Die Erforschung des Weltraums
Ein Innovations- und Integrationsmotor für Europa?
Eine friedliche Exploration des Weltraums kann einen wesentlichen Beitrag zur „Idee Europa“
leisten. Daher fordert Jost Vielhaber, Leiter des „Berliner Forums Zukunft“, die Ausarbeitung
einer Explorationsstrategie, die als zentrale politische Aufgabe begriffen werden sollte, um den
Wissenschafts- und Technologiestandort Europa zu stärken.
Versandet die Idee Europa? Dieser Eindruck drängt sich ausgerechnet in einer Phase auf, in der sich die Europäische Union um zahlreiche Mitglieder erweitert und in der eine europäische Verfassung Wirklichkeit werden soll.
Doch spiegelt der Meinungsbefund die tatsächlichen Umstände zuverlässig wider? Bei der Antwort darauf darf nicht aus dem Blickfeld geraten, dass sich die EU-Kommission inzwischen Politik- und Themenfeldern zuwendet, die wie geschaffen scheinen für eine multinationale Politik, eine Politik kontinentaler Dimension. So erkennt die Europäische Kommission in der Raumfahrt inzwischen neue europäische Horizonte einer erweiterten Union wie es im Weißbuch der Kommission zur Raumfahrt vom November 2003 ausgedrückt wird. Es handelt sich in vielen Passagen mehr um eine Denkschrift als um eine Zusammenfassung des europäischen Raumfahrtkonsenses. Gerade in Deutschland werden die Ausführungen zu Finanzierungsfragen zum Teil kritisch gesehen. Gleichwohl gibt sich das Weißbuch überzeugt, dass Raumfahrttechnologien und -anwendungen wertvolle Beiträge leisten können für
– Wirtschaftswachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Steigerung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit,
– die erfolgreiche Erweiterung der Europäischen Union,
– eine nachhaltige Entwicklung auf zahlreichen Sektoren,
– größere Sicherheit und bessere Verteidigung für alle sowie
– Armutsbekämpfung und Entwicklungshilfe.
Gemeingut ist inzwischen der Gedanke, nur durch qualitative, mit einer hohen Wertschöpfung verbundene Arbeitsplätze werde es Europa künftig möglich sein, seinen Wohlstand und seine Sicherheit auszubauen oder zumindest zu erhalten. Diese Einsicht haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bereits im März 2000 auf ihrem Gipfeltreffen in Lissabon befördern wollen und eine Strategie zur Überwindung der bestehenden Probleme erarbeitet, deren Umsetzung jedoch nur schleppend vorankommt. Aber immerhin: Das Programm von Lissabon weist den richtigen Weg. Das Weißbuch nimmt darauf in der Sache Bezug und stellt klar: Raumfahrt ist keine alleinige Forschungsangelegenheit mehr. Vielmehr gehören gerade Raumfahrttechnologien und -anwendungen zu den besonders geeigneten Instrumenten, die einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, um die Ziele der Lissaboner Strategie zu erreichen. Jedoch fehlt noch in weiten Teilen Europas, gerade auch in Deutschland, sowohl in der Gesellschaft als auch in Politik, Medien und Wissenschaft ein „Raumfahrtbewusstsein“ für die Möglichkeiten, durch Raumfahrt irdischen Nutzen zu stiften.
Ist Europas Raumfahrt überhaupt für die anspruchsvollen anstehenden Aufgaben gerüstet? Die Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts ist schwierig: Einbrüche beim kommerziellen Satellitenmarkt, lange Zeit defizitäres Trägergeschäft, Fragmentierung in nationale Programme und rückläufige Budgets, nicht zuletzt in Deutschland, kennzeichnen seit Jahren die Lage.
Europa holt auf
Gleichwohl versucht Europa mit großen Schritten, Vorsprünge der USA bei relevanten Raumfahrtanwendungen aufzuholen.
– Das europäische Satellitennavigationssystem Galileo will die kommerziellen Möglichkeiten dieser Technologie für Europa erschließen und Europas Staaten aus der Abhängigkeit vom amerikanischen Global Positioning System (GPS) befreien.
– Mit der Initiative „Global Monitoring for Environment and Security“ (GMES) wollen Europäische Union und Europäische Weltraumorganisation (ESA) weltraumgestützte Daten für eine Vielzahl von Politikfeldern von der Landschaftspolitik über die Infrastrukturpolitik bis hin zu Krisenmanagementaufgaben und Sicherheitspolitik nutzbar machen.
– Mit einem Aktionsplan zur Überbrückung des „digitalen Grabens“ soll das Potenzial der verfügbaren Breitbandtechnologien einschließlich der Satellitenkommunikation gerade für die abgelegenen Regionen Europas ausgeschöpft werden.
Alle Projekte sind dezidiert anwendungsorientiert und schaffen neue bzw. bessere Infrastrukturen. Die genannten Projekte korrespondieren überdies vorzüglich mit dem Raumfahrtprogramm der Bundesregierung vom Mai 2001. Dieses deutsche Programm anerkennt zwar die Berechtigung grundlegender wissenschaftlicher Fragestellungen, postuliert aber grundsätzlich eine – in den Augen der Kritiker eindimensionale – Nutzer- und Bedarfsorientierung, die als nicht ausreichend erscheint, um in der Raumfahrt selbst Innovationen auszulösen.
Ein Tabu wird gebrochen
Inzwischen hat Europa die sicherheitspolitische und militärische Dimension der Raumfahrt erkannt, die bei den Supermächten des Kalten Krieges geradezu im Vordergrund stand. Für die auch in Europa begonnene Realisierung des Konzepts der vernetzen Operationsführung („Network Centric Warfare“) für das gesamte Einsatzspektrum von Streitkräften stellen Raumfahrtanwendungen unerlässliche Voraussetzungen dar. Die Vernetzung des Führungs-, Aufklärungs- und Waffenverbunds gelingt kaum ohne den Gebrauch von Kommunikationssatelliten. Ohne Satelliten für weiträumige Aufklärung bliebe der militärische Aufklärungsverbund unvollständig. Moderne Präzisionswaffen sind auf die exakte Positionsbestimmung mittels eines „Global Navigation Satellite System“ wie GPS oder Galileo angewiesen.
Zu den Hauptergebnissen des Konsultationsprozesses, der durch die Vorlage eines Grünbuchs zur europäischen Raumfahrtpolitik Anfang 2003 von der Europäischen Kommission angestoßen wurde, zählt die Erkenntnis, dass Raumfahrt ein unverzichtbares Schlüsselelement zur Unterstützung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik darstellt. Die den meisten Raumfahrtanwendungen innewohnende Eigenschaft, sowohl zivil als auch militärisch/sicherheitspolitisch einsetzbar zu sein (Dual-Use-Charakter), soll künftig gezielt genutzt werden. Gegenwärtige Aktivitäten seien mit Blick auf eine künftige europäische Rüstungsagentur besser zu koordinieren.
Unklarheiten bestehen unterdessen noch im Verhältnis des relativ neuen Raumfahrtakteurs EU zur ESA. Die ESA-Statuten sehen eine „ausschließlich friedliche“ Betätigung vor. Doch der rigorose Standpunkt, der weiterhin eine strikte institutionelle Trennung von zivilen und militärischen Weltraumaktivitäten vorsieht, ist inzwischen erodiert. Der innerhalb und außerhalb der ESA begonnene Diskussionsprozess hat zu einer Neubewertung ihrer Statuten geführt. Keineswegs sieht sich die ESA seitdem mehr daran gehindert, an Weltraumaktivitäten für sicherheits- und verteidigungspolitische Zwecke, zumindest in der unteren Skala der Petersberg-Aufgaben, mitzuwirken. Am Rande sei bemerkt, dass der durch die Ariane-Trägerrakete gewährleistete autonome Zugang der Europäer zum All von Beginn an eine unverkennbar sicherheitspolitische Implikation besessen hat: nämlich Erpressbarkeiten zu reduzieren.
Auch Deutschland, militärischer Raumfahrt gegenüber traditionell reserviert, hat inzwischen einen Positionswandel vollzogen. Der Koordinator der Bundesregierung für die deutsche Luft- und Raumfahrt drückt dies in seinem Bericht aus dem Jahre 2002 so aus: „Auch wenn Deutschlands Raumfahrtpolitik und dementsprechend auch die Raumfahrtindustrie bislang fast ausschließlich auf zivile Anwendungen ausgerichtet waren, haben die Anwendungsfelder Erdbeobachtung, Telekommunikation und Satellitennavigation auch für die Bundeswehr Bedeutung. Mit der geplanten Realisierung des Satellitenkommunikationssystems SATCOM-Bw und des satellitengestützten Aufklärungssystems SAR-Lupe vollzieht Deutschland den Einstieg in sicherheitspolitisch begründete Raumfahrtanwendungen.“1
Die Material- und Ausrüstungsplanung der Bundeswehr wird laut jüngster Weisung des Bundesministers der Verteidigung an die Erfordernisse der vernetzten Operationsführung angepasst. Das satellitengestützte Kommunikationssystem SATCOMBw Stufe 2 soll die vorhandene Ausrüstung durch „eigene Satelliten, verbesserte Übertragungsfähigkeiten, gesicherte Verfügbarkeiten, militärische Frequenzbänder und Bodenstationen“ verbessern und komplettieren.2 Mit der Beschaffung des Satellitensystems SAR-Lupe will der Verteidigungsminister für die deutschen Streitkräfte die „Fähigkeit zur allwetterfähigen abbildenden weltweiten Überwachung und Aufklärung“ und damit mehr Autonomie gewinnen.
Die amerikanische Herausforderung
So erfreulich diese Entwicklungen für die Durchsetzung von Raumfahrtanwendungen sind, so bleiben bei einer Gesamtschau doch offene Fragen: Reicht die Konzentration bzw. Engführung auf zivile und militärische orbitale Anwendungen aus, um auch künftig technologische Innovationen auszulösen? Kann die strategische Stellung Europas unter diesen Bedingungen gefestigt oder gar ausgebaut werden? Muss nicht vielmehr eine kohärente Raumfahrtstrategie eine Balance zwischen anwendungsorientierter Raumfahrt und grundlegenderen Weltraum-Vorhaben wahren? Wer wären die Partner einer solchen Strategie?
Dazu zunächst ein Blick über den Atlantik. Mitte Januar 2004 kündigte der amerikanische Präsident George W. Bush ein Langzeitprogramm für die NASA an. Das amerikanische Space Shuttle wird demnach als Auslaufmodell betrachtet und nach Fertigstellung der Internationalen Raumstation außer Dienst gestellt. Ein neues „Crew Exploration Vehicle“ (CEV) soll – offensichtlich als Mehrzweckinstrument gedacht – künftig das Space Shuttle als Transportmittel zur Internationalen Raumstation ersetzen und darüber hinaus für Forschungs- und Erkundungseinsätze in den tieferen Weltraum dienen. Bush kündigte unbemannte Flüge zum Mond bis zum Jahr 2008 sowie erste bemannte Missionen zum Trabanten zwischen 2015 und 2020 an. Im darauf folgenden Jahrzehnt sollen unbemannte Missionen zum Mars folgen, bemannte Flüge aber erst dann, wenn sie als durchführbar gelten. Verglichen mit dem Apolloprogramm sind die Zeitansätze wenig ambitioniert, was in der amerikanischen Raumfahrtgemeinde kritisch vermerkt wurde. Diese Tatsache relativiert die Einwände, die den Bush-Plan für unrealistisch und unfinanzierbar halten. In der Öffentlichkeit blieben allerdings im Wesentlichen die vagen Überlegungen zu bemannten Mars-Missionen haften.
Hinsichtlich des zu erwartenden Nutzens eines solchen Explorationsprogrammes führte Bush aus: „Und auf dieser Reise werden uns viele technologische Durchbrüche gelingen. Wir wissen noch nicht, wo diese Durchbrüche geschehen werden, aber wir können sicher sein, dass sie kommen werden und dass unsere Anstrengungen sich vielfach bezahlt machen werden.“3 In einer Anhörung des Senats Ende Januar 2004 wurde hervorgehoben, dass das in Aussicht gestellte Budget der NASA in den nächsten fünf Jahren womöglich ausreiche, sich die wirklich bedeutsamen Fragen des Budgets allerdings erst danach stellten. Kritisch wurde ferner angemerkt, die Verkündung eines solchen Explorationsprogramms ausgerechnet im Präsidenten-Wahljahr könne letztlich die Realisierung gefährden.
Europäische Beobachter sehen das Bush-Programm in eine amerikanische Strategie der „Dual Space Dominance“ eingebettet, die eine Überlegenheit der USA sowohl für den Erdorbit als auch für robotische und bemannte Explorationsmissionen in den tieferen Weltraum anstrebt. Dabei wird die Federfühung für den Erdorbit dem amerikanischen Verteidigungsministerium und der „intelligence community“ zugewiesen. Schrittweise soll die Abwendung der NASA von Erdorbit-Missionen hin zur Konzentration auf Aktivitäten im tieferen Raum erfolgen. Damit würde der aus den siebziger Jahren stammende Anspruch der NASA, die führende amerikanische Agentur für sämtliche Raumfahrtaktivitäten zu sein, ein Ende finden.
Europäische Vorarbeiten
Die Originalität in der Sache dürfen die Europäer allerdings durchaus für sich beanspruchen, da das vom ESA-Ministerrat in Edinburgh im Jahre 2001 beratene Aurora-Programm bis 2015 robotische Missionen zu Mond und Mars als Vorbereitung für bemannte Flüge in den Jahren nach 2030 in Aussicht stellt. Aurora ist allerdings innerhalb der ESA umstritten. Längst nicht alle ESA-Mitgliedstaaten sind derzeit willens, sich zu beteiligen. Vor allem Berlin hat Aurora vor dem Hintergrund des restriktiven deutschen Raumfahrtprogramms bislang mit spitzen Fingern angefasst.
Die ebenfalls von der ESA initiierte „Human Spaceflight Vision Group“ hat im Dezember 2003 explizite Überlegungen für die Zukunft der bemannten Raumfahrt in Europa vorgelegt. Aus Sicht der Gruppe sei es vor dem Hintergrund des Unglücks des Space Shuttle „Columbia“ im Februar 2003 nunmehr Zeit „Europas Ambitionen in der von Menschen durchgeführten Weltraumforschung kritisch zu überarbeiten und neue Ziele und Herausforderungen für die Zukunft zu identifizieren und dabei die bedeutenden europäischen Fähigkeiten und Erfahrungen, die in den letzen drei Jahrzehnten aufgebaut worden sind, auszunutzen.“4
Die Gruppe schlägt die Errichtung einer permanent besetzten Mondbasis um das Jahr 2025 vor, wobei „das Mondbasis-Programm als gesellschaftliches Projekt, welches ein breites Spektrum an sozialen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und techologischen Aspekten einbezieht, betrachtet werden soll.“5 Damit solle ein Beitrag für eine wissensbasierte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts in Europa geleistet werden. Der Schlussbericht der Gruppe enthält wertvolle Bausteine für eine als notwendig erkannte umfassendere europäische Explorationsstrategie, die den auch künftig geplanten Einzelmaßnahmen in Verbindung mit zusätzlichen Anstrengungen einen ideellen Überbau und einen programmatischen Rahmen verleihen soll. Allerdings waren politische Entscheidungsträger an den Diskussionen und Überlegungen der Gruppe nicht beteiligt. Es mangelt außerdem noch an einer breiteren gesellschaftlichen Basis für eine möglichst konsensuale europäische Explorationsstrategie.
Trotz aller Vorbehalte und Einschränkungen, mit denen man politische Aussagen in Wahljahren versehen muss, hat es Bush mit seiner Rede verstanden, nicht nur an den Mythos des amerikanischen Apolloprogramms anzuknüpfen, sondern mit seinem Kooperationsangebot vor allem die europäischen Länder unter Zugzwang zu setzen. Die europäischen Staaten müssen sich nämlich entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen sie mit den weitaus finanzierungswilligeren USA zusammen arbeiten wollen, oder ob sie ein eigenständiges Programm – welcher Größenordnung und Zielrichtung auch immer – anstreben wollen. Dabei dürfen sie die Interessen der in den letzten Jahren aufgrund der Einbrüche am Satellitenmarkt angeschlagenen Raumfahrtindustrie nicht aus dem Auge verlieren. Bei bisherigen Explorationsaktivitäten – man denke etwa an Mars-Express – konnten in Europa nationale Forschungs- und Fertigungsschwerpunkte erfolgreich miteinander verbunden werden. Das dürfte auch bei einem umfangreicheren Programm gelingen.
Wozu Weltraumforschung?
Welche Ziele sollen mit der Weltraumexploration verfolgt werden, welche programmatischen Leitplanken müssten ein Explorationsprogramm absichern? Wichtig wäre zunächst, Weltraumexploration nicht nur als jeweils wissenschaftliche Ein-Punkt-Mission zu begreifen, sondern auch als technologische und politisch-kulturelle Aufgabe. In Abgrenzung zu orbitalen Anwendungen umfasst die Exploration sämtliche Aktivitäten der Raumfahrt, die von ihrer Stoßrichtung her von der Erde wegführen, um ein genaueres Verständnis für die Vorgänge im Universum und auf spezifischen Himmelskörpern zu erhalten. Dabei richtet sich das Interesse im Besonderen auf:
– Grundlagenforschung (u.a. die Entstehung des Universums, die Verbreitung von Leben im Universum und speziell im Sonnensystem),
– wissenschaftliche Forschung mit Anwendungspotenzial,
– Entwicklung und Transfer von Technologien in andere Bereiche („spin offs“),
– Erkundung und eventuell spätere Ausbeutung von Ressourcen im erdnahen Raum des Sonnensystems,
– kulturelle, gesellschaftliche und politische Rückwirkungen der Aktivitäten auf der Erde, vor allem auch internationale Zusammenarbeit. Dieser Gesichtspunkt darf gerade bei der Diskussion über die wissensbasierte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nicht vernachlässigt werden.
Weltraumexploration kann dabei als Mittel Weltraumteleskope, die Internationale Raumstation (ISS), Weltraumsonden (zum Mond, zu Asteroiden, zu Planeten) einschließlich Tiefraumsonden, die keine Himmelskörper als Ziele haben, Orbiter, Landegeräte und Basen auf Himmelskörpern, sowie bemannte Missionen jenseits der ISS einsetzen.
In Europas Raumfahrtgemeinde besteht aber längst noch keine Einigkeit über eine solche Definition von Exploration. Kulturelle Aspekte dürften vielen Kritikern suspekt erscheinen, viele irdische Rückwirkungen fragwürdig. Letzten Endes reduzieren derartige Einwände strategische Vorhaben auf quantifizierbare Erwartungen. Vielleicht wäre es daher sinnvoller, zunächst zu überlegen, welchen übergeordneten politischen Zielen vor dem Hintergrund des Programms von Lissabon ein europäisches Weltraumexplorationsprogramm dienen soll?
1. Europäische Identität
Eine gemeinsame Explorationsstrategie zur Erforschung des Weltraums könnte ein Beispiel für eine erfolgreiche europäische Zusammenarbeit und eine Konzentration über alle nationalen Ambitionen hinaus geben. Das Programm müsste durch seine Sichtbarkeit und Medienpräsenz fest im Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit verankert werden. Ein solches Leuchtfeuer könnte als ein wesentlicher Baustein dazu beitragen, die grassierende Europamüdigkeit zu überwinden, indem die Leistungsfähigkeit und Problemlösungsfähigkeit der Europäer unter Beweis gestellt wird. Bei einer transatlantischen Kooperation wäre dies aber nur bei einem nennenswerten europäischen Engagement deutlich oberhalb von Programmnischen zu erreichen.
2. Stärkung der Wissenschaft
Raumfahrt, die die Weltraumbedingungen gezielt für wissenschaftliche Experimente einsetzt, ist für zahlreiche Disziplinen nutzbringend. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind die Biowissenschaften, die Physik und die Geologie zu nennen. Nicht nur zweckfreie Grundlagenforschung ist ein Ziel von Exploration. Erkenntnisse der Weltraumwissenschaften fließen durchaus in terrestrische Anwendungen ein. Auch gesellschaftliche Rückwirkungen müssen angestrebt werden. So will die Lissaboner Strategie die Begeisterung vor allem junger Menschen für Wissenschaft und Technik wecken, nicht zuletzt um die erforderlichen qualifizierten Arbeitskräfte für den anspruchsvollen Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts heranzubilden.
3. Technologische Innovation und ökonomischer Nutzen
Was kann ein ambitioniertes Explorationsprogramm an konkretem Nutzen für Europa einbringen? Eine exakte Antwort fällt naturgemäß schwer, weil Zukunft kaum in Zahlen und genauen technischen Anwendungen zu fassen ist. Dennoch ist die Erwartung wahrscheinlich, dass durch ein strahlkräftiges Explorationsprogramm in hohem Maße mit neuen Fähigkeiten und Technologien zu rechnen sein wird und kreative Eliten nicht nur in der Wissenschaft beflügelt werden. Zweifelsohne sind Investitionen in Forschungs- und Technologievorhaben mit Blick auf die Ergebnisse und den Zeitplan stets riskant. Aber sie mit Verweis darauf zu unterlassen, wäre gerade für eine postindustrielle Gesellschaft fahrlässig. Der Aufstieg der Mikroelektronik im Zuge des amerikanischen Apolloprogramms dient als eindrucksvolles Beispiel für den technologischen und ökonomischen „spin off“ der Raumfahrt.
4. Sicherheitspolitische Implikationen
Weltraumexplorationen dürften kaum von der sicherheitspolitischen oder gar militärischen Relevanz sein wie erdnahe Applikationen. Dennoch: Sollte sich eine Nation wie die USA zu einem umfangreichen Explorationsprogramm entschließen und dieses zu erheblichem technologischen Fortschritt führen, entstünden für die europäischen Staaten technologische Lücken, die in ihrer Gesamtheit eine strategische Dimension annehmen könnten. Europa sähe sich unter den Bedingungen einer globalisierten Weltwirtschaft auf die Plätze verwiesen. Vieles spricht daher für eine transatlantische Partnerschaft. Ein Wettlauf in den Weltraum zwischen den USA und Europa wäre nicht nur ressourcenintensiver. Er würde die bisherigen transatlantischen Partner, deren Verhältnis in den letzten Jahren unleugbaren Spannungen ausgesetzt war, weiter voneinander entfremden. Europas vergangene und gegenwärtige Leistungen im All zeigen indes eindrucksvoll das technologische und wissenschaftliche Potenzial der Alten Welt. Deshalb sollte sich Europa nicht mit der Rolle eines Juniorpartners oder Nischenbesetzers zufrieden geben, der sich von den Entscheidungen anderer abhängig macht. Erfahrungen mit der amerikanischen Politik bei der Internationalen Raumstation waren lehrreich. Wünschenswert wäre daher eine gleichberechtigte Kooperation, bei der Europa alle wesentlichen Technologien selbst beherrscht. Das Gesamtprogramm würde so an Robustheit gewinnen.
Fazit
Die Überwindung der weit verbreiteten Europaskepsis ist eine Aufgabe von historischer Größe. Die friedliche Exploration des Weltraums hat das Vermögen, als sinnstiftendes Element zur „Idee Europa“ beizutragen. Exploration darf dabei keineswegs als Allheilmittel, wohl aber als wichtige Arznei für die Stärkung des Wissenschafts- und Technologiestandorts Europa, der unter den geänderten Bedingungen der Globalisierung seinen Wohlstand wahren und mehren will, begriffen werden.
Um die wissensbasierte Gesellschaft des 21. Jahrhundert Wirklichkeit werden zu lassen, ist ein Bündel miteinander verzahnter Maßnahmen notwendig: von der Bildungspolitik über die Wirtschafts- und Forschungsförderung bis hin zum radikalen Abbau musealer Strukturen in Wirtschaft (Kohlesubventionen) und Gesellschaft (überdehnter Wohlfahrtsstaat). Raumfahrt in ihren vielen Facetten scheint besonders geeignet, die Ziele der Lissaboner Strategie zu erreichen. Es ist deshalb an der Zeit, in Europa ernsthaft über eine Explorationsstrategie nachzudenken und diesen Prozess als zentrale politische Aufgabe zu begreifen, die nicht allein technokratischen Schubladenexperten überlassen werden darf. Sie würde der europäischen Selbstbehauptung dienen.
Anmerkungen
1 Bericht des Koordinators für die deutsche Luft- und Raumfahrt, Berlin 2002, S. 33<http://www.bmwi.de/Redaktion/Inhalte/Downloads/ Homepage_2Fdownload_2Fdoku_2FDoku501.pdf,property=pdf.pdf>.
2 Peter Struck, Neue Aufgaben – neuer Kurs. Pressekonferenz des Bundesministers der Verteidigung am 30. März 2004 in Berlin,<http://www.bmvg.de/archiv/reden/ minister/040330_struck_ausruestungsplanung.php>.
3 President Bush Announces New Vision for Space Exploration Program, Washington, DC, 14.1.2004 <http://www.whitehouse.gov/news/ releases/2004/01/20040114-3.html>.
4 Human Spaceflight 2025. Moon: the 8th Continent. Final Report of the Human Spaceflight Vision Group, o.O., 2003, S. 11.
5 Ebenda., S. 53.
Internationale Politik 7, Juli 2004, S. 96-104
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