Die große Ernüchterung
Offene Gesellschaften werden stets innovativer sein als Autokratien. Die Auseinandersetzung mit China ist kein Systemwettbewerb, sondern ein klassischer Großmachtkonflikt.
China hätte auch Demut zeigen können, als vor fast anderthalb Jahren von Wuhan aus das Coronavirus seinen zerstörerischen Weg um die Welt antrat. Stattdessen verkündete die Regierung in Peking nach einem rigorosen, 76 Tage währenden Lockdown stolz den Sieg im „Volkskrieg“ gegen die Krankheit. Einmal mehr habe sich die Überlegenheit des chinesischen Systems gezeigt.
Doch der Rest der Welt wollte vom „Modell China“ nichts hören. Dort war vielmehr der Zorn groß, dass die chinesischen Behörden den Ausbruch der Seuche wochenlang vertuscht hatten. Hätte China schneller und transparenter reagiert, die Pandemie hätte vielleicht nicht ihre tödliche Wucht entfaltet.
Die Desillusionierung im Umgang mit China hatte aber schon vor der Corona-Pandemie eingesetzt. Die Stimmung kippte, als sich mit dem Amtsantritt Xi Jinpings die Repression im Inneren verschärfte und das Land nach außen immer aggressiver auftrat. Die Perfektionierung des Überwachungsapparats, die Ausweitung der Zensur, der Kampf gegen „westliche Werte“, die Verfolgung von Minderheiten wie den muslimischen Uiguren: Das alles summierte sich zu einer autoritären Wende rückwärts.
Selbstbewusst, geradezu herrisch meldete Peking seinen Führungsanspruch in der internationalen Politik an. Gegen den Widerstand der übrigen Anrainer setzte China die Militarisierung des Südchinesischen Meeres fort. Mit Indien lieferte es sich im Sommer 2020 ein Grenzgefecht, bei dem 20 indische Soldaten starben. Australien, das eine unabhängige Untersuchung des Corona-Ausbruchs in Wuhan forderte, wurde von Peking mit Einfuhrbeschränkungen bestraft. „Wenn Sie China zu Ihrem Feind machen, wird China ein Feind sein“, drohte ein Regierungsbeamter in Peking.
Auch das Verhältnis zu Europa trübte sich ein. Zwar hatte Peking stets beteuert, die europäische Einheit zu unterstützen. Tatsächlich aber lief seine Politik auf eine Spaltung Europas hinaus. Das zeigte sich bei der Zusammenarbeit mit erst 16, dann 17 mittel- und osteuropäischen Staaten („17+1“). Inzwischen ist die Enttäuschung bei den Siebzehn groß, viele Versprechen Pekings erwiesen sich als heiße Luft. Am jüngsten, virtuellen 17+1-Gipfel im Februar 2021 beteiligten sich sechs europäische Staaten nur noch auf Ministerebene – obwohl auf chinesischer Seite Staats- und Parteichef Xi Jinping teilnahm. Ein Affront.
Grenzen des chinesischen Modells
Im Jahr 2019 legte die EU-Kommission ein Grundsatzpapier zur China-Politik vor. Darin definierte sie die Volksrepublik nicht nur als Partner und wirtschaftlichen Wettbewerber, sondern zugleich als einen „systemischen Rivalen“. Diese Rivalität offenbarte sich zu Beginn dieses Jahres in unerwarteter Härte. Eben noch hatte die EU ein Investitionsabkommen mit China vereinbart, da verhängte sie wegen der Unterdrückung der Uiguren – eher vorsichtige – Sanktionen gegen die Volksrepublik. Peking schlug mit doppelter Härte zurück: Es verhängte Strafmaßnahmen gegen Abgeordnete, gegen Wissenschaftler und Forschungseinrichtungen wie das hochangesehene Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Klug waren die chinesischen Sanktionen gegen Mitglieder des Europaparlaments dabei nicht, muss dieses doch das Investitionsabkommen noch ratifizieren.
Unverkennbar sind die Jahre der China-Euphorie vorbei. Im Konflikt zwischen China und dem Westen geht es heute kaum noch um die angeblichen Stärken des autoritären Staatskapitalismus. Die Systemkonkurrenz müssen die Europäische Union und die USA nicht fürchten. Offene Gesellschaften mit unzensierter Kommunikation, freier Lehre und Forschung sowie einer angstfreien Debattenkultur werden immer innovativer sein als Ordnungen, die sich abschotten und den Wettbewerb der Ideen unterbinden.#
An die Grenzen seines bisher so spektakulär erfolgreichen Wachstumsmodells stößt China auch noch aus anderen Gründen. Als Folge der Ein-Kind-Politik altert die Gesellschaft rasch. Die Erwerbsbevölkerung wird in den kommenden 15 Jahren um 6,8 Prozent schrumpfen. Zugleich schwächt sich der Produktivitätszuwachs ab, auch weil unter Xi Jinping wieder vermehrt die Staatskonzerne auf Kosten der innovativeren Privatunternehmen gefördert werden. Zudem haben die Jahrzehnte der boomenden Wirtschaft zu einer verheerenden Umweltzerstörung geführt: Luftverschmutzung, Verseuchung von Seen und Flüssen, Trinkwassermangel und Bodenerosion gefährden die Gesundheit der Bevölkerung und belasten die Unternehmen.
Europas sieben Antworten
Statt mit einem Systemwettbewerb um das überlegene Gesellschaftsmodell haben wir es eher mit einem klassischen Großmachtkonflikt zu tun, in dem es um die Verteilung von politischer und wirtschaftlicher Macht geht, um militärische Stärke und kulturellen Einfluss. Die Europäer sollten auf den chinesischen Machtanspruch sieben Antworten geben.
- Wir sollten die „westlichen Werte“, die China unter Xi Jinping bekämpft – Meinungs- und Glaubensfreiheit, eine unabhängige Justiz, unzensierte Medien, freie Lehre und Forschung, eine lebendige Zivilgesellschaft und Mehrparteiensystem – beherzt verteidigen. Die angeblich „westlichen“ Werte sind in Wahrheit universelle Werte. In vielen asiatischen Ländern sind sie mühsam erkämpft worden.
- Europa darf sich nicht spalten lassen. Zu Recht hat Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron im Umgang mit China ein „Ende der Naivität“ gefordert. Gegen die Verfolgung der Minderheiten, gegen die Unterdrückung in Hongkong und gegen den Druck auf Länder, die – wie Australien – Kritik an China äußern, muss die EU mit einer Stimme sprechen.
- Europa sollte anerkennen, dass sich Taiwan zu einer lebendigen Demokratie mit einer offenen Zivilgesellschaft entwickelt hat. Der politische Austausch mit Taiwan sollte deshalb intensiviert, die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen sollten ausgebaut werden.
- Regierungen, Unternehmen und Forschungseinrichtungen sollten Spitzentechnologien besser schützen. Statt beim Bau des 5G-Netzes auf Huawei-Technologie zu setzen, sollten Deutschland und die anderen EU-Staaten die Kompetenz von Ericsson und Nokia nutzen und diese europäischen Technologieführer im globalen Wettbewerb stärken.
- Deutschland und Europa sollten ihre ökonomische Abhängigkeit von China verringern. Wer abhängig ist, macht sich erpressbar. Die deutschen Automobilhersteller produzierten 2019 in China 5,08 Millionen Fahrzeuge, daheim in Deutschland waren es 4,67 Millionen. Die Bedeutung des chinesischen Marktes ist überragend und erklärt manchen Kotau in europäischen Chefetagen.
- Die Europäer sollten die Zusammenarbeit mit den Demokratien in Asien stärken. Die im Herbst 2020 vorgestellten Indo-Pazifik-Leitlinien der Bundesregierung sprechen sich für intensivere Beziehungen zu traditionellen Partnern wie Japan, Australien oder Indien aus. Deutschland will, wie zuvor schon Frankreich und Großbritannien, auch sicherheitspolitisch ein Signal senden und schickt in diesem Jahr eine Fregatte in den Indo-Pazifik.
- Die Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten ermöglicht nicht nur einen Neubeginn in den transatlantischen Beziehungen, sondern auch eine gemeinsame China-Politik. Biden hat den Willen dazu wiederholt bekräftigt, zuletzt vor der Münchner Sicherheitskonferenz. In der Präsidentschaft Bidens liegt eine große Chance. Er ist ein überzeugter Verteidiger der liberalen internationalen Ordnung. Nicht nur Europa, der Westen insgesamt könnte gegenüber China nun mit einer Stimme sprechen. Damit wächst in dem unter Xi Jinping autokratisch gewendeten Peking die Wahrscheinlichkeit, gehört und ernst genommen zu werden.
Internationale Politik Spezial, Mai, 03/2021, S. 21-23
Teilen
Themen und Regionen
Artikel können Sie noch kostenlos lesen.
Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.