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01. Dez. 2005

Die mit dem Riesen tanzen

Wie Europa Chinas Aufstieg angemessen bewältigen kann

Vom Aufschwung Chinas wollten Experten sich lange nicht blenden lassen. Man sah hinter die Kulissen und erblickte auch Mängel. Dennoch ist ein Ende des Wachstums nicht abzusehen. China meistert die Gefahren einer rasanten Entwicklung und erringt größtes Gewicht auf der internationalen Bühne. Höchste Zeit für die Europäer, China zur Priorität zu erklären und eine gemeinsame Politik zu formulieren.

Chinas Aufstieg kam nur für jene überraschend, die das Land kannten und daher glaubten, es auch gut zu kennen. Seit fast drei Jahrzehnten gibt es deutliche Indizien: Ein enormes Wirtschaftswachstum, gewaltige öffentliche Infrastrukturmaßnahmen, ein riesiger Zustrom ausländischer Investitionen und Technologien, ein wachsender Anteil am Welthandel und die zweitgrößte Devisenreserve der Welt sind die Faktoren, die China zu einem Hauptakteur im Welthandel avancieren ließen. Vom Bauboom beeindruckte Staatsgäste, Geschäftsleute auf der Suche nach neuen Märkten, Finanzunternehmen, die von Chinas riesigen Kapitalreserven zu profitieren hofften, glaubten alle an eine rosige Zukunft des Landes – ganz offensichtlich zu Recht.

China-Kenner aber blieben skeptisch und vermuteten, dass weder der Konjunkturaufschwung lange anhalten noch Chinas politisches und soziales System sich grundlegend verändern würde. Mit dem Phänomen plötzlicher und radikaler Richtungsänderungen waren alle vertraut, die die Wirren des Großen Sprunges und der Kulturrevolution verfolgt hatten. Immer wieder erwies sich die chinesische Führung als ihr eigener größter Feind. Während des ersten Jahrzehnts wirtschaftlicher Reformen in China (1978–1988) waren wirtschaftliche und politische Schwankungen, unvollständige Reformen und die üblichen Hindernisse zu beobachten, die ein ebenso mächtiger wie in sich zerrissener bürokratischer Apparat einer solch rasanten Entwicklung in den Weg legen kann. Chinas Schwächen waren zahlreich: ein riesiges Herr gering qualifizierter Arbeitskräfte, das Erbe des Kollektivismus mit der üblichen Ressourcenverschwendung und Umweltverschmutzung und ein staatliches Finanzsystem, das private Spareinlagen zugunsten ineffizienter staatlicher Betriebe schröpfte. Auf eine Liberalisierung des Arbeitsmarkts war man nicht vorbereitet. Das sozialistische System schuf kein übergreifendes Renten- oder Versicherungssystem neben den Absicherungen einzelner Staatsbetriebe. 90 Prozent der Bevölkerung stehen nur eine unzureichende Gesundheitsversorgung und mangelnde Ausbildungsmöglichkeiten zur Verfügung.

Ein Aufschwung ohne Beispiel

Während der Asien-Krise 1997/98 blieb China das Schlimmste erspart. Das war jedoch hauptsächlich seinem verspäteten Übergang zur Liberalisierung, insbesondere im Währungs- und  Finanzsektor, und seiner weitgehenden Abschottung vom Weltmarkt zu verdanken. China bewältigte die Krise und behielt 1998 bis 2000 eine hohe nominale Wachstumsrate bei –  jedoch nicht wegen besonders rascher Reformen, sondern durch erhöhte Staatsausgaben zugunsten öffentlicher Investitionen; weil staatliche Firmen bei Exporten Preisdumping betrieben und weil die riesigen privaten Ersparnisse nirgendwo sonst ausgegeben werden konnten. Dieses Ungleichgewicht und der Schuldenüberhang im Staats- und Finanzsektor sind seither nicht ernsthaft korrigiert worden. Auch wächst die Kluft zwischen Arm und Reich durch die schnellen wirtschaftlichen Veränderungen. Die Furcht vor sozialen Verwerfungen und gesellschaftlichem Chaos löste frühere Schreckgespenster ab: Ruin der Landwirtschaft und Umweltzerstörung (frühe achtziger Jahre), Hyperinflation (Mitte der Achtziger), regionale Entwurzelung (späte Achtziger), das Aufkommen uneinlösbarer Schuldenforderungen (Mitte der Neunziger) sowie Deflation und das Verfehlen der WTO-Vorgaben (Ende der neunziger Jahre) wurden jeweils für Chinas ausbleibenden Aufschwung verantwortlich gemacht. Trotz aller möglichen Prognosen zeigte die chinesische Führung eine ungeheure Anpassungsfähigkeit, konnte Veränderungen forcieren und gleichzeitig eines unverändert beibehalten: ihre Autorität. In den späten neunziger Jahren war der chinesische Außenhandel ungefähr gleichauf mit dem spanischen. Heute liegt sein Volumen zwischen dem Frankreichs und Deutschlands – mit steigender Tendenz.

Über die „Mängel“ des chinesischen Wachstums in den letzten Jahrzehnten ließe sich lange philosophieren. Die Produktivität in der Landwirtschaft blieb niedrig und stieg vor allem in den Bereichen, in denen ausländische Technologien zum Einsatz kamen. Einen Großteil des Außenhandels betreiben eher ausländische als chinesische Firmen, insbesondere den dreiseitigen Outsourcing-Prozess, bei dem asiatische Betriebe, chinesische Monteure und westliche Großabnehmer zusammenwirkten. Engpässe beschränkten den Investitionsfluss auf die Küsten- und einige wenige Inlandsregionen, so dass die Chinesen schließlich doch einen zuvor heftig abgelehnten Bebauungsplan nach westlichem Muster vorlegten, um dieses Ungleichgewicht zu beheben. Die neuen chinesischen Aktienmärkte waren sowohl überreguliert als auch unzureichend überwacht und Insiderhandel eher die Regel als Ausnahme. Der Aufschwung in der Baubranche war durch Spekulation geprägt und damit einer der Hauptgründe für die gigantische Investitionsrate Chinas – zum jetzigen Zeitpunkt nahezu 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Schließlich erregte der Raubbau an natürlichen Ressourcen und der enorme Energieverbrauch durch Chinas Hyperwachstum in den vergangenen Jahren weltweite Besorgnis, da China für Preissteigerungen und Verknappung von Rohstoffen wie Öl, Stahl und Aluminium sowie für die Verteuerung globaler Frachtschifffahrt verantwortlich ist. Mitte der neunziger Jahre war die Finanzkrise in Asien einer der Hauptgründe für die globale Deflation dieser Preise, die zur Verlängerung des amerikanischen Wirtschaftsaufschwungs beitrug und die Anpassungskosten für europäische Volkswirtschaften senkte. Zehn Jahre später ist China ein Inflationsfaktor, der die weltweiten Zinssätze plötzlich empor schnellen lassen und das Wachstum der entwickelten westlichen Volkswirtschaften hemmen könnte. Eigentlich müssten die für alle steigenden Energie- und Materialpreise proportional eher den auf dem Gebiet der Energie und Ressourcen am wenigsten leistungsfähigen Volkswirtschaften schaden – dazu gehört zweifellos China. Dennoch hat all dies Chinas Wachstum nicht geschadet.

Chinesische Experten formulieren seit längerem eine Art „Theorie des letzten Atemzugs“ von Hyperwachstum und zunehmendem Exportstrom. Die chinesische Parteileitung propagiert seit beinahe fünf Jahren eine „weiche Landung“ bzw. ein „Abkühlen des Fiebers“. Sie fürchtet tatsächlich die Konsequenzen übermäßiger Investitionen und Anleihen, will aber auch beweisen, dass Chinas Wachstumsprozess so verheerend schon nicht sein wird. Dies hat den beinahe komischen Effekt, dass das Wachstum jedes Jahr (auch 2005) größer ist als die Regierung es prognostiziert hat. Ministerpräsident Wen Jiabao sagte zu Jahresbeginn ein Exportwachstum von höchstens 15 Prozent voraus,1 das nun 35 Prozent überschreiten wird. Auch das Bruttoinlandsprodukt wuchs wieder, obwohl viele glaubten, es würde unter dem Gewicht des überschätzten Leistungsvermögens und der Ressourceninflation kollabieren.

Die Unterschätzung der eigenen Wirtschaft ist gewiss keine Tradition aus der Mao-Ära, die eher für ihre Übertreibungen bekannt war. Sie ist jedoch integraler Bestandteil eines Übergangsprozesses, der sich sehr genau an der Maxime Deng Xiaopings des „tao guang yang hui“ orientiert: das eigene Licht unter den Scheffel stellen und damit Zeit gewinnen. 1978 noch war es so gut wie unmöglich, das chinesische Bruttoinlandsprodukt genau zu beziffern. Die chinesischen Behörden gaben damals eine per capita bemessene Zahl an, die nur einen Dollar über der Indiens lag; so konnte man im Ausland effektiver um Darlehen und öffentliche Entwicklungshilfe bitten. Dass Weltbank und IMF seit 1991 nach der Kaufkraftparität messen und der Schätzwert des chinesischen BIP damit verdreifacht wurde, erfreut chinesische Experten wenig. Der Grund ist einfach: Die Einstufung als Entwicklungsland (was für viele Teile des Hinterlands, aber nicht mehr für das gesamte Land zutrifft) ist ein wichtiger Punkt in der internationalen Strategie Chinas.

Ein anderer Aspekt, der integraler Bestandteil der Funktionsweise von Volkswirtschaften in der globalisierten Welt ist und an die falschen Voraussagen für die amerikanische Wirtschaft seit den frühen neunziger Jahren erinnert, kam hinzu: Diverse in- und ausländische Saldi annullierten oder korrigierten sich oft gegenseitig, und dies führte, unterstützt von einem schwerfälligen politischen System, zu einem riskanten, aber funktionierenden Wachstumsweg. Beispiele für dieses sich gegenseitig korrigierende Ungleichgewicht gibt es im Überfluss. Chinas Reservoir an Spareinlagen, das zum größten Teil bei staatlichen Institutionen angelegt ist, hielt das chinesische Finanzsystem zahlungsfähig, freilich auf Kosten zukünftiger privater Renten- und Spareinlagen. Nach 1998 wog der ständig steigende Zufluss ausländischen Kapitals (auch von Auslandschinesen) den Rückgang des privaten Konsums auf und steigerte das Wirtschaftswachstum. Der massive Handels-überschuss gegen-über den USA ist natürlich politisch annehmbar, weil China der erste ausländische Abnehmer von Treasury-Bonds wurde und seine Währung weitgehend an den amerikanischen Dollar koppelte. Nach der japanisch-amerikanischen Symbiose der achtziger Jahre entwickelte sich dies zu der stärksten internationalen Synergie, die auf zwei voneinander unabhängigen Ungleich-heiten beruhte: Handel versus Kapitalströme. Chinas keynesianische Aus-gabenpolitik seit 1997 geschah zwar offensichtlich ohne Rücksicht auf deren Finanzierung, hat aber gleichwohl ein landesweites Transport- und Energiesystem ermöglicht. Dies mildert nun Engpässe beim Seetransport und gestattet ausländischen Unternehmen, auch im Landesinneren Chinas zu investieren, wo billige Arbeitskräfte noch reichlich zur Verfügung stehen. Auch hier balancieren exzessive Haushaltsausgaben ein regionales und personelles Ungleichgewicht aus. Zusammen mit einer alternden Bevölkerung hat die Begünstigung städtischer Arbeitsmärkte gegenüber ländlichen Regionen durch die öffentliche Ordnung wichtige Konsequenzen: die Kosten für qualifizierte Arbeitskräfte steigen, während die Landflucht für die allmähliche Entvölkerung landwirtschaftlich unproduktiver Gebiete sorgt und dadurch ein weiteres Schreckgespenst bannt: ein Heer von 250 Millionen Kleinbauern nach dem Eintritt in die WTO.

Chinas Boom scheint den Lehren aus der Realität liberaler amerikanischer Wirtschaft zu folgen  – und nicht den Ratschlägen liberaler Ökonomen. Ein Vergleich Chinas mit seinen historischen Vorgängern Japan und den Tigerstaaten ist daher müßig. Die einzige Analogie besteht in der Koppelung des Yen an den Dollar, die Japan von 1950 bis 1971 betrieb, und Asiens gleitende Bindung an die gleiche Währung. Das hat wichtige Konsequenzen für die Eurozone, die bisher keine Möglichkeiten besitzt, eine souveräne Geld- und Interessenpolitik zu gestalten und nicht über die gleichen Ressourcen verfügt wie die amerikanische Staatskasse. Von diesen Ähnlichkeiten abgesehen, ist Chinas Aufschwung besonders in seinen internationalen Auswirkungen einzigartig. Das überreiche Potenzial an Arbeitskräften, rasche technische Entwicklung, hohe finanzielle Überschüsse, die den Lehrsätzen der klassischen Volkswirtschaft widersprechen, ein stark zentralisierter Staat und die Festlegung internationaler Strategien machen China einmalig. Selbst in den USA dürften jene, die in China eine Bedrohung sehen wollen, eher dessen wirtschaftliche als militärische Macht im Sinn haben. Vor 20 Jahren forderte Clyde Prestowitz vom Economic Strategy Institute noch von der US-Regierung, sie möge die japanischen Kartelle in Schach halten.2 Heute befürwortet er eine amerikanisch-japanische Handels- und Währungsunion, um China etwas entgegensetzen zu können.3 Das mag Zeichen einer Überreaktion sein, sagt aber einiges über die Befürchtungen angesichts des chinesischen Wachstums aus.

Der Drache geht unbeirrt seinen Weg

Chinas Wachstum zeitigt zahlreiche Auswirkungen auf den internationalen Status des Landes und die politischen Entscheidungen seiner Regierung. Spürbar ist zunächst eine Veränderung der geoökonomischen und geopolitischen Machtbalance in Asien. Gleich, ob es Chinas Nachbarn schlecht geht (wie Japan in den neunziger Jahren und Südostasien nach 1998) oder ob sie wieder zu Kräften kommen (wie Südostasien in den letzten fünf Jahren und jetzt wieder Japan): China geht seinen Kurs unbeirrt weiter. In schlechten Zeiten ist es auf Kostenbasis effektiver und profitiert von eventuellen Konjunkturbelebungen in anderen asiatischen Volkswirtschaften. Es wäre aber falsch, China analog zu Japan in den siebziger und achtziger Jahren oder zum Deutschland der D-Mark-Ära als „Lokomotive“ Asiens zu beschreiben: Die zerstörerischen Folgen seines Wachstums sind immens, der Lohn in Form chinesischer Investitionen, Hilfsgelder oder sogar Attraktivität seiner inländischen Märkte niedrig. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Ansicht wird der Großteil der Exporte asiatischer Länder nach China wieder weiter exportiert, jedenfalls so lange, bis China den gesamten Produktionskreislauf allein bewältigt. Nur Produzenten auf sich stetig weiter entwickelndem höchsten Niveau müssen sich keine Sorgen machen. Alle anderen dürften bald von chinesischen Herstellern überholt werden. Genau dies passierte vor kurzem während der Auseinandersetzung um Textileinfuhren nach Europa. Der vorhersehbare chinesische Exportboom bei Textilien schadet zuerst Herstellerländern, die ihre Produkte nach Europa exportieren. Die Produzenten erstklassiger Waren wie Mode- und Markenfirmen müssen sich dagegen ebenso wenig sorgen wie Länder (z.B. Großbritannien), in denen die Textilindustrie keine Rolle mehr spielt. Tatsächlich sind die USA als bis heute wichtiger Textilproduzent in dieser Hinsicht seit dem Beginn der WTO-Verhandlungen mit China viel zurückhaltender. Obwohl ein ähnlicher Boom für Automobilexporte noch Zukunftsmusik ist, wird China 20064 der drittgrößte Autoproduzent der Welt sein, Deutschland überholen und sicherlich die breite Produktionsbasis ausbauen, die ihm heute noch fehlt.

In Wirtschafts- und Handelsfragen hat sich Chinas Verhandlungsposition daher deutlich verbessert. Die Bedeutung seiner heimischen Märkte verschafft China einen dominierenden Einfluss auf seine Nachbarn, was beim ASEAN-China-Freihandelsabkommen (ACFTA) 2002 sichtbar wurde, als China die Japaner lässig an die Wand drückte. Sogar bei einem Exportüberschuss von zwei Dritteln gegenüber den USA und der EU ist das verbliebene Drittel für multinationale Firmen noch attraktiv genug. Dies und die Zwischenhändler, die von den billigen chinesischen Waren profitieren möchten, ließen in den importierenden Ländern eine Lobby für chinesische Exporte entstehen. Chinas zunehmende Solvenz, auf Kapitalmärkten zu investieren und Firmen günstig zu kaufen, führt zu Vorgängen wie diesem: Die gesamte Finanzwelt beklagte das Verbot des Verkaufs des amerikanischen Ölförderers Unocal an den chinesischen Energieriesen CNOOC durch die US-Regierung. Das Gebot von CNOOC war nämlich viel höher als das von Chevron und hätte einen höheren Gewinn für die Finanzindustrie abgeworfen.

Dieser Trend fördert Chinas Aufstieg im Bereich der Hochtechnologie, und das ist heute wichtiger als die symbolische Frage, ob das EU-Militärembargo gegenüber China aufgehoben wird oder nicht. Europa hat sich – unter Vorbehalten – entschieden, das Navigationssystem Galileo gemeinsam mit China zu entwickeln. Japan einigte sich mit China auf eine gemeinsame Norm für Handynetze der vierten Generation. Seit den achtziger Jahren gibt es gemeinsame Bemühungen der USA und Chinas auf dem Gebiet der Hochenergiephysik. Jüngste Entwicklungen wie der IBM-Lenovo-Deal zeigen, dass China von seinen internationalen Partnern mittlerweile ernst genommen wird. Auch besitzt China heute bessere Möglichkeiten, sich natürliche Ressourcen zu erschließen. Öl ist der Faktor, der Chinas Vorstoß nach Afrika – und nicht nur in den Sudan – motiviert. Mit Japan lieferte es sich einen Machtkampf um die Ausbeutung der Gasvorräte in der ostchinesischen See und um die Förderung des russischen Öls in Sibirien; mit dem Iran pflegt es wegen dessen Gasvorkommen besondere Beziehungen, womit eine vom Westen geforderte gemeinsame Haltung in der Atomfrage zunichte gemacht wird. Hier offenbart sich der zukünftige Trend: die Öl-Länder werden den in vielen Bereichen ineffizienten chinesischen Energiefirmen bei Konzessionen für die Entdeckung und Erschließung neuer Energievorkommen entgegenkommen müssen, wobei Chinas riesige Finanzreserven hilfreich sein dürften. Es geht nicht so sehr darum, Energiequellen zu „besitzen“ oder zu „kontrollieren“, als um die Nutzung und die Aufteilung der Profite, die aufgrund von Preissteigerungen bei Energie und Rohstoffen entstehen. China wird einen Teil seines finanziellen Überschusses in das Energie- und Rohstoffgeschäft reinvestieren.

Das sollten wir begrüßen. Denn die Alternative wäre entweder ein geo-politisches Gerangel um den Zugriff auf Energiequellen, der von existierenden Kartellen verwehrt wird. Oder endloses Preisdumping durch Chinas Exportindustrie, um auf steigende Energie- und Materialkosten zu reagieren. Wir sind darauf angewiesen, dass Chinas Wirtschaft sich in Richtung Finanz- und Binnenorientierung ändert, und zwar bald. Die Alternative wäre entweder eine weltweite Rückkehr zum Protektionismus oder eine strategische Konfrontation mit China – was verheerende Folgen hätte. Es gibt Anzeichen, dass die Bush-Regierung nun statt gegenseitiger Missachtung eine strategische Kooperation bevorzugt. Das führt uns zu weiteren Auswirkungen des schnellen Aufstiegs Chinas:

  • Die Taiwan-Frage: Sie ist zentral für die Legitimität des chinesischen Staates, aber nirgendwo ist die Frage der Regierungsform so drängend und die Kluft zwischen China und den Demokratien so groß. Obwohl die Bush-Regierung versprochen hatte, Taiwan unter allen Umständen zu verteidigen, weist sie inzwischen öffentlich jegliches Unabhängigkeitsstreben Taiwans zurück und deutete an, Militärexporte an Taiwan seien nur zur „Verteidigung“ gedacht. China gelang es zwar nicht, Taiwan einzuschüchtern, es verlängert aber erfolgreich den Status quo. Alle langfristigen Faktoren sprechen für eine Vereinigung Taiwans mit China: der Austausch von Gütern und Menschen wächst, zudem machen Chinas wachsende militärische Kapazitäten die Verteidigung Taiwans zu einem sehr teuren, riskanten Unterfangen.
  • Beziehungen zu Japan: Die Bush-Regierung kommentiert zwar die chinesisch-japanischen Beziehungen nicht. Jedoch gibt es Anzeichen, dass Wa-shington über die Possen seines besten Verbündeten allmählich verärgert ist.5 Die Haltung der Koizumi-Regierung unter anderem zum Yasukuni-Schrein (vgl. den Beitrag von Suisheng Zhao in dieser Ausgabe) hilft im Wahlkampf und stärkt den Kampfgeist gegenüber anmaßenden chinesischen Politikern. Eine asiatische Integration befördert sie jedoch nicht. Genau wie Taiwans Unabhängigkeitsstreben entwickelt sich Japans Standpunkt zum Bremsklotz für die internationale Zusammenarbeit in Nordost-asien. Eine Lösung der Atomwaffenfrage in Korea und der Taiwan-Frage setzt Kooperation zwischen China und Japan voraus. Diese Probleme müssen unbedingt gelöst werden, denn die Nachkriegsordnung, in der Chinas Einfluss nur bis zur eigenen Küste reichte, ist nicht mehr haltbar.
  • Der Status quo und Chinas Aufstieg: Es ist üblich geworden, China zur Einhaltung des Status quo zu ermahnen. Aber China ist im Zweiten Weltkrieg nicht besiegt worden und empfindet keine historische Schuld. Es gibt keine Oder-Neiße-Linie, die es anerkennen müsste, sondern nur eine instabile Nachkriegsordnung, die sich aufgrund des Kalten Krieges stabilisierte. Um China zu einem „Aktionär“ der internationalen Ordnung zu machen, wie US-Vizeaußenminister Robert B. Zoellick6 Ende September vorschlug, bedarf es gegenseitiger Anpassung und ausgewogenen Gebens und Nehmens.
  • Energie- und Ressourcensicherheit: Das für China schlechteste Szenario wären internationale Sanktionen, die noch dem kleinsten militärischen Konflikt in der Straße von Taiwan folgen würden. China verbraucht mehr als es produzieren kann und ist auf Importe angewiesen. Seine langfristigen Interessen könnten näher an Europa oder sogar Japan liegen als an den USA, die als großer Rohstoffproduzent auch vom Management der Energie- und Rohstoffmärkte als „öffentliches Gut“ profitieren. Bis jetzt hat China die US-Politik im Nahen Osten leidenschaftlos verfolgt. Jetzt kooperiert China zum ersten Mal bezüglich der Nordkorea--Frage. Es wäre für die USA und Europa ein riesiger Fortschritt, China auch zu einer Zusammenarbeit in der Iran-Frage zu bewegen, was ohne Kooperation mit Chinas Energiefirmen kaum möglich ist.
  • Militärische Modernisierung: In Europa wurde diese Frage unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte gesehen und erst, nachdem China das Antisezessionsgesetz erlassen hatte, mit der Taiwan-Frage verbunden. Washingtons offizielle China-Politik steht immer mehr unter dem Motto: Zusammenarbeit in allen Bereichen – außer in militärischen. Diese Trennung wirtschaftlicher und geopolitischer von militärischen Fragen ist wegen Taiwan verständlich, aber als langfristige Perspektive kaum aufrechtzuerhalten. Erstens lässt sich China mit der Lieferung von Hochtechnologie am ehesten zu internationaler Zusammenarbeit bewegen; bliebe sie aus, würde China aus nationalistischen Gründen die technische Entwicklung selbst forcieren. Zweitens ist die westliche Haltung gegenüber China von Verbindlichkeit und immer engerer Zusammenarbeit geprägt (wobei es moralisch bedenklich bleibt, dass kaum Druck in Richtung politischer Veränderungen oder Verbesserungen der Menschenrechtslage ausgeübt wird). Drittens, und am wichtigsten, finden industrielle Kooperation und der Technologietransfer auf sehr hohem Niveau statt. Daher sind Technologien und nicht Waffen entscheidend. Eine Aufhebung des Embargos hätte nur symbolische Bedeutung, doch eine Abstimmung zwischen den westlichen Bündnispartnern Chinas würde sich erheblich auf dessen wirtschaftlichen Aufstieg und seine zukünftigen militärischen Fähigkeiten auswirken.7

Letztendlich hat Chinas Aufstieg noch eine weitere Konsequenz: Zur neuen offiziellen Doktrin wurde jüngst die Bezeichnung „friedlicher Aufstieg“ erklärt. Das geschah erst nach einer langen Debatte, in der es um Revierkämpfe, aber auch um substanzielle Fragen ging: Chinas Außenministerium beharrte auf der traditionellen Formulierung Deng Xiaopings, dass China den Zeitpunkt seiner Führungsrolle in Ruhe abwarten solle. Damit wollte es die Entscheidungshoheit über die Außenpolitik gegen die Ambitionen des einflussreichen ehemaligen Präsidenten der Zentralen Parteischule, Zheng Bijian verteidigen.8 Das neue Motto vom „friedlichen Aufstieg“ suggeriere, so chinesische Diplomaten, eine Veränderung der Machtbalance. Einige Hardliner befürchteten außerdem, dass Chinas Glaubwürdigkeit untergraben wäre, wenn es eines Tages harte Maßnahmen gegen Taiwan ankündigen sollte. Befürworter des neuen Mottos hingegen betonten, dass mit dem Zugewinn an Macht und Erfolg auch neue internationale Verantwortung einhergeht. In der ersten Jahreshälfte 2004 verschwand das Motto vom „friedlichen Aufstieg“ aus öffentlichen Reden zugunsten der Formulierung „friedliche Entwicklung“, die schwächere politische Implikationen hat. Aber der Premier und der Präsident benutzten die alte Formulierung in letzter Zeit wieder öfter. Zweideutig ist sie immer noch: Sie scheint ein Hegemoniestreben Chinas zu verneinen, doch gleichzeitig lautet ein weiteres Schlagwort Hu Jintaos „Demokratisierung der internationalen Beziehungen“. Das impliziert, China wolle sich für die Rechte souveräner Staaten (gegenüber den Westmächten) einsetzen. Im Moment sehen Chinas Parteiführer und Experten offenbar ein, dass Chinas neue Bedeutung ein Überdenken seiner internationalen Rolle erfordert.

Anleitungen für Europa

Spätestens seit der Tragödie auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ hadern die Europäer mit China. Damals einigte man sich auf eine gemeinsame Verurteilung, die aber ein weiteres Vorgehen auf EU-Ebene zunächst verhinderte. Ende 2004 dann hatte sich nach drei entsprechenden Erklärungen der EU eine „strategische Partnerschaft“ zwischen der EU und China entwickelt und die Bendigung des Embargos schien in Sicht. Ironischerweise erklärte China gleichzeitig, dass das Verhältnis zu Europa aufgrund der Restriktionen durch das Embargo nicht als „strategische Partnerschaft“ bezeichnet werden könne.

Die Entwicklung einer gesamteuropäischen China-Politik wird durch Meinungsverschiedenheiten behindert; einzelne Staaten wetteifern um Chinas Aufmerksamkeit. Die Briten kritisierten, dass Chinas Präsident Hu Jintao während seines Staatsbesuchs in Frankreich im Januar 2004 eine Rede vor der Nationalversammlung halten durfte und der Eiffelturm rot angestrahlt wurde. Bei Hus Besuch in Großbritannien im November 2005 wurden aber gleich mehrere Denkmäler rot angeleuchtet. Und die Aufgabe, Hu die schlechte Nachricht über das Embargo zu überbringen, blieb Angela Merkel überlassen.

Diese Farce sollte uns eine Lektion sein. Es gibt keinen Grund für Europa, das Lob amerikanischer Bush-Kritiker zu genießen, die den Erfolg von Europas „sanfter Annäherung“ an China preisen. Das heutige China ist nicht sanft, sondern eine boomende Wirtschaftsmacht mit großen internationalen Ambitionen, ein Land, das von einer modernisierten leninistischen Elite geführt wird und eine Gesellschaft, in der sich die Attraktivität der Demokratie für das Individuum mit einem kollektiven Bewusstsein für die historischen Missetaten des Westens und Japans die Waage halten. Und nicht nur China boomt, sondern auch die anderen asiatischen Volkswirtschaften, was größeres Engagement der europäischen Regierungen erfordert als noch Mitte der neunziger Jahre. Um mit Chinas Aufstieg angemessen umzugehen, bedarf es weit reichender Anpassungen und Entscheidungen der EU und seiner Mitgliedsstaaten.

Die Europäer sollten auf eine weitgehend unabhängig von den USA erstellte Einschätzung Chinas zurückgreifen und amerikanischen Analysen und den darin geäußerten Bedenken nicht blind vertrauen.

  • Eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik sollte China zur Priorität erklären. Das ist eine Voraussetzung jeder „strategischen“ Partnerschaft mit China, die nicht bedeuten muss, dass Europa und China in strategischen Fragen immer übereinstimmen. Es ist merkwürdig, dass diese „strategische Partnerschaft“ in letzter Zeit meistens vom EU-Handelskommissar ins Spiel gebracht wurde, so wohlmeinend dessen Intentionen auch waren. Wenn eine europaweite Koordinierung der China-Politik nicht möglich ist, sollten wenigstens Frankreich, Deutschland und Großbritannien ihre Absichten koordinieren. Sie täten außerdem gut daran, ein Mitglied des „neuen Europas“ einzuschließen, das China gut kennt, wie Polen oder Tschechien, und Länder, die im Handel mit China und Asien stark involviert sind, wie die Niederlande, dem Eingangshafen für die meisten chinesischen Waren.
  • Die Debatte über das Embargo 2005 sollte Europa eine politische Lehre sein. Nicht amerikanischen Forderungen nachzugeben ist ein Erfolg Europas, sondern sorgfältige und gemeinsam abgesprochene Bedingungen anstelle des Embargos auszuarbeiten. Dieses Versäumnis untergräbt auf jeden Fall den Einfluss Europas in internationalen Angelegenheiten.
  • Handels- und Investitionspolitik mit China sollten Gegenstand ständiger Überprüfung und Koordinierung sein. Die Textildebatte zeigte, dass protektionistische Bestrebungen ebenso wie Liberalisierungswettbewerbe mit Peking die europäische Politik verzerren: Es ist bezeichnend, dass die USA in der Lage waren, ihre wirtschaftlichen Verhandlungen mit China bis November 2005 still und leise fortzusetzen, während sich die Europäer gegenseitig harte Beschuldigungen an den Kopf warfen. Sicherlich ist Freihandel die einzig realistische Option für langfristige chinesisch-europäische Beziehungen. Dennoch gibt es zahlreiche Möglichkeiten, in Chinas segmentierte und regulierte Märkte einzudringen.

Europas Hilfe für China läuft meist darauf hinaus, Veränderungen in Schlüsselbereichen der sich modernisierenden chinesischen Gesellschaft zu erwirken. Das ist sicher lobenswert, sollte aber nicht zur allgemeinen Politik gegenüber einer der Weltmächte des 21. Jahrhunderts werden. Die China-Politik besser zu koordinieren, fundamentale wirtschaftliche Interessen von der Energiesicherheit bis zum Zugriff auf die Finanzmärkte in Einklang zu bringen, mit China einen Dialog auf Augenhöhe über strategische und militärische Aspekte anzustreben: Das sind die Herausforderungen für Europa.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2005, S. 14 - 23.

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