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13. Nov. 2012

„Die größte Sorge ist ein regionaler Flächenbrand“

Interview mit Fuat Keyman vom Istanbul Policy Center (IPC)

Der Direktor des IPC an der Sabanci-Universität über die strategischen Fehler der Türkei, das Ende der „Null-Probleme“-Außenpolitik, die internationalen Dimensionen des Syrien-Konflikts und die neue Brisanz der Kurden-Frage.

IP: Herr Keyman, Anfang Oktober schlugen im türkischen Grenzdorf Akçakale syrische Granaten ein; die Türkei hat seitdem an der Grenze zu Syrien Truppen und Kriegsgerät zusammengezogen, die Scharmützel haben sich fortgesetzt. Glauben Sie, dass es zum Krieg zwischen beiden Ländern kommt?

Fuat Keyman: Nein, es wird keinen Krieg zwischen der Türkei und Syrien geben. Was wir erleben, ist die bewusste Verschärfung des Konflikts zwischen beiden Ländern, der Granatenbeschuss ist eine neue Eskalationsstufe. Die Türkei wird auch künftig darauf antworten, weiter wird sie aber nicht gehen. Meine größte Sorge nach dem Mordanschlag auf den libanesischen Geheimdienstchef Wissam al-Hassan ist allerdings, dass der Konflikt auf Libanon und Jordanien übergreifen und den Konflikt zwischen Iran und Israel zusätzlich anheizen könnte. Wenn sich der Arabische Frühling in einen regionalen Flächenbrand verwandelt, dann wäre das viel bedrohlicher als ein türkisch-syrischer Krieg. Zurzeit erleben wir ja eher ein Tauziehen zwischen der Türkei, die den Assad-Clan zum Aufgeben bewegen will, und dem Assad-Regime, das sich mithilfe von Russland und Iran an die Macht klammert.

IP: Es ist noch nicht lange her, da arbeitete die türkische Regierung eng mit dem Assad-Regime zusammen. Vor dem Arabischen Frühling und dem Ausbruch der Gewalt in Syrien fuhren die Erdoğans mit den Assads in Urlaub. Warum der plötzliche Stimmungsumschwung?

Keyman: Ankara hat sich auf die Seite der aufbegehrenden Menschen gestellt. Die türkische Regierung hat in dem Arabischen Frühling einen Transformationsprozess gesehen, vorangetrieben von Menschen, die eine bessere Regierung, Arbeitsplätze, Wohlstand und mehr Demokratie wollen. Aus Sicht der Türkei war das etwas Neues, ein unumkehrbarer Prozess, der die Region tiefgreifend verändern wird.

IP: Die Türkei ist also auf den fahrenden Zug aufgesprungen?

Keyman: Gewissermaßen. Die außenpolitischen Entscheidungsträger, vor allem Außenminister Ahmet Davutoğlu und Premierminister Recep Tayyip Erdoğan, haben wegen der engen Beziehungen zum syrischen Regime darauf gesetzt, dass sie es zu Reformen und demokratischer Öffnung bewegen können. Heute wissen wir, dass sie zwei strategische Fehler gemacht haben: Erstens haben sie verkannt, wie hartnäckig sich Assad an die Macht klammern würde. Zweitens haben sie unterschätzt, wie sehr Russland und Iran das Regime stützen würden. Für diese Länder ist Assad Garant ihrer eigenen nationalen Interessen im Nahen Osten.

IP: Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung ...

Keyman: Ja, aber das kann man der türkischen Regierung nur bedingt vorwerfen. Sie hatte ja gute Gründe zu glauben, dass sie Assad zum Einlenken bewegen kann. Außerdem hat nicht nur die türkische Seite versagt, die USA und Europa haben ebenfalls wenig erreicht. Diese Fehleinschätzungen haben jetzt eine Situation entstehen lassen, in der die Türkei immer ungeschickter agiert und sich das syrische Regime keinen Zentimeter bewegt.

IP: Es war immer viel die Rede von der Außenpolitik der „null Probleme mit den Nachbarn“ der Türkei. Beobachter werten den türkisch-syrischen Konflikt nun als Beleg dafür, dass diese außenpolitische Linie gescheitert ist.

Keyman: Im Grunde war die Politik der „null Probleme mit den Nachbarn“ ja schon mit der Revolution in Tunesien beendet. Mit Ägypten wurde ihr Scheitern offenkundig, mit Libyen noch deutlicher, und mit Syrien ist die Null-Probleme-Politik ganz hinfällig geworden. Sie gründete auf dem Gedanken, mit den bestehenden Regimen ein enges kulturelles und ökonomisches Verhältnis einzugehen und sie langfristig zu Reformen zu bewegen. Es war ein Versuch, diese autoritären Regime durch Austausch und Verflechtung zu zähmen. Als der Arabische Frühling begann, stürzten diese Regierungen. Das war das erste Anzeichen für die Türkei, dass ihre Null-Probleme-Außenpolitik nicht mehr funktionieren würde, denn die bisherigen Partner waren plötzlich nicht mehr an der Macht. Stattdessen forderten die Menschen in diesen Ländern demokratische Regierungen. Als sich Ankara dieser Forderung anschloss, gab es zugleich sein außenpolitisches Prinzip der „null Probleme mit den Nachbarn“ auf.

IP: War das ein bewusster Strategiewechsel?

Keyman: Man kann der türkischen Außenpolitik vorwerfen, diese Entwicklungen nicht früher wahrgenommen zu haben. In Syrien hat sie sie dann erkannt, vielleicht schon in Libyen, aber da war es zu spät, weil die Türkei so eng mit den Regimen verstrickt war. Wenn Ankara früher bemerkt hätte, dass ein Gezeitenwechsel ansteht, hätte es sich außenpolitisch anders aufstellen und vor allem mehr Distanz zum syrischen Regime wahren können.

IP: Fast hat man den Eindruck, in der Region spiele sich ein Weltkonflikt ab: Auf der einen Seite die Türkei, die USA, Saudi-Arabien, Katar und die Freie Syrische Armee, auf der anderen Seite das Assad-Regime, Russland, der Iran und China.

Keyman: Ja, die Türkei ist in eine schwierige außenpolitische Lage geraten. Sie sieht sich Kritik ausgesetzt, ihre Außenpolitik sei konfessionell geprägt und bewege sich entlang einer sunnitischen Achse. Das ist ein Desaster, denn das vorrangige außenpolitische Ziel war ja bisher, regionale Stabilität und ein dynamisches Wachstumsumfeld zu schaffen, ungeachtet konfessioneller Identitäten und Trennlinien.

IP: Die türkische Regierung ist dafür kritisiert worden, dass sie die syrischen Rebellen unterstützt.

Keyman: Die Türkei fordert zu Recht, dass Assad gehen muss. Doch die syrische Opposition bzw. die Freie Syrische Armee ist nicht wie die Opposition in Ägypten und Tunesien. Sie ist weder stark noch attraktiv genug, um in Syrien einen Regimewechsel herbeizuführen. Die Türkei hätte das rechtzeitig erkennen müssen. Assad ist angezählt, aber angesichts der schwachen Opposition ist er stark genug, sich irgendwie zu halten. Er wird von Russland und Iran gestützt, und die Handlungsunfähigkeit der USA und der Europäer spielt ihm zusätzlich in die Hände. Die Türkei hat nicht früh genug verstanden, dass die Opposition nicht nur schwächer ist als in Tunesien und Ägypten, sondern auch anders geartet – eine strategische Fehleinschätzung.

IP: Spitzt sich mit dem Syrien-Konflikt die Kurden-Frage im eigenen Land zu?

Keyman: Die Frage, was nach einem möglichen Sturz des Assad-Regimes mit den syrischen Kurden passieren wird, ist noch nicht beantwortet. Ankara entwickelt seine Beziehungen zu Masud Barzani und der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, um nach einem Sturz des Assad-Regimes kurdische Ansprechpartner zu haben, doch das allein wird nicht reichen. Die kurdische Frage schafft nicht nur Instabilität in der Türkei, sondern behindert auch die türkische Außenpolitik.

IP: Vor ein paar Wochen zwang die Türkei eine syrische Passagiermaschine aus Moskau zur Landung. Beschädigt der Konflikt nun auch die Beziehungen zu Russland?

Keyman: Nein, alle Beteiligten sind rationale Akteure. Konkurrenten zwar, die auf unterschiedlichen Seiten dieses Konflikts stehen, aber keine Feinde. Der Konflikt wird sich nicht auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern niederschlagen. Sowohl Russland als auch Iran bleiben wichtige Partner der türkischen Außenpolitik. Zwischen Ankara und Teheran gibt es natürlich ein gewisses Vertrauensdefizit, aber im Nuklearstreit nimmt die Türkei eine Vermittlerrolle ein, die Wiederaufnahme der EU3+3-Gespräche mit der iranischen Regierung fand in Istanbul statt. Und sehen Sie sich den türkisch-iranischen Goldmarkt an – ein wichtiger Markt für beide Länder, die Türkei verkauft viel Gold an den Iran. Man muss also unterscheiden zwischen den türkisch-iranisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen und den Positionen dieser Länder im Syrien-Konflikt.

IP: Nach dem Granatenbeschuss auf Akçakale wurde eine NATO-Sondersitzung einberufen. Die 27 weiteren NATO-Mitglieder sicherten der Türkei ihre Unterstützung zu und verurteilten den Angriff auf das Grenzdorf als „aggressiven Akt“. Glauben Sie, dass die Türkei in diesem Konflikt wieder näher an das westliche Sicherheitsbündnis heranrückt?

Keyman: Ankara hat zurzeit wenig Interesse an den EU-Türkei-Beziehungen, was nicht nur die Schuld der AKP-Regierung ist, sondern auch der anderen Seite. In der Türkei scheint man „den Westen“ mit „der NATO“ gleichzusetzen, nicht mit „der EU“. Unser Land will die Beziehungen zur NATO verbessern und mehr Engagement des Bündnisses in Syrien. Nach dem Granatenbeschuss kam von den NATO-Partnern allerdings nicht mehr als rhetorische Unterstützung, die, soweit ich das beurteilen kann, mit der Realität wenig zu tun hatte. Die Türkei wird in diesem Konflikt alleine gelassen.

IP: Was hat die Türkei in dieser Situation denn vom Westen erwartet?

Keyman: Man hätte eine Flugverbots- oder Pufferzone einrichten sollen. Die NATO-Länder hätten auch eine Erklärung abgeben können, dass sie bereit sind, militärisch vorzugehen, genau wie in Libyen. Selbst wenn sie gar nicht vorhaben, wirklich einzugreifen – eine solche Erklärung hätte schon geholfen. Doch diese Schritte sind nicht erfolgt. Wir haben viel rhetorische Unterstützung bekommen, was ja auch gut ist, es ist wichtig, dass die Türkei weiterhin auf Multilateralismus setzt und in einem breiten westlichen Bündnis agiert. Aber das sind alles Worte, sie allein bewirken nichts. Da war die Unterstützung Russlands und Irans für das Assad-Regime deutlich handfester.

IP: Halten Sie eine Pufferzone denn für sinnvoll?

Keyman: Für eine Pufferzone ist es jetzt etwas spät. Ich denke, die Haltbarkeitsdauer des Regimes und das Schicksal der Familie Assad werden eher durch das entschieden, was zwischen den USA, Europa, Türkei, Russland, Iran und China ausgehandelt wird, und durch die Frage, wie lange Russland und Iran noch an ihrer Unterstützung für Assad festhalten werden. Wir wissen ja, dass eine Pufferzone den Konflikt nicht beenden oder dazu führen würde, dass sich das Regime zurückzieht. Ich sehe darin keinen Nutzen. Viel wichtiger wäre im Moment, dass die internationale Gemeinschaft die humanitäre Krise erkennt, die sich an der türkisch-syrischen Grenze abspielt. Das ist eine internationale humanitäre Krise, und deshalb muss international gehandelt werden.

IP: Wie wirken sich die außenpolitische Krise und der Konflikt des türkischen Militärs mit der PKK auf den türkischen Demokratisierungsprozess aus?

Keyman: Seit den achtziger Jahren sind die kurdische Frage und der Kleinkrieg zwischen der türkischen Armee und der PKK die Haupthindernisse auf dem Weg zur Demokratie. Mit dem Syrien-Konflikt wird die Lage noch komplizierter. Einerseits erleben wir, dass die türkische Außenpolitik in Sachen Syrien mehr oder weniger handlungsunfähig ist, andererseits verübt die PKK wieder mehr Anschläge. Viele PKK-Anführer scheinen syrischer Herkunft zu sein, die Anzahl der syrischen PKK-Mitglieder in den Organisationen wächst. Die PKK nutzt das Vakuum, das mit dem Bürgerkrieg in Syrien entstanden ist, um Anschläge zu planen und zu verüben. Einige der kurdischen Akteure missverstehen den Arabischen Frühling, die Situation in Syrien und die Entwicklungen im Irak als Beginn einer neuen Zeit für die Kurden und die kurdische Frage. Sie glauben, die Zeit der Kurden sei endlich gekommen.

IP: Auch, weil sich die Autonome Region Kurdistan im Nordirak ausgesprochen positiv entwickelt ...

Keyman: Ja, das stimmt, aber ich denke, es ist ein Trugschluss zu glauben, die Zeit der türkischen Kurden sei gekommen. Natürlich spielen die Entwicklungen im Nordirak und in Syrien eine Rolle, und natürlich hat die kurdische Frage eine regionale Dimension. Aber an sich ist es eine nationale Frage par excellence, die national beantwortet werden muss. Es ist ein türkisches Problem, und die Türkei muss das Problem lösen.

IP: Wie gefährlich ist die gegenwärtige Lage?

Keyman: Meine größte Angst ist, dass sich dieser Konflikt in den Nahen Osten ausbreitet, beginnend mit dem Libanon. Ich hoffe, dass das nicht geschieht. Ich hoffe, dass Israel den Iran nicht angreift, denn wenn wir über die Türkei-Syrien-Beziehungen sprechen oder über die Syrien-Krise, dann geht es immer auch um die größeren Zusammenhänge.

Die Fragen stellte Luisa Seeling

Bibliografische Angaben

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