Die Krise im Östlichen Mittelmeer braucht eine europäische geopolitische Vision
In der akuten Krise im Östlichen Mittelmeer zeigt sich sowohl die Wichtigkeit als auch die Unfähigkeit der EU in internationalen Angelegenheiten. Derzeit ist ein heißer Konflikt zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Fast alle zerstrittenen Parteien spielen derzeit mit dem Feuer und nehmen kalkulierte Risiken in Kauf. Ein Spiel mit dem Feuer.
Diese Krise ist nicht eine in Europas Nachbarschaft, sondern in Europa selbst. Und sie zeigt, dass es in Europa an einer strategischen Vision mangelt; dass Europa einfallsreicher werden muss in seiner Außenpolitik und dabei, eine größere Rolle in geopolitischen Angelegenheiten zu spielen.
Das Östliche Mittelmeer ist weder der erste noch der letzte Krisenherd, der Europas geopolitische Rolle herausfordert. Allerdings sind diesmal die Kosten europäischer Ohnmacht dramatisch höher als früher. Zudem hat sich das Ökosystem, in dessen Rahmen Europa seine Rolle in der Welt, aber vor allem auch im Nahen Osten, bislang gesehen hat, unumkehrbar verändert.
Der US-zentrierte Rahmen existiert nicht mehr
Seit der Suez-Krise von 1956 hat sich die europäische Außenpolitik gegenüber dem Nahen Osten und dem Südlichen Mittelmeer in einem US-zentristischen Rahmen bewegt. Diesen Rahmen gibt es nun nicht mehr. Schlimmer noch, die Positionen der USA zu Themen wie dem Atomabkommen mit dem Iran, der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels oder dem Rückzug aus Syrien widersprechen den europäischen Interessen, anstatt sie zu unterstützen. Auch wenn Trump viele dieser unbedachten Entwicklungen zu verantworten hat, können diese nicht nur auf ihn zurückgeführt werden. Dahinter stehen systemische und strukturelle Veränderungen.
Die strategische Bedeutung von Europas südlicher und östlicher Nachbarschaft für die USA nimmt ab. Dies gilt jedoch nicht für Europa selbst. Unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt, werden uns diese Entwicklungen weiter begleiten. Daher kann Europa sich als größerer geopolitischer Spieler nur auf eigene Gefahr hin weiter zurückhalten. Gleichzeitig macht es das Fehlen einer europäischen geopolitischen Vision und Außenpolitik anderen leicht, Europa als Ganzes zu vernachlässigen. So sollte Europa schon längst eine Nahost- beziehungsweise eine Mittelmeerpolitik entworfen haben, aber bislang ist dahingehend nicht viel passiert. Stattdessen entwickeln Nahoststaaten und Mittelmeeranrainer zunehmend eigene EU-Politiken, die durchaus Wirkung zeigen.
Das Beispiel Libyen
Wie man in Libyen gut beobachten kann, verbünden sich diese Staaten mit einer Reihe europäischer Länder gegen ihre regionalen Rivalen – und damit auch gegen eine andere Gruppe von EU-Staaten. Die Rivalität in Libyen zwischen der Türkei und Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) klingt auch in Europa nach. Die Türkei hat ihre Beziehungen zu Italien und Malta gestärkt, während sich Ägypten und die VAE mit Frankreich verbündet haben. Opfer dieser Bündnisse sind die Rolle und der Einfluss Europas in Libyen. Wir können ähnliche Entwicklungen im Östlichen Mittelmeer beobachten, die die Krise nur noch verschlimmern und noch unlösbarer machen. Daher braucht es dringend eine zielorientierte europäische Politik und Diplomatie, die eingebettet sind in eine geopolitische Vision.
In dieser Hinsicht sind die Verhandlungsversuche von Deutschland und Europa zur Deeskalation der Krise erste Schritte in die richtige Richtung. Allerdings müssen sie erstmal positive Ergebnisse bringen. Ihr Erfolg wird abhängen von der Klarheit ihrer Ziele, die auf der Grundlage einer geopolitischen Vision stehen, und einer richtigen Diagnose der Krise.
Nicht die eine, sondern viele Krisen
Anders als viele annehmen, geht es bei der Krise im Östlichen Mittelmeer nicht um Energieressourcen. Bislang wurden keine Gasvorkommen in den umstrittenen Gebieten entdeckt. Sicherlich haben die 2009 bis 2011 von Israel und Zypern und 2015 von Ägypten entdeckten Ressourcen den Konflikt herbeigeführt und verstärkt. Die Wurzeln der Krise liegen jedoch woanders. Vom Grundsatz her geht es bei der Krise um entgegengesetzte Forderungen hinsichtlich nationaler Seegrenzen und Ausschließlicher Wirtschaftszonen (AWZ) sowie um Zypern. Bei ersterem sind sich Ankara und Athen uneins darüber, welche Rolle Inseln bei der Bestimmung von AWZ spielen. Bezogen auf letzteres lehnt die Türkei die Republik Zypern (beziehungsweise die griechischen Zyprioten) als einzigen legitimen Akteur bei der Suche nach Energievorkommen ab. Stattdessen betont die Türkei, dass das von ihr kontrollierte Nordzypern (das lediglich die Türkei anerkennt) ebenfalls das Recht habe, nach Ressourcen zu suchen und Lizenzen dafür auszustellen.
Neben diesen Hauptschauplätzen der Auseinandersetzung gibt es drei Arten von Subkrisen und geopolitischen Entwicklungen. Zunächst einmal kommt mit der Entdeckung von Gasressourcen durch Israel, Zypern und Ägypten die Frage auf, wie dieses Gas nach Europa verkauft werden kann. Die Idee eines Pipeline-Projekts beruht auf einer engen Zusammenarbeit zwischen Griechenland, Zypern, Israel sowie Ägypten und schließt die Türkei aus. Diese Beziehungen wurden durch die Schaffung des Gasforums Östliches Mittelmeer in Kairo am 16. Januar 2020 institutionalisiert. Neben diesen vier Staaten gehören auch Jordanien, Italien und die palästinensischen Gebiete dem Gasforum an. Ökonomisch betrachtet ist das Pipeline-Projekt nicht machbar und kaum umzusetzen. Allerdings haben die Überlegungen zu diesem Projekt und die Gründung des Forums dazu geführt, dass die Türkei sich außen vor gelassen fühlt in einer neuen Energie- und Sicherheitsordnung im Östlichen Mittelmeer.
Geopolitisches Gezanke
Zweitens hat die Türkei, um diese neue Ordnung zu verhindern und ihre Seegrenzen zu erweitern, mit der libyschen Regierung der Nationalen Übereinkunft im November 2019 ein Abkommen über die Festlegung von Seegrenzen geschlossen. Daraufhin hat Griechenland im August 2020 ein ähnliches Dokument mit Ägypten unterzeichnet. Während der Deal zwischen der Türkei und Libyen die Seegrenzen Griechenlands infrage stellt, widerspricht der Vertrag zwischen Griechenland und Ägypten den türkischen Vorstellungen über ihre Grenzen.
Drittens hat auch das geopolitische Gezanke zwischen der Türkei und Frankreich weiter zur Eskalation der jüngsten Krise beigetragen. Die Türkei und Frankreich stehen bei einer ganzen Reihe außenpolitischer Themen auf verschiedenen Seiten. In Syrien, Libyen, Libanon, Nordafrika bis hin nach Westafrika kann man die Spannungen zwischen beiden Seiten beobachten, die vermutlich langfristiger Natur sein werden.
Die Rivalität zwischen beiden Seiten hängt eng mit ihrem aggressiven Auftreten im Östlichen Mittelmeer zusammen. Neben Frankreichs Verlangen, Europa in außen- und sicherheitspolitischen Fragen anzuführen, geht es bei den Spannungen zwischen Frankreich und der Türkei vor allem um konträre Ansprüche von zwei postimperialen Staaten und geopolitischen Playern, die auf der Suche sind nach einer neuen internationalen und regionalen Rolle und einer geopolitischen Identität. Das Östliche Mittelmeer ist daher nur Nebenschauplatz in einem größeren geopolitischen Streit.
Diese miteinander verbundenen Krisen spielen sich vor dem größeren Hintergrund eines Machtvakuums oder einer geopolitischen Lücke ab, die die USA durch ihren Rückzug aus dem Östlichen Mittelmeer und aus großen Teilen des Nahen und Mittleren Ostens hinterlassen haben. Dieses Vakuum hat zu einem Streit um Macht und Einfluss im Nahen Osten und im Mittelmeer geführt.
Wie kann vor diesem Hintergrund ein Ausweg aus der Sackgasse im Östlichen Mittelmeer gefunden werden?
Den Riegel vorschieben
Gespräche über eine Lösung der Krise erscheinen zwar attraktiv, sind aber in naher Zukunft nicht im Sinne einer schnellen Lösung umsetzbar. Wie bereits erwähnt, handelt es sich nicht um eine einzige Krise, sondern um mehrere kleinere Konflikte zwischen der Türkei und einer Reihe weiterer Staaten. So unterscheiden sich die zunehmenden geopolitischen Streitigkeiten zwischen der Türkei und Frankreich grundsätzlich von den jahrelangen türkisch-griechischen Grenzstreitigkeiten. Es gibt Gemeinsamkeiten, aber auch einige Unterschiede zwischen den verschiedenen Konflikten. Statt eine umfassende Übereinkunft für das gesamte Östliche Mittelmeer zu entwerfen, sollten sich die diplomatischen Bemühungen zunächst darauf konzentrieren, die Krise zwischen Ankara und Athen beizulegen, folglich also die Grenzstreitigkeiten abzugrenzen von den größeren geopolitischen Entwicklungen in der Region. Dabei ist es essenziell, beide Seiten dazu zu bewegen, sich zumindest für einige Monate auf ein Stillhalteabkommen zu verständigen. Anders gesagt: Es ist für jede Art von ernsthaften Verhandlungen wichtig, zunächst weiteren Bohrungen und Erkundungsmissionen den Riegel vorzuschieben.
Gleichzeitig könnte eine internationale Konferenz zur Deeskalation beitragen. Die Türkei hat bereits eine Konferenz der Anrainerstaaten des Östlichen Mittelmeers vorgeschlagen. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, hat sich ebenfalls für eine internationale Konferenz ausgesprochen. Zu diesem Zeitpunkt wäre eine Konferenz von Mittelmeeranrainern sowie Vertretern von EU und NATO ein guter Anfang, um die Krise in einem multilateralen Rahmen zu lösen. Im Hinblick auf den Fehlschlag der Berliner Libyenkonferenz könnten Zweifel am Nutzen und an der Effektivität einer internationalen Konferenz zum Östlichen Mittelmeer aufkommen und daran, ob dies zu einer Deeskalation beitragen kann. Allerdings kann man, anders als in Libyen, im Östlichen Mittelmeer nichts abstreiten: In Libyen agieren alle größeren Staaten durch Stellvertreter; im Östlichen Mittelmeer dagegen gibt es keine Versteckmöglichkeit. Alle größeren Akteure sind selbst vor Ort. Niemand kann sich hinter seinen Stellvertretern verstecken, wenn ein Fehler begangen wird oder es zu Zwischenfällen kommt. Daher wird eine internationale Konferenz in diesem Kontext wohl erfolgreicher sein, als sie das im Falle Libyens war.
Eskalation zur Deeskalation?
Zudem hat im Östlichen Mittelmeer keine Partei ein Interesse an einem Konflikt. Alle Seiten tragen zur Eskalation bei und hoffen zugleich, dass sich die Gegenseite zurückziehen wird. Aber wenn sich diese Erwartung als falsch herausstellt, gibt es für die Handelnden keinen Ausweg aus ihren auf Eskalation basierenden Strategien. Wenn sich niemand zurückzieht, gibt es auch für niemanden einen Ausweg. Eine internationale Konferenz würde einen Ausweg ermöglichen, bei dem alle ihr Gesicht wahren können.
Auch wenn ein Einfrieren des Konflikts zunächst wichtig ist, um weitere Vorkommnisse zu vermeiden, darf das nicht das Ziel sein. Stattdessen muss eine Strategie gefunden werden, um Verhandlungen zu ermöglichen und Raum für neue politische Möglichkeiten zu geben.
Russlands Rolle, Russlands Macht
Solange diese Krise nicht angegangen wird, steht das Östliche Mittelmeer vor weiteren Krisen. Außerdem bieten Konflikte, eingefroren oder nicht, eine Möglichkeit für weitere Akteure wie Russland, sich einzumischen. In den vergangenen Jahren wurde Russlands Rückkehr in den Nahen Osten ausgiebig analysiert. Allerdings ist Russlands Aktivismus regional begrenzt. Es geht Moskau nicht um den gesamten Nahen und Mittleren Osten. Russlands opportunistische Politik konzentriert sich auf das Östliche Mittelmeer und die Golfregion, neben den alten Schauplätzen aus Sowjetzeiten, auf Afghanistan und den Iran. Öl und Gas sowie finanzielle Interessen und lukrative Rüstungsmärkte sind die Gründe dafür, dass Russland engere Beziehungen zu den Golfmonarchien anstrebt. Ähnlich sieht es im Östlichen Mittelmeer aus, wo Russland von Syrien zu Libyen, vom historisch verbündeten Algerien bis hin zu Ägypten gute Beziehungen aufbauen und Einfluss ausüben will. Aufgrund der Nähe dieser Region zu Europa und der Bedeutung für die europäische Sicherheit (Migration, Terrorismus, Energierouten) hat Russland ein Interesse daran, ein starkes Druckmittel gegenüber Europa zu erhalten, indem es die Beziehungen zu dieser Region vertieft und dort an Ansehen gewinnt.
Dazu passt, dass Russland auch in der Krise im Östlichen Mittelmeer versucht, eine Rolle zu spielen und langfristig ein wichtiger Akteur zu werden. Sowohl die Türkei als auch Griechenland unterhalten gute Beziehungen zu Russland. Abhängig davon, wie sich die Lage entwickelt, könnten beide Parteien Russland eine Rolle als Akteur im Östlichen Mittelmeer zugestehen. Russland hat signalisiert, dass es bereit sei, eine Verhandlungsrolle in der Krise einzunehmen. Durch die Abwesenheit der USA, die durch die anstehenden Wahlen noch komplizierter wird – und wenn es Deutschland und Europa nicht gelingt, einen Plan zu entwerfen und Gespräche zu ermöglichen –, ist der Weg frei für andere Akteure, ihren Platz im Östlichen Mittelmeer zu finden.
Eine geopolitische Vision
Abschließend muss Europa eine ideenreiche Außenpolitik und eine größere regionale Vision entwerfen. In der gegenwärtigen Krise im Östlichen Mittelmeer wurde häufig verwiesen auf visionäre Momente in der europäischen Vergangenheit, indem beispielsweise ein Schuman-Plan für das Östliche Mittelmeer oder ein Barcelona-Prozess in Form eines regionalen Dialogs zwischen Europa und den Anrainerstaaten des Mittelmeers gefordert werden. Der Kern dieser Vorschläge liegt darin, das Östliche Mittelmeer als eine gemeinsame Region zu verstehen; das Auffinden von Ressourcen sollte Anlass für Kooperation und nicht für Konflikte zwischen Staaten sein. „Mediterran“ soll verstanden werden als eine gemeinsame geopolitische Identität. Diese hehren Ziele können nur erreicht werden, wenn es eine europäische Vision und Verpflichtung gibt. Letztendlich eröffnen sich viele Wege, um das Ziel eines Östlichen Mittelmeers als gemeinsamer Raum der Zusammenarbeit zwischen den Anrainerstaaten zu erreichen. Aber als erstes bedarf es einer geopolitischen Vision und Verpflichtung. Schließlich war das Beindruckende am Schuman-Plan nicht sein technischer oder bürokratischer Einfallsreichtum, sondern dass er auf einer Vision, einem Plan beruhte, der bürokratische Genialität mit politischer Vision verband. Dieser Logik folgend werden die europäische Politik und Vision darüber entscheiden, ob diese Region zu Europas Schattenseite wird, in der andere Akteure einen Platz am Tisch und ein Druckmittel gegenüber Europa gewinnen, oder ob die Region in das europäische System integriert wird - als ein Ort europäischer Macht und Vision.
Galip Dalay ist Politikwissenschaftler und Think-Tanker und derzeit Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy.
Aus dem Englischen von Melina Lorenz.
Internationale Politik, Online exklusiv, Oktober 2020