig realistisch. Der in der ENP enthaltene Bilateralismus fördere darüber hinaus ungleiche Entwicklungen in diesem Raum und erhöhe die Gefahr der Entfernung einzelner Staaten von der Europäischen Union.

Wendet man den Blick von einzelnen Nachbarstaaten auf die Politikbereiche, die durch die ENP bevorzugt bearbeitet werden sollen, hellt sich das Bild kaum auf. Die Beschleunigung und Reform der Energienetze in den Nachbarstaaten ist angesichts mangelnder Gegenleistungen der EU bisher bescheiden ausgefallen (Gilles Lepesant). Im Bereich der Migrationspolitik bietet die EU im Gegenzug zur Unterzeichnung von Rückführungsabkommen oder Verbesserung des Grenzschutzes lediglich die unkonkrete Aussicht auf Visaerleichterungen. Steffen Angenendt zeigt, dass die Kontrolle der Außengrenzen und der Abschluss von Rückführungsabkommen Priorität in der Nachbarschaftspolitik haben. Dass angesichts der erheblichen Interessenunterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten keine gemeinsame Einwanderungspolitik existiert, ist kaum verwunderlich. Die Folge hiervon jedoch ist, dass statt umfassender Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten bei Migrationsfragen vornehmlich die restriktiven Aspekte konkretisiert werden.

Der restriktive Schutz der Außengrenzen hat, so dokumentiert Piotr Zalewski in seinem Beitrag zum Schengen-Übereinkommen und der östlichen Grenze der EU, bereits eine Reihe nichtintendierter Folgen nach sich gezogen. So ist es beispielsweise durch den Rückgang des regionalen grenzüberschreitenden Handels zu einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit und zu einem teilweise erheblichen Rückgang des kleinen Grenzverkehrs entlang der polnisch-ukrainischen Grenze gekommen. Neue Trennlinien, die durch die ENP vermieden werden sollten, sind also zumindest in diesem Bereich bereits gezogen worden. Das von Jiří Šedivý propagierte „Brückenkonzept“, das den neuen Mitgliedsstaaten im Osten eine besondere integrative Funktion zuweist, wirkt angesichts dieser Fakten ein wenig verloren.

Bescheidener Mehrwert durch die ENP also? Die EU fordert viel von ihren Nachbarstaaten, verspricht im Gegenzug aber nur wenig. Für die meisten Autoren und Autorinnen des Bandes ist dieses konzeptionelle Dilemma nicht aufzulösen. Dabei zieht die Nachbarschaftspolitik, wie Martin Koopmann und Christian Lequesne in ihrem Einleitungsbeitrag schreiben, die Frage des Beitritts zwangsläufig nach sich. Eine Beitrittsperspektive für jene Nachbarstaaten, die dies wollen, würde der EU in der Tat den Hebel zur Lösung vieler der aufgezeigten Probleme verschaffen.

Martin Koopmann/Christian Lequesne (Hrsg.): Partner oder Beitrittskandidaten? Die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union auf dem Prüfstand. Nomos, Baden-Baden 2006. 226 Seiten, € 29,00.

Dr. Martin Kahl, geb. 1958, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 131-133

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