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01. Juli 2004

Die Erforschung des Weltraums

Ein Innovations- und Integrationsmotor für Europa?

Eine friedliche Exploration des Weltraums kann einen wesentlichen Beitrag zur „Idee Europa“
leisten. Daher fordert Jost Vielhaber, Leiter des „Berliner Forums Zukunft“, die Ausarbeitung
einer Explorationsstrategie, die als zentrale politische Aufgabe begriffen werden sollte, um den
Wissenschafts- und Technologiestandort Europa zu stärken.

Versandet die Idee Europa? Dieser Eindruck drängt sich
ausgerechnet in einer Phase auf, in der sich die
Europäische Union um zahlreiche Mitglieder erweitert und
in der eine europäische Verfassung Wirklichkeit werden
soll. Mit Europa verbinden sich allem Kommuniquépathos
der zahllosen Gipfeltreffen zum Trotz eine Reihe negativer
Urteile und Vorurteile – nicht nur in den Augen der

Bürger, sonder auch in denen der Funktionseliten: das
Bild eines kaum kontrollierbaren Brüsseler
Bürokratiekraken, zähe Entscheidungsprozesse,
phantasiearmes Durchwursteln und verbissene nationale
Verteilungskämpfe um Fördermittel. Die EU, so ein
gängiger Eindruck, kümmert sich sehr detailversessen
um die Normierung von Karamellbonbons, die Haltebedingungen von
Zierfischen und den pH-Wert von Zuchtzitronen, aber kaum um
drängende politische, wirtschaftliche und
gesellschaftliche Herausforderungen. So verwundert es nicht,
dass der Europagedanke mittlerweile an Glanz verloren hat.

Doch spiegelt der Meinungsbefund die tatsächlichen
Umstände zuverlässig wider? Bei der Antwort darauf
darf nicht aus dem Blickfeld geraten, dass sich die
EU-Kommission inzwischen Politik- und Themenfeldern zuwendet,
die wie geschaffen scheinen für eine multinationale
Politik, eine Politik kontinentaler Dimension. So erkennt die
Europäische Kommission in der Raumfahrt inzwischen neue
europäische Horizonte einer erweiterten Union wie es im
Weißbuch der Kommission zur Raumfahrt vom November 2003
ausgedrückt wird. Es handelt sich in vielen Passagen mehr
um eine Denkschrift als um eine Zusammenfassung des
europäischen Raumfahrtkonsenses. Gerade in Deutschland
werden die Ausführungen zu Finanzierungsfragen zum Teil
kritisch gesehen. Gleichwohl gibt sich das Weißbuch
überzeugt, dass Raumfahrttechnologien und -anwendungen
wertvolle Beiträge leisten können für

–  Wirtschaftswachstum, die Schaffung von
Arbeitsplätzen und die Steigerung der industriellen
Wettbewerbsfähigkeit,

–  die erfolgreiche Erweiterung der
Europäischen Union,

–  eine nachhaltige Entwicklung auf zahlreichen
Sektoren,

–  größere Sicherheit und bessere
Verteidigung für alle sowie

–  Armutsbekämpfung und
Entwicklungshilfe.

Gemeingut ist inzwischen der Gedanke, nur durch qualitative,
mit einer hohen Wertschöpfung verbundene
Arbeitsplätze werde es Europa künftig möglich
sein, seinen Wohlstand und seine Sicherheit auszubauen oder
zumindest zu erhalten. Diese Einsicht haben die Staats- und
Regierungschefs der Europäischen Union bereits im
März 2000 auf ihrem Gipfeltreffen in Lissabon
befördern wollen und eine Strategie zur Überwindung
der bestehenden Probleme erarbeitet, deren Umsetzung jedoch nur
schleppend vorankommt. Aber immerhin: Das Programm von Lissabon
weist den richtigen Weg. Das Weißbuch nimmt darauf in der
Sache Bezug und stellt klar: Raumfahrt ist keine alleinige
Forschungsangelegenheit mehr. Vielmehr gehören gerade
Raumfahrttechnologien und -anwendungen zu den besonders
geeigneten Instrumenten, die einen wesentlichen Beitrag dazu
leisten, um die Ziele der Lissaboner Strategie zu erreichen.
Jedoch fehlt noch in weiten Teilen Europas, gerade auch in
Deutschland, sowohl in der Gesellschaft als auch in Politik,
Medien und Wissenschaft ein „Raumfahrtbewusstsein“
für die Möglichkeiten, durch Raumfahrt irdischen
Nutzen zu stiften.

Ist Europas Raumfahrt überhaupt für die
anspruchsvollen anstehenden Aufgaben gerüstet? Die
Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts ist schwierig:
Einbrüche beim kommerziellen Satellitenmarkt, lange Zeit
defizitäres Trägergeschäft, Fragmentierung in
nationale Programme und rückläufige Budgets, nicht
zuletzt in Deutschland, kennzeichnen seit Jahren die Lage.

Europa holt auf

Gleichwohl versucht Europa mit großen Schritten,
Vorsprünge der USA bei relevanten Raumfahrtanwendungen
aufzuholen.

–  Das europäische
Satellitennavigationssystem Galileo will die kommerziellen
Möglichkeiten dieser Technologie für Europa
erschließen und Europas Staaten aus der Abhängigkeit
vom amerikanischen Global Positioning System (GPS)
befreien.

–  Mit der Initiative „Global Monitoring
for Environment and Security“ (GMES) wollen
Europäische Union und Europäische
Weltraumorganisation (ESA) weltraumgestützte Daten
für eine Vielzahl von Politikfeldern von der
Landschaftspolitik über die Infrastrukturpolitik bis hin
zu Krisenmanagementaufgaben und Sicherheitspolitik nutzbar
machen.

–  Mit einem Aktionsplan zur
Überbrückung des „digitalen Grabens“ soll
das Potenzial der verfügbaren Breitbandtechnologien
einschließlich der Satellitenkommunikation gerade
für die abgelegenen Regionen Europas ausgeschöpft
werden.

Alle Projekte sind dezidiert anwendungsorientiert und
schaffen neue bzw. bessere Infrastrukturen. Die genannten
Projekte korrespondieren überdies vorzüglich mit dem
Raumfahrtprogramm der Bundesregierung vom Mai 2001. Dieses
deutsche Programm anerkennt zwar die Berechtigung grundlegender
wissenschaftlicher Fragestellungen, postuliert aber
grundsätzlich eine – in den Augen der Kritiker
eindimensionale – Nutzer- und Bedarfsorientierung, die
als nicht ausreichend erscheint, um in der Raumfahrt selbst
Innovationen auszulösen.

Ein Tabu wird gebrochen

Inzwischen hat Europa die sicherheitspolitische und
militärische Dimension der Raumfahrt erkannt, die bei den
Supermächten des Kalten Krieges geradezu im Vordergrund
stand. Für die auch in Europa begonnene Realisierung des
Konzepts der vernetzen Operationsführung („Network
Centric Warfare“) für das gesamte Einsatzspektrum
von Streitkräften stellen Raumfahrtanwendungen
unerlässliche Voraussetzungen dar. Die Vernetzung des
Führungs-, Aufklärungs- und Waffenverbunds gelingt
kaum ohne den Gebrauch von Kommunikationssatelliten. Ohne
Satelliten für weiträumige Aufklärung bliebe der
militärische Aufklärungsverbund unvollständig.
Moderne Präzisionswaffen sind auf die exakte
Positionsbestimmung mittels eines „Global Navigation
Satellite System“ wie GPS oder Galileo angewiesen.

Zu den Hauptergebnissen des Konsultationsprozesses, der
durch die Vorlage eines Grünbuchs zur europäischen
Raumfahrtpolitik Anfang 2003 von der Europäischen
Kommission angestoßen wurde, zählt die Erkenntnis,
dass Raumfahrt ein unverzichtbares Schlüsselelement zur
Unterstützung der gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik sowie der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik darstellt. Die den meisten
Raumfahrtanwendungen innewohnende Eigenschaft, sowohl zivil als
auch militärisch/sicherheitspolitisch einsetzbar zu sein
(Dual-Use-Charakter), soll künftig gezielt genutzt werden.
Gegenwärtige Aktivitäten seien mit Blick auf eine
künftige europäische Rüstungsagentur besser zu
koordinieren.

Unklarheiten bestehen unterdessen noch im Verhältnis
des relativ neuen Raumfahrtakteurs EU zur ESA. Die ESA-Statuten
sehen eine „ausschließlich friedliche“
Betätigung vor. Doch der rigorose Standpunkt, der
weiterhin eine strikte institutionelle Trennung von zivilen und
militärischen Weltraumaktivitäten vorsieht, ist
inzwischen erodiert. Der innerhalb und außerhalb der ESA
begonnene Diskussionsprozess hat zu einer Neubewertung ihrer
Statuten geführt. Keineswegs sieht sich die ESA seitdem
mehr daran gehindert, an Weltraumaktivitäten für
sicherheits- und verteidigungspolitische Zwecke, zumindest in
der unteren Skala der Petersberg-Aufgaben, mitzuwirken. Am
Rande sei bemerkt, dass der durch die Ariane-Trägerrakete
gewährleistete autonome Zugang der Europäer zum All
von Beginn an eine unverkennbar sicherheitspolitische
Implikation besessen hat: nämlich Erpressbarkeiten zu
reduzieren.

Auch Deutschland, militärischer Raumfahrt
gegenüber traditionell reserviert, hat inzwischen einen
Positionswandel vollzogen. Der Koordinator der Bundesregierung
für die deutsche Luft- und Raumfahrt drückt dies in
seinem Bericht aus dem Jahre 2002 so aus: „Auch wenn
Deutschlands Raumfahrtpolitik und dementsprechend auch die
Raumfahrtindustrie bislang fast ausschließlich auf zivile
Anwendungen ausgerichtet waren, haben die Anwendungsfelder
Erdbeobachtung, Telekommunikation und Satellitennavigation auch
für die Bundeswehr Bedeutung. Mit der geplanten
Realisierung des Satellitenkommunikationssystems SATCOM-Bw und
des satellitengestützten Aufklärungssystems SAR-Lupe
vollzieht Deutschland den Einstieg in sicherheitspolitisch
begründete Raumfahrtanwendungen.“1

Die Material- und Ausrüstungsplanung der Bundeswehr
wird laut jüngster Weisung des Bundesministers der
Verteidigung an die Erfordernisse der vernetzten
Operationsführung angepasst. Das satellitengestützte
Kommunikationssystem SATCOMBw Stufe 2 soll die vorhandene
Ausrüstung durch „eigene Satelliten, verbesserte
Übertragungsfähigkeiten, gesicherte
Verfügbarkeiten, militärische Frequenzbänder und
Bodenstationen“ verbessern und komplettieren.2 Mit der
Beschaffung des Satellitensystems SAR-Lupe will der
Verteidigungsminister für die deutschen Streitkräfte
die „Fähigkeit zur allwetterfähigen abbildenden
weltweiten Überwachung und Aufklärung“ und
damit mehr Autonomie gewinnen.

Die amerikanische Herausforderung

So erfreulich diese Entwicklungen für die Durchsetzung
von Raumfahrtanwendungen sind, so bleiben bei einer Gesamtschau
doch offene Fragen: Reicht die Konzentration bzw.
Engführung auf zivile und militärische orbitale
Anwendungen aus, um auch künftig technologische
Innovationen auszulösen? Kann die strategische Stellung
Europas unter diesen Bedingungen gefestigt oder gar 
ausgebaut werden? Muss nicht vielmehr eine kohärente
Raumfahrtstrategie eine Balance zwischen anwendungsorientierter
Raumfahrt und grundlegenderen Weltraum-Vorhaben wahren? Wer
wären die Partner einer solchen Strategie?

Dazu zunächst ein Blick über den Atlantik. Mitte
Januar 2004 kündigte der amerikanische Präsident
George W. Bush ein Langzeitprogramm für die NASA an. Das
amerikanische Space Shuttle wird demnach als Auslaufmodell
betrachtet und nach Fertigstellung der Internationalen
Raumstation außer Dienst gestellt. Ein neues „Crew
Exploration Vehicle“ (CEV) soll – offensichtlich
als Mehrzweckinstrument gedacht – künftig das Space
Shuttle als Transportmittel zur Internationalen Raumstation
ersetzen und darüber hinaus für Forschungs- und
Erkundungseinsätze in den tieferen Weltraum dienen. Bush
kündigte unbemannte Flüge zum Mond bis zum Jahr 2008
sowie erste bemannte Missionen zum Trabanten zwischen 2015 und
2020 an. Im darauf folgenden Jahrzehnt sollen unbemannte
Missionen zum Mars folgen, bemannte Flüge aber erst dann,
wenn sie als durchführbar gelten. Verglichen mit dem
Apolloprogramm sind die Zeitansätze wenig ambitioniert,
was in der amerikanischen Raumfahrtgemeinde kritisch vermerkt
wurde. Diese Tatsache relativiert die Einwände, die den
Bush-Plan für unrealistisch und unfinanzierbar halten. In
der Öffentlichkeit blieben allerdings im Wesentlichen die
vagen Überlegungen zu bemannten Mars-Missionen haften.

Hinsichtlich des zu erwartenden Nutzens eines solchen
Explorationsprogrammes führte Bush aus: „Und auf
dieser Reise werden uns viele technologische Durchbrüche
gelingen. Wir wissen noch nicht, wo diese Durchbrüche
geschehen werden, aber wir können sicher sein, dass sie
kommen werden und dass unsere Anstrengungen sich vielfach
bezahlt machen werden.“3 In einer Anhörung des
Senats Ende Januar 2004 wurde hervorgehoben, dass das in
Aussicht gestellte Budget der NASA in den nächsten
fünf Jahren womöglich ausreiche, sich die wirklich
bedeutsamen Fragen des Budgets allerdings erst danach stellten.
Kritisch wurde ferner angemerkt, die Verkündung eines
solchen Explorationsprogramms ausgerechnet im
Präsidenten-Wahljahr könne letztlich die Realisierung
gefährden.

Europäische Beobachter sehen das Bush-Programm in eine
amerikanische Strategie der „Dual Space Dominance“
eingebettet, die eine Überlegenheit der USA sowohl
für den Erdorbit als auch für robotische und bemannte
Explorationsmissionen in den tieferen Weltraum anstrebt. Dabei
wird die Federfühung für den Erdorbit dem
amerikanischen Verteidigungsministerium und der
„intelligence community“ zugewiesen. Schrittweise
soll die Abwendung der NASA von Erdorbit-Missionen hin zur
Konzentration auf Aktivitäten im tieferen Raum erfolgen.
Damit würde der aus den siebziger Jahren stammende
Anspruch der NASA, die führende amerikanische Agentur
für sämtliche Raumfahrtaktivitäten zu sein, ein
Ende finden.

Europäische Vorarbeiten

Die Originalität in der Sache dürfen die
Europäer allerdings durchaus für sich beanspruchen,
da das vom ESA-Ministerrat in Edinburgh im Jahre 2001 beratene
Aurora-Programm bis 2015 robotische Missionen zu Mond und Mars
als Vorbereitung für bemannte Flüge in den Jahren
nach 2030 in Aussicht stellt. Aurora ist allerdings innerhalb
der ESA umstritten. Längst nicht alle ESA-Mitgliedstaaten
sind derzeit willens, sich zu beteiligen. Vor allem Berlin hat
Aurora vor dem Hintergrund des restriktiven deutschen
Raumfahrtprogramms bislang mit spitzen Fingern angefasst.

Die ebenfalls von der ESA initiierte „Human
Spaceflight Vision Group“ hat im Dezember 2003 explizite
Überlegungen für die Zukunft der bemannten Raumfahrt
in Europa vorgelegt. Aus Sicht der Gruppe sei es vor dem
Hintergrund des Unglücks des Space Shuttle
„Columbia“ im Februar 2003 nunmehr Zeit
„Europas Ambitionen in der von Menschen
durchgeführten Weltraumforschung kritisch zu
überarbeiten und neue Ziele und Herausforderungen für
die Zukunft zu identifizieren und dabei die bedeutenden
europäischen Fähigkeiten und Erfahrungen, die in den
letzen drei Jahrzehnten aufgebaut worden sind,
auszunutzen.“4

Die Gruppe schlägt die Errichtung einer permanent
besetzten Mondbasis um das Jahr 2025 vor, wobei „das
Mondbasis-Programm als gesellschaftliches Projekt, welches ein
breites Spektrum an sozialen, wirtschaftlichen,
wissenschaftlichen und techologischen Aspekten einbezieht,
betrachtet werden soll.“5 Damit solle ein Beitrag
für eine wissensbasierte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts
in Europa geleistet werden. Der Schlussbericht der Gruppe
enthält wertvolle Bausteine für eine als notwendig
erkannte umfassendere europäische Explorationsstrategie,
die den auch künftig geplanten Einzelmaßnahmen in
Verbindung mit zusätzlichen Anstrengungen einen ideellen
Überbau und einen programmatischen Rahmen verleihen soll.
Allerdings waren politische Entscheidungsträger an den
Diskussionen und Überlegungen der Gruppe nicht beteiligt.
Es mangelt außerdem noch an einer breiteren
gesellschaftlichen Basis für eine möglichst
konsensuale europäische Explorationsstrategie.

Trotz aller Vorbehalte und Einschränkungen, mit denen
man politische Aussagen in Wahljahren versehen muss, hat es
Bush mit seiner Rede verstanden, nicht nur an den Mythos des
amerikanischen Apolloprogramms anzuknüpfen, sondern mit
seinem Kooperationsangebot vor allem die europäischen
Länder unter Zugzwang zu setzen. Die europäischen
Staaten müssen sich nämlich entscheiden, ob und unter
welchen Bedingungen sie mit den weitaus finanzierungswilligeren
USA zusammen arbeiten wollen, oder ob sie ein
eigenständiges Programm – welcher
Größenordnung und Zielrichtung auch immer –
anstreben wollen. Dabei dürfen sie die Interessen der in
den letzten Jahren aufgrund der Einbrüche am
Satellitenmarkt angeschlagenen Raumfahrtindustrie nicht aus dem
Auge verlieren. Bei bisherigen Explorationsaktivitäten
– man denke etwa an Mars-Express – konnten in
Europa nationale Forschungs- und Fertigungsschwerpunkte
erfolgreich miteinander verbunden werden. Das dürfte auch
bei einem umfangreicheren Programm gelingen.

Wozu Weltraumforschung?

Welche Ziele sollen mit der Weltraumexploration verfolgt
werden, welche programmatischen Leitplanken müssten ein
Explorationsprogramm absichern? Wichtig wäre
zunächst, Weltraumexploration nicht nur als jeweils
wissenschaftliche Ein-Punkt-Mission zu begreifen, sondern auch
als technologische und politisch-kulturelle Aufgabe. In
Abgrenzung zu orbitalen Anwendungen umfasst die Exploration
sämtliche Aktivitäten der Raumfahrt, die von ihrer
Stoßrichtung her von der Erde wegführen, um ein
genaueres Verständnis für die Vorgänge im
Universum und auf spezifischen Himmelskörpern zu erhalten.
Dabei richtet sich das Interesse im Besonderen auf:

–  Grundlagenforschung (u.a. die Entstehung des
Universums, die Verbreitung von Leben im Universum und speziell
im Sonnensystem),

–  wissenschaftliche Forschung mit
Anwendungspotenzial,

–  Entwicklung und Transfer von Technologien in
andere Bereiche („spin offs“),

–  Erkundung und eventuell spätere
Ausbeutung von Ressourcen im erdnahen Raum des
Sonnensystems,

–  kulturelle, gesellschaftliche und politische
Rückwirkungen der Aktivitäten auf der Erde, vor allem
auch internationale Zusammenarbeit. Dieser Gesichtspunkt darf
gerade bei der Diskussion über die wissensbasierte
Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht vernachlässigt
werden.

Weltraumexploration kann dabei als Mittel Weltraumteleskope,
die Internationale Raumstation (ISS), Weltraumsonden (zum Mond,
zu Asteroiden, zu Planeten) einschließlich
Tiefraumsonden, die keine Himmelskörper als Ziele haben,
Orbiter, Landegeräte und Basen auf Himmelskörpern,
sowie bemannte Missionen jenseits der ISS einsetzen.

In Europas Raumfahrtgemeinde besteht aber längst noch
keine Einigkeit über eine solche Definition von
Exploration. Kulturelle Aspekte dürften vielen Kritikern
suspekt erscheinen, viele irdische Rückwirkungen
fragwürdig. Letzten Endes reduzieren derartige
Einwände strategische Vorhaben auf quantifizierbare
Erwartungen. Vielleicht wäre es daher sinnvoller,
zunächst zu überlegen, welchen übergeordneten
politischen Zielen vor dem Hintergrund des Programms von
Lissabon ein europäisches Weltraumexplorationsprogramm
dienen soll?

1. Europäische Identität

Eine gemeinsame Explorationsstrategie zur Erforschung des
Weltraums könnte ein Beispiel für eine erfolgreiche
europäische Zusammenarbeit und eine Konzentration
über alle nationalen Ambitionen hinaus geben. Das Programm
müsste durch seine Sichtbarkeit und Medienpräsenz
fest im Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit
verankert werden. Ein solches Leuchtfeuer könnte als ein
wesentlicher Baustein dazu beitragen, die grassierende
Europamüdigkeit zu überwinden, indem die
Leistungsfähigkeit und Problemlösungsfähigkeit
der Europäer unter Beweis gestellt wird. Bei einer
transatlantischen Kooperation wäre dies aber nur bei einem
nennenswerten europäischen Engagement deutlich oberhalb
von Programmnischen zu erreichen.

2. Stärkung der Wissenschaft

Raumfahrt, die die Weltraumbedingungen gezielt für
wissenschaftliche Experimente einsetzt, ist für zahlreiche
Disziplinen nutzbringend. Ohne Anspruch auf
Vollständigkeit sind die Biowissenschaften, die Physik und
die Geologie zu nennen. Nicht nur zweckfreie
Grundlagenforschung ist ein Ziel von Exploration. Erkenntnisse
der Weltraumwissenschaften fließen durchaus in
terrestrische Anwendungen ein. Auch gesellschaftliche
Rückwirkungen müssen angestrebt werden. So will die
Lissaboner Strategie die Begeisterung vor allem junger Menschen
für Wissenschaft und Technik wecken, nicht zuletzt um die
erforderlichen qualifizierten Arbeitskräfte für den
anspruchsvollen Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts
heranzubilden.

3. Technologische Innovation und ökonomischer
Nutzen

Was kann ein ambitioniertes Explorationsprogramm an
konkretem Nutzen für Europa einbringen? Eine exakte
Antwort fällt naturgemäß schwer, weil Zukunft
kaum in Zahlen und genauen technischen Anwendungen zu fassen
ist. Dennoch ist die Erwartung wahrscheinlich, dass durch ein
strahlkräftiges Explorationsprogramm in hohem Maße
mit neuen Fähigkeiten und Technologien zu rechnen sein
wird und kreative Eliten nicht nur in der Wissenschaft
beflügelt werden. Zweifelsohne sind Investitionen in
Forschungs- und Technologievorhaben mit Blick auf die
Ergebnisse und den Zeitplan stets riskant. Aber sie mit Verweis
darauf zu unterlassen, wäre gerade für eine
postindustrielle Gesellschaft fahrlässig. Der Aufstieg der
Mikroelektronik im Zuge des amerikanischen Apolloprogramms
dient als eindrucksvolles Beispiel für den technologischen
und ökonomischen „spin off“ der Raumfahrt.

4. Sicherheitspolitische Implikationen

Weltraumexplorationen dürften kaum von der
sicherheitspolitischen oder gar militärischen Relevanz
sein wie erdnahe Applikationen. Dennoch: Sollte sich eine
Nation wie die USA zu einem umfangreichen Explorationsprogramm
entschließen und dieses zu erheblichem technologischen
Fortschritt führen, entstünden für die
europäischen Staaten technologische Lücken, die in
ihrer Gesamtheit eine strategische Dimension annehmen
könnten. Europa sähe sich unter den Bedingungen einer
globalisierten Weltwirtschaft auf die Plätze verwiesen.
Vieles spricht daher für eine transatlantische
Partnerschaft. Ein Wettlauf in den Weltraum zwischen den USA
und Europa wäre nicht nur ressourcenintensiver. Er
würde die bisherigen transatlantischen Partner, deren
Verhältnis in den letzten Jahren unleugbaren Spannungen
ausgesetzt war, weiter voneinander entfremden. Europas
vergangene und gegenwärtige Leistungen im All zeigen indes
eindrucksvoll das technologische und wissenschaftliche
Potenzial der Alten Welt. Deshalb sollte sich Europa nicht mit
der Rolle eines Juniorpartners oder Nischenbesetzers zufrieden
geben, der sich von den Entscheidungen anderer abhängig
macht. Erfahrungen mit der amerikanischen Politik bei der
Internationalen Raumstation waren lehrreich. Wünschenswert
wäre daher eine gleichberechtigte Kooperation, bei der
Europa alle wesentlichen Technologien selbst beherrscht. Das
Gesamtprogramm würde so an Robustheit gewinnen.

Fazit

Die Überwindung der weit verbreiteten Europaskepsis ist
eine Aufgabe von historischer Größe. Die friedliche
Exploration des Weltraums hat das Vermögen, als
sinnstiftendes Element zur „Idee Europa“
beizutragen. Exploration darf dabei keineswegs als
Allheilmittel, wohl aber als wichtige Arznei für die
Stärkung des Wissenschafts- und Technologiestandorts
Europa, der unter den geänderten Bedingungen der
Globalisierung seinen Wohlstand wahren und mehren will,
begriffen werden.

Um die wissensbasierte Gesellschaft des 21. Jahrhundert
Wirklichkeit werden zu lassen, ist ein Bündel miteinander
verzahnter Maßnahmen notwendig: von der Bildungspolitik
über die Wirtschafts- und Forschungsförderung bis hin
zum radikalen Abbau musealer Strukturen in Wirtschaft
(Kohlesubventionen) und Gesellschaft (überdehnter
Wohlfahrtsstaat). Raumfahrt in ihren vielen Facetten scheint
besonders geeignet, die Ziele der Lissaboner Strategie zu
erreichen. Es ist deshalb an der Zeit, in Europa ernsthaft
über eine Explorationsstrategie nachzudenken und diesen
Prozess als zentrale politische Aufgabe zu begreifen, die nicht
allein technokratischen Schubladenexperten überlassen
werden darf. Sie würde der europäischen
Selbstbehauptung dienen.

Anmerkungen

1 Bericht des Koordinators für die
deutsche Luft- und Raumfahrt, Berlin 2002, S. 33<http://www.bmwi.de/Redaktion/Inhalte/Downloads/
Homepage_2Fdownload_2Fdoku_2FDoku501.pdf,property=pdf.pdf>.

2 Peter Struck, Neue Aufgaben –
neuer Kurs. Pressekonferenz des Bundesministers der
Verteidigung am 30. März 2004 in Berlin,<http://www.bmvg.de/archiv/reden/
minister/040330_struck_ausruestungsplanung.php>.

3 President Bush Announces New Vision
for Space Exploration Program, Washington, DC, 14.1.2004
<http://www.whitehouse.gov/news/
releases/2004/01/20040114-3.html>.

4 Human Spaceflight 2025. Moon: the 8th
Continent. Final Report of the Human Spaceflight Vision Group,
o.O., 2003, S. 11.

5 Ebenda., S. 53.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2004, S. 96-104

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