Die erweiterte EU als internationaler Akteur
Für eine gemeinschaftsorientierte Flexibilitätsstrategie
Die Erweiterung der Europäischen Union um weitere zehn Staaten, einst eine kaum denkbare Utopie und kühne Vision, ist mit dem Gipfel von Kopenhagen im Dezember 2002 Wirklichkeit geworden. Die beiden Autoren von der Universität Köln untersuchen die Außen- und Sicherheitspolitik der erweiterten EU und ihre künftigen Aufgaben als internationaler Akteur.
Die Erweiterung der Europäischen Union um weitere zehn Staaten ist mit dem Gipfel von Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002 von einer kaum denkbaren Utopie aus den Zeiten des Ost-West-Konflikts über eine kühne Vision der neunziger Jahre zur politischen Wirklichkeit avanciert.1 Wenn auch ihre Auswirkungen auf die internationale Rolle der EU kaum im Vordergrund der Beitrittsverhandlungen standen, so ist die Frage, wie sich eine Europäische Union mit 25 Mitgliedstaaten international positionieren kann, nicht ohne Brisanz. Schwächt oder steigert die Erweiterung das Wirken der EU im internationalen System?
Argumentiert wird dabei häufig mit der wachsenden Heterogenität einer erweiterten Union, die ein noch breiteres Spektrum historischer, kultureller, politischer und wirtschaftlicher Unterschiede unter ihrem Dach vereinen wird. Gemeinsames Handeln aller EU-Staaten im internationalen Raum könnte damit schwieriger werden. Als ein viel diskutierter Ausweg aus dieser Situation erscheinen derzeit Ansätze zur Flexibilisierung, die es einer Gruppe von Ländern ermöglichen sollen, außenpolitisch aktiv zu werden, ohne auf alle Mitgliedstaaten warten zu müssen und damit die gesamte Union zu binden. Doch derartige Gedankenspiele vermitteln häufig den trügerischen Anschein einer einfachen Alternative. Man sollte deshalb nicht voreilig den Anspruch auf eine insgesamt handlungsfähige EU aufgeben, sondern solche Ansätze müssen in einer ausgewogenen Kombination mit der Stärkung von gemeinschaftsbildenden Reformen stehen.
Es gilt nicht zuletzt, das Interesse der Neumitglieder an einer effektiven Union zu nutzen, deren internationales Gewicht durch die Erweiterung noch erhöht wird. Hierzu bedarf es institutioneller Reformen zur Verbesserung der Effektivität und Effizienz der Europäischen Union sowie der fortschreitenden Herausbildung einer gemeinsamen außenpolitischen Identität. Zu verstärken ist die Suche nach einer gemeinsamen Vision und Mission in einem zunehmend unsicheren internationalen Umfeld.
Die Herren der Verträge haben die Europäische Union durch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) seit dem Vertrag von Maastricht (1992) mit neuen Handlungsgrundlagen und Instrumenten ausgestattet, um international aufzutreten. Die Verträge von Amsterdam (1997) und Nizza (2001) haben diesen Set an institutionellen und prozeduralen Bestimmungen weiter ausgebaut und verfeinert, ohne jedoch den staatenzentrierten intergouvernementalen Grundcharakter zu verändern. In Krisensituationen wie bei der Bewältigung der Folgen des 11. September und der Irak-Frage blieb die EU trotz vieler Bemühungen blass. Auch die seit 1999 erfolgte Herausbildung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die der Union erstmals militärische Potenziale zuspricht und für Einsätze beim Krisenmanagement nutzbar machen soll, muss ihre Handlungsfähigkeit erst noch unter Beweis stellen.
Im Rahmen des Konvents (und mit Blick auf die nächste Regierungskonferenz 2004) werden derzeit über Nizza hinaus weitergehende Reformoptionen entworfen und diskutiert. Die neuen Mitgliedstaaten treten damit einer EU bei, deren institutionelle Gestaltung im Fluss ist und die ihre endgültige Form noch nicht gefunden hat. Die Beteiligung der Kandidatenländer an den Beratungen des Konvents zeugt von dem Bemühen der EU, diesen Wandlungsprozess offen zu halten und die Positionen der künftigen Mitgliedstaaten zur Kenntnis zu nehmen.
Die immer wiederkehrenden Diskussionen um Gestalt und Inhalt einer europäischen Außenpolitik zeugen von einer grundsätzlichen Unzufriedenheit, die sich aus einem Zwiespalt unter den jetzigen und vielleicht auch den künftigen Mitgliedstaaten ergibt: Einerseits streben die Regierungen eine kraftvolle internationale Rolle der EU an, anderseits wollen sie ihre eigene Gestaltungsmöglichkeiten nicht an gemeinsame Organe abgeben: Tony Blairs Formel von der EU als „Supermacht“, nicht aber als „Superstaat“, dokumentiert nachdrücklich diese Ambivalenz.
Reformbedarf
Die Erweiterung bringt vielfältige Herausforderungen mit sich, denen sich die Union künftig in ihrem internationalen Umfeld stellen muss.2 Sie muss lernen, mit veränderten Außengrenzen und damit auch mit anderen unmittelbaren Nachbarn umzugehen; sie wird dabei an politisch und ökonomisch teils instabile bisherige Randregionen stoßen, deren weitere Entwicklung sie unmittelbarer betreffen werden als bisher. Der Balkan rückt näher an die EU, auch osteuropäische Länder wie Russland, Weißrussland und die Ukraine. Die Europäische Union muss deshalb verstärkt auf Krisen und Konflikte in ihrer unmittelbaren Umgebung effektiv und vor allem zügig reagieren.
Intern bedeutet die Erweiterung vor allem eine Belastungsprobe für die bestehenden Regeln der Entscheidungsfindung. Im Bereich der GASP und der ESVP, die traditionell intergouvernemental strukturiert sind, stellen sich auf den ersten Blick höhere Hürden in den Weg als in vergemeinschafteten Politikfeldern, in denen mit Mehrheit abgestimmt werden kann. Einstimmigkeit mit 25 Mitgliedern herzustellen wird aller Voraussicht nach erhebliche Schwierigkeiten verursachen und kann zu beträchtlichen Verzögerungen führen, die im Falle internationaler Krisen die EU zur Tatenlosigkeit verurteilen könnten. Eine Lähmung der Union wäre die Folge, ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit bliebe entscheidend geschwächt. Reformen der bestehenden Verfahren erscheinen daher unerlässlich, will sich die Union als wirksamer Akteur auf der internationalen Ebene behaupten.
Eine weitere Dimension der Erweiterung ist schließlich in den Erwartungen und Orientierungen der Neumitglieder zu sehen. Das Einverständnis mit den Zielen der Politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion stellt eines der „Kopenhagener Kriterien“3 für die Aufnahme von Staaten in die EU dar, doch bleiben hier breite Spielräume für unterschiedliche nationale Interessen. Der Verweis auf die wachsende Heterogenität der EU im Zuge der Erweiterung wird nicht selten mit der Erwartung verknüpft, dass geographisch nahe liegende Länder künftig verstärkt regionale Initiativen ergreifen könnten, ohne an die gesamte EU zu denken: So würden die baltischen und skandinavischen Staaten eher auf die nördliche Dimension europäischer Sicherheit Wert legen, während südliche Länder enger am Mittelmeer-Raum ausgerichtet seien.
Bislang war es allerdings ein Vorteil der EU, dass sich alle Mitglieder mit den unterschiedlichen externen Partnern der Union befasst haben, wodurch eine Europäisierung und Internationalisierung ihrer Außenpolitik möglich wurde. Durch die EU-Mitgliedschaft wurden gewissermaßen auch die skandinavischen Länder Mittelmeer-Anrainer, so wie sich umgekehrt mediterrane EU-Staaten gleichsam an die mittel- und osteuropäische Grenze projizieren mussten, um gemeinsame europäische Ansätze zu diskutieren und zu erarbeiten.
Neben diesen Herausforderungen sind deshalb auch die zusätzlichen Potenziale zu berücksichtigen, die durch die Erweiterung freigesetzt werden. Neue Mitglieder, insbesondere die kleineren, wollen und können die EU nutzen, um weltpolitisch überhaupt ihre Stimme zur Geltung zu bringen. Zugespitzt formuliert: Wer hört schon auf Slowenien allein? Aus einem ursprünglich engen regionalen Blickwinkel kann sich mit der EU-Mitgliedschaft eine Projektionsfläche öffnen, die ein breiteres internationales Engagement dieser Länder ermöglicht. Auf Feldern, in denen die Union bislang bereits aktiv ist – wie etwa auf dem Balkan oder gegenüber Osteuropa – wären mit dem Einbezug dieser wahrscheinlich aktiven Neumitglieder neue Dynamiken zu erwarten.
Als kleinere Staaten sind viele Neumitglieder schließlich auch stark an der Einhaltung des gemeinsamen EU-Regelwerks interessiert – nicht zuletzt als Schutz vor dem Druck bzw. den Alleingängen der „Großen“; dies macht sie für eine stärkere Gemeinschaftsbildung durchaus aufgeschlossen. Für eine umfassende und optimale Reformdebatte sind mithin beide Aspekte – Herausforderungen wie Potenziale – angemessen zu berücksichtigen, um nicht zu übereilten und verkürzten Vorschlägen zu kommen.
Flexibilität als Lösung?
Um eine erweiterte EU auch im Bereich der GASP und ESVP international handlungsfähig zu gestalten, werden im Rahmen der aktuellen Debatte zur Zukunft der Union zahlreiche Beiträge und Vorschläge diskutiert. Effektivität und Effizienz, Transparenz und Demokratie bilden dabei häufig genannte und variierend kombinierte Stich- und Schlagworte.4
Zahlreiche Vorschläge bewegen sich um den Begriff der Flexibilität, der eine beträchtliche öffentliche und politische Aufmerksamkeit erfahren hat. Darunter fallen unterschiedliche Konzepte, die sich mit den Begriffen eines Kerneuropas, einer Pioniergruppe oder verschiedenen Formen eines Direktoriums verknüpfen. Vertraglich gilt das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit als Ausdruck einer flexiblen Handlungsweise innerhalb der EU.
In den Verhandlungen zum Vertrag von Nizza unterstützten die deutsche und französische Regierung die Einführung einer Klausel zur verstärkten Zusammenarbeit im zweiten Pfeiler (und hier mit einem besonderen Blick auf die ESVP), einen Ansatz, der aber von Großbritannien und anderen Ländern abgelehnt wurde.5 Ergebnis war ein Kompromiss, der die Einführung einer verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen der GASP unter bestimmten Konditionen zuließ, aber explizit „Fragen mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen“ (Art. 27 b EUV Nizza-Fassung) ausnahm. Statt dessen sollte sich die Anwendung auf die Umsetzung gemeinsamer Aktionen oder Standpunkte beschränken.
Die aktuelle Debatte im Rahmen des Konvents hat deshalb die Reformierung der verstärkten Zusammenarbeit in der zweiten Säule auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei werden Kernelemente der künftigen Entscheidungsfindung der GASP und ESVP berührt: der Beschluss über gemeinsame Aktionen, die Einbeziehung einer gegenseitigen Beistandsklausel nach Vorbild von Art. 5 des WEU-Vertrags, die Umsetzung von Krisenmanagementoperationen, die Definition von Konvergenzkriterien für eine europäische Verteidigungspolitik und die Schaffung von Formen rüstungsindustrieller Kooperation.6
Der jüngste deutsch-französische Vorschlag zur ESVP vom 22. November 2002 reflektiert ebenso eine derartige Logik, wenn er die Fortentwicklung zu einer Sicherheits- und Verteidigungsunion propagiert und insbesondere verschiedene Formen verstärkter Zusammenarbeit für multinationale Streitkräfte mit integrierten Führungskapazitäten, für die Verwaltung von Humanressourcen sowie die Erarbeitung gemeinsamer Doktrinen anregt.7 Insgesamt wird damit die Idee eines sicherheits- und verteidigungspolitischen Kerneuropas assoziiert.
Vernachlässigt wird aber bisweilen, dass der Rückgriff auf Flexibilität notwendige institutionelle Reformen in der GASP und der ESVP durchaus behindern oder sogar blockieren kann. Das frühzeitige Favorisieren von Konstellationen, in denen eine begrenzte Anzahl von Mitgliedstaaten weitergehende Formen der Kooperation vereinbart, mag nämlich die für alle Mitgliedstaaten notwendigen Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten schwächen und die Debatte um stärker integrative Ansätze an den Rand drängen. Der Anspruch, die institutionellen und prozeduralen Bestimmungen europäischer Außenpolitik zu reformieren, sollte aber zunächst auf die Machbarkeit möglichst umfassender Reformen abzielen. Selbst eine noch so imposante Teilgruppe von EU-Staaten könnte das Gewicht der Union insgesamt als Akteur der internationalen Politik nicht ersetzen.
Gerade die neuen Mitgliedstaaten scheinen an gemeinsamen EU-Politiken besonders interessiert, da ihnen dies einen weitmöglichen Einfluss auf die Union eröffnet und ihrem Bedürfnis nach gleichberechtigter Behandlung entgegenkommt. Wenn aber neue Mitgliedstaaten aufgrund mangelnder Fähigkeiten in bestimmten Feldern keine ausreichenden Partizipationsmöglichkeiten an einer verstärkten Zusammenarbeit sehen, könnte dies zu Frustrationen und Wahrnehmungen einer Zweiklassenmitgliedschaft führen.
Illusionen werden manchmal mit dem Konzept eines Direktoriums oder gar eines europäischen Sicherheitsrats, mit den großen Ländern als permanenten – vetofähigen – Mitgliedern, verknüpft. Unklar ist aber zunächst, wer zu diesem Kreis zu zählen ist; noch problematischer ist die Annahme, dass die Großen – wenn sie dann allein untereinander beraten können – einfacher zu einer klaren Position für die Union gelangen: Das Problem liegt nicht nur in dem Verhältnis kleiner zu großen Staaten, sondern auch im Verhältnis der Großen zueinander, wie die aktuelle Irak-Debatte eklatant offenbart.
Die Herausbildung von Direktorien muss deshalb mit großer Vorsicht betrachtet werden. Sollten die großen Mitgliedstaaten – oder einige davon – versuchen, ihre Rolle einseitig auszubauen, könnte dies nicht nur, aber vor allem, unter Neumitgliedern Widerstände wecken. Das Verhalten Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands nach dem 11. September 2001, als sich die Staats- und Regierungschefs der drei Länder im Oktober im belgischen Gent vor dem Europäischen Rat separat konsultierten, und das wenige Wochen später organisierte Treffen in London (mit erweiterter Teilnehmerzahl) haben erheblichen Unmut innerhalb der Europäischen Union verursacht.8 Vorwürfe mangelnder europäischer Solidarität und eines Aushöhlens des EU-Vertrags wurden laut. Derartige Initiativen treffen auf hochgradig empfindliche Stimmungslagen der übrigen Partnerländer.
Gemeinschaftsbildung
Neben der Debatte um die Flexibilität konzentrieren sich aktuelle Beiträge auf die Stärkung gemeinschaftsbildender Elemente in der GASP. Konkret im Gespräch finden sich derzeit unterschiedliche Vorschläge wie eine Fusion oder ein „doppelter Hut“ (double-hatting) des Hohen Repräsentanten und des für Außenbeziehungen zuständigen Kommissionsmitglieds, andererseits die Wahl eines Präsidenten des Europäischen Rates, der im Bereich der Außenvertretung der Union eine besondere Rolle spielen sollte – in Abstimmung mit dem Hohen Repräsentanten. Dieser wiederum könnte durch die Übernahme des Vorsitzes im Rat bei für Außenbeziehungen relevanten Fragen aufgewertet werden.
Unabhängig von der Vielfalt und mangelnden Kompatibilität derartiger Vorschläge stellt sich ein Kernproblem: Ohne einen deutlichen Kompetenztransfer auf die europäische Ebene bleiben derartige Ideen bruchstückhaft und lösen nicht die zu Beginn beschriebene Ambivalenz zwischen einer international handlungsfähigen Union und der Aufgabe nationaler Handlungsmöglichkeiten. Eine Erleichterung gemeinsamer Politikgestaltung kann auch durch noch so raffinierte institutionelle Arrangements nach intergouvernementalem Muster nicht ausreichend geleistet werden.
Es muss also ernsthaft die Stärkung der Gemeinschaftsbildung in Erwägung gezogen werden. So ist die Frage der Einführung von Mehrheitsentscheidungen zu prüfen, die in die GASP Eingang finden könnten, etwa zur Festlegung einer gemeinsamen Aktion oder einer gemeinsamen Position (auch ohne vorangehende einstimmige Verabschiedung einer Gemeinsamen Strategie durch den Europäischen Rat).9 Hier wären alle Mitglieder der EU an der Beschlussfassung beteiligt, und auch die möglicherweise überstimmten Staaten wären verpflichtet, Entscheidungen mitzutragen.
Die Vetooption bei Mehrheitsentscheidungen (Art. 23 Abs. 2 EUV) müsste ebenfalls einer kritischen Prüfung unterzogen werden, da sie deren Nutzung vorab erschwert; eine völlige Streichung würde jedenfalls das Blockadepotenzial minimieren. So wäre es auch möglich, vermehrte Anstrengungen in Hinblick auf gemeinsame Sichtweisen zu unternehmen, um eine übergreifende Identität der Union im internationalen System zu stärken, die bislang lediglich vertraglich beschworen wird (Art. 2 EUV). Hier bietet die Erweiterung die Chance zu einem grundlegenden Diskurs über die fundamentalen Ziele und Interessen aller EU-Staaten, die in konkreten Strategien und Doktrinen ihren Ausdruck finden sollten.
Für die ESVP wären Mehrheitsentscheidungen auf absehbare Zeit zu weit reichend, allerdings darf hier die Nutzung der konstruktiven Enthaltung bei Einstimmigkeit nicht unterschätzt werden. Der Vorteil wäre, dass alle EU-Staaten – alte wie neue Mitglieder – an allen Phasen des Entscheidungsprozesses beteiligt sind.
Im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit dagegen blieben die nicht beteiligten Länder von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen, würden aber an den Beratungen teilnehmen – eine Regelung, die in der Praxis zu einigen Unklarheiten führen kann: Wann genau etwa wäre der Beratungsprozess als beendet anzusehen, und wann könnte abgestimmt werden?
Die Rolle des Hohen Repräsentanten könnte ebenso gestärkt werden und eine deutlich unabhängigere Initiativ- und Entscheidungsfunktion erhalten, die als Ausdruck einer europäischen Vorgehensweise gilt. Auch im Rahmen der ESVP sollte der Aufbau militärischer Kapazitäten und die Umsetzung von Krisenmanagement-Operationen mit dem Anspruch auf eine umfassende Beteiligung der Mitgliedstaaten angestrebt werden.
Dies muss Formen der Flexibilität nicht ausschließen, vielmehr erscheint eine sinnvolle und systematische Zuordnung wünschenswert. Letztlich besteht die Herausforderung darin, keinen Strang von Reformoptionen in dogmatischer Eingleisigkeit zu verfolgen, sondern in einem konstruktiven Mix zu verknüpfen und für eine Weiterentwicklung der EU nutzbar zu machen.
Europäischer Handlungsbedarf
Auf keines der Elemente einer Reform der GASP und ESVP wird letztlich verzichtet werden können, um die erweiterte EU als Akteur der internationalen Politik handlungsfähig zu machen. Sowohl Flexibilität als auch die Stärkung von integrativen Ansätzen für alle Mitglieder werden sich in einer ausgewogenen Mischung befinden müssen. Flexibilität ohne umfassende integrative Reformen würde einer Fragmentierung der Europäischen Union Vorschub leisten, umgekehrt könnte eine EU ohne ausreichende Flexibilität gelähmt sein. Die Anforderungen ihres externen Umfelds machen aber eine aktive und wirksame Union notwendiger denn je. Gefragt ist deshalb eine gemeinschaftsorientierte Flexibilitätsstrategie, die den verschiedenen Bedürfnissen gerecht wird.
Wichtig erscheint dabei, die Prioritäten und die Reihenfolge zu beachten. Wenn vertraglich vereinbarte verstärkte Zusammenarbeit als „letztes Mittel“ (Art. 43a EUV Nizza-Fassung) erachtet wird, dann muss die realistische Möglichkeit bestehen, zuvor bereits zu Lösungen zu gelangen. Andernfalls würde das Bestreben nach gemeinsamem Vorgehen a priori entwertet. Die Erleichterung von Mehrheitsentscheidungen zum Beschluss über gemeinsame Aktionen sollte deshalb angegangen werden; so ist nicht einzusehen, weshalb etwa eine Wahlbeobachtung in Bosnien-Herzegowina nicht per se durch Mehrheitsbeschluss getroffen werden kann, ohne dass vorher Konsens hergestellt wurde. Nur für den Fall, dass eine Mehrheitsentscheidung scheitert, könnten dann einige Mitgliedstaaten über eine verstärkte Zusammenarbeit versuchen, eine gemeinsame Aktion in kleinerem Kreis durchzuführen. Hier wäre dann zu erwägen, ob eine Ermächtigung als erteilt gilt, sofern sich nicht eine Mehrheit dagegen ausspricht.
Im sensiblen Bereich der ESVP, wo Mehrheitsentscheidungen sich bislang noch besonders problematisch darstellen, sollte vorzugsweise über konstruktive Enthaltung vorgegangen werden (Art. 23 Abs. 1 EUV). Damit würden sich einzelne Mitgliedstaaten nicht an der Durchführung von Beschlüssen beteiligen, aber eine rechtliche Bindung für die gesamte EU akzeptieren. Die Bestimmung, wonach die Gesamtheit der gewogenen Stimmen, die sich der Enthaltung anschließen, ein Drittel nicht übersteigen darf (Art. 23 Abs. 1 EUV), sollte einer Überprüfung unterzogen werden, um eine größere Elastizität zu erreichen. Eine verstärkte Zusammenarbeit könnte dann nach Scheitern dieser Bemühungen eröffnet werden. Für die Nutzung der verstärkten Zusammenarbeit sollte zudem eine Finanzierung durch den EG-Haushalt erwogen werden, um die Anbindung an die Gemeinschaft, aber auch die Solidarität der Mitgliedstaaten zu unterstreichen.
Diese Regelungen würden insgesamt eine klare Präferenz für gemeinsames Vorgehen schaffen und der Flexibilität eine wirkliche Funktion als „letztes Mittel“ zuweisen. Gerade mit Blick auf die Erweiterung würde dies ein Signal dahingehend setzen, dass die Europäische Union bemüht ist, sich nicht frühzeitig in unterschiedliche Beteiligungsmuster auszudifferenzieren. Die neuen Mitglieder werden sicherlich auf eine möglichst gleichberechtigte und umfassende Präsenz hohen Wert legen.
Anmerkungen
1 Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Kopenhagen), 12. und 13.12. 2002, SN 400/02; vgl. die Auszüge auf S. 121 ff.
2 Vgl. Mathias Jopp, Elfriede Regelsberger, Jan Reckmann, Ansatzpunkte und Optionen zur institutionellen Weiterentwicklung von GASP und ESVP, in: integration, 25. Jg., Nr. 3/2002, S. 230–237, hier S. 230.
3 Vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Kopenhagen am 21. und 22. Juni 1993, in: Europa-Archiv, Nr. 13-14/1993, S. D 258 ff., hier S. D 264.
4 Vgl. Jopp u.a., a.a.O. (Anm. 2).
5 Vgl. Antonio Missiroli, Coherence, effectiveness, and flexibility for CFSP/ESDP, in: Erich Reiter, Reinhardt Rummel und Peter Schmidt (Hrsg.), Europas ferne Streitmacht, Chance und Schwierigkeiten der Europäischen Union beim Aufbau der ESVP, Hamburg, Berlin, Bonn 2002 (Forschungen zur Sicherheitspolitik, Band 6), S. 119–148.
6 Vgl. hierzu etwa das Mandat der Arbeitsgruppe für Außenpolitisches Handeln des Konvents, 10.9.2002, CONV 252/ 02, <http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00252d2.pdf> sowie der Arbeitsgruppe für Verteidigung des Konvents, 10.9.2002, CONV 246/02, <http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00246d2.pdf>.
7 Vgl. Gemeinsame deutsch-französische Vorschläge für den Europäischen Konvent zum Bereich Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, 22.11.2002, <http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00422d2.pdf>.
8 Vgl.hierzu Diedrichs und Wessels, Foreign Policy Making and Federal Structure. The Case of CFSP: The EU as a Model for a New Federal Actor?, in: International Conference on Federalism, Federalism in a Changing World – Learning from Each Other, St. Gallen 2003, S. 203–225 (in Vorbereitung).
9 Vgl. auch Jopp u.a., a.a.O.(Anm. 2), S. 232.
Internationale Politik 1, Januar 2003, S. 11 - 18