Die Bildung des Menschen ist unantastbar
... und mehr als nur ein Wirtschaftsfaktor
Bildungssysteme vermitteln Qualifikationen. Aber Bildung ist weit mehr als der Erwerb von Zertifikaten: Sie ist ein Vehikel für soziale Integration und soll alle Menschen in die Lage versetzen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Bilanz der sechs Weltbildungsziele von Dakar allerdings zeigt, dass wir davon noch weit entfernt sind.
So mancher könnte den Überblick verlieren angesichts der Vielzahl von Bildungsberichten. Zu den jährlich erscheinenden Berichten gehören das OECD-Kompendium „Bildung auf einen Blick“, der UNESCO-Weltbildungsbericht „Bildung für alle“ oder die Fortschrittsberichte der Europäischen Union zu den 2002 formulierten Lissabon-Bildungszielen. Immer wieder im Mittelpunkt der bildungspolitischen Diskussionen stehen die regelmäßig erscheinenden Schulleistungsstudien des Programms zur internationalen Schülerbewertung (PISA) oder die Grundschul-Lese-Untersuchung (PIRLS) der OECD. Zu den international vergleichenden Studien gesellen sich in Deutschland zudem der seit 2006 alle zwei Jahre erscheinende Nationale Bildungsbericht und eine Vielzahl von Bildungsberichten der Bundesländer, Regionen und Kommunen. Ähnliche Berichterstattungen auf nationaler Ebene kennen wir aus den USA, Kanada, Schweden, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und der Schweiz.
Der Zweck dieser Bildungsberichte ist recht unstrittig. In regelmäßigen Abständen sollen sie der Öffentlichkeit darüber Auskunft geben, was die Bildungssysteme leisten und ob es ihnen gelingt, die an sie gestellten gesellschaftlichen Anforderungen zu erfüllen. Insofern liefern sie Informationen darüber, wo für die Bildungspolitik Veränderungsbedarf und Gestaltungsmöglichkeiten bestehen und welche Fortschritte oder auch Rückschritte mit durchgeführten Bildungsreformen gemacht wurden.
Was aber messen wir eigentlich mit diesen Bildungsberichten? Wollen wir Bildung nur unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zum Volkseinkommen betrachten und die Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen in den Blick nehmen oder geht es uns jenseits ökonomischer Verwertungsaspekte auch um andere Aspekte der Bildung, wie z.B. die Frage, ob das Bildungssystem soziale Ungleichheit verfestigt und legitimiert oder Chancengleichheit herstellt? Spielt die Funktion der Bildung für die Vermittlung gesellschaftlicher Werte und Integration eine Rolle? Und weiter: Was sind die vordringlichsten Handlungsfelder in der Bildungspolitik angesichts der heutigen Wissensgesellschaft? Vor welchen Herausforderungen stehen die Bildungssysteme in den einzelnen Ländern, nicht nur in der OECD-Welt, sondern auch in Lateinamerika, Asien oder Afrika?
Bildung ermöglicht politische Beteiligung
Die Bildungsberichte ermöglichen uns abzuschätzen, inwieweit die Bildungssysteme auf die Herausforderungen der demografischen Entwicklung und die veränderten Anforderungen auf den Arbeitsmärkten vorbereitet sind. Während in Afrika und Asien die Bevölkerung überproportional wächst und die Bildungssysteme angesichts steigender Schülerzahlen unter Anpassungsdruck stehen, sieht Europa einem Bevölkerungsrückgang entgegen. Ein bevölkerungsärmeres und älteres Europa wird zukünftig Probleme haben, seinen Arbeitsmärkten die benötigten Personen zur Verfügung zu stellen.
Zu den demografischen Veränderungen kommen andere Tätigkeitsanforderungen auf den Arbeitsmärkten von morgen. Die Änderungen in der Arbeitswelt fordern nicht nur die OECD-Mitgliedsstaaten, sondern auch die Schwellen- und Entwicklungsländer heraus. Bildung und Handlungskompetenzen sind unabdingbare Voraussetzungen, um an der Wissensgesellschaft teilhaben zu können. Arbeit ist zukünftig in einen stärkeren Kommunikations- und Wissenszusammenhang eingebettet. Sie ist nicht mehr, wie in der Industriegesellschaft, um die maschinelle Erzeugung von Standardprodukten organisiert, sondern auf die flexible, kundenbezogene Bereitstellung innovativer, qualitativ hochwertiger Produkte und Dienstleistungen gerichtet. Damit verändern sich zugleich die Qualifikationsanforderungen an die Erwerbstätigen. Der Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt lässt insbesondere mit der Expansion hochwertiger, forschungs- und entwicklungsintensiver Produkte und Dienstleistungen nur noch wenig Raum für Niedriggebildete.
Die Herausforderung an die Bildungssysteme besteht jedoch nicht nur in der Bereitstellung von qualifizierten Arbeitskräften. Bildung ist auch ein Vehikel für soziale Integration in immer heterogener werdenden Gesellschaften. Länder sollten daher nicht nur bestrebt sein, ein hohes durchschnittliches Leistungsniveau zu erzielen, sondern dieses auch für einen möglichst großen Teil der Schülerschaft zu erreichen. Eine gute Schul- und Berufsausbildung ist ein nachhaltiges Instrument, um Menschen die Teilhabe am Leben der Gesellschaft überhaupt erst zu ermöglichen. Bildung ist daher auch Bürgerrecht, wie es der Soziologe Ralf Dahrendorf 1965 formulierte, und, gemäß dem UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz Villalobos, Menschenrecht. Verstanden als Instrument der Demokratisierung ermöglicht Bildung die politische -Beteiligung und die Schaffung einer sozialen Grundlage für Demokratie durch wirtschaftliche Entwicklung und Reduzierung von sozialer Ungleichheit.
Kompetenz statt Zertifikat
Bislang wurde Bildung vor allem über die Dauer des Schulbesuchs und der Ausbildung oder anhand von Zertifikaten, d.h. durch den höchsten erreichten Abschluss in Schule und Ausbildung, gemessen. Als zertifikatsarm können nach Definition der Soziologin Jutta Allmendinger alle Personen ohne jeglichen Abschluss und als zertifikatsreich jene mit Hochschulausbildung bezeichnet werden. Im Bezug auf Bildungsabschlüsse können wir auch ermitteln, wie gleich oder ungleich der Zugang zu Zertifikaten ist.
Seit kurzem stehen der empirischen Bildungsforschung weitere Maßzahlen zur Verfügung, nämlich Maße für kognitive Kompetenzen. Diese werden im Zuge ganz unterschiedlicher Untersuchungen für Angehörige verschiedener Altersstufen erhoben. Kompetenztests sind verlässlicher als Zertifikate, denn es sind in allen Teilnahmeländern die gleichen Tests, die bearbeitet werden. Am bekanntesten ist die bereits erwähnte PISA-Studie, die international breit ansetzend Kompetenzen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften misst. Auf Grundlage dieser Kompetenzmessungen lassen sich absolute und relative Maße von Kompetenzarmut und Kompetenzreichtum bestimmen. Mit Hilfe der Kompetenzmessungen können wir ermitteln, inwieweit qualitative Bildungsunterschiede innerhalb eines Landes, aber auch zwischen den Ländern nach bestimmten Merkmalen vorliegen, wie etwa nach sozialer Herkunft, Geschlecht, Region oder Migrationshintergrund.
Bildung ist allerdings nicht nur Qualifikation im Sinne von Bildungsabschlüssen oder kognitiven Kompetenzen, sondern muss die Menschen gleichzeitig dazu befähigen, emotionale und kreative Potenziale zu entfalten. War in der Industriegesellschaft das Bildungssystem auf die Vermittlung sprachlicher, naturwissenschaftlicher oder technischer Inhalte ausgerichtet, werden in der Wissensgesellschaft zusätzlich Kreativität, soziale Kompetenz sowie Fähigkeiten zum selbständigen Problemlösen und zur Teamarbeit in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft immer wichtiger. Der Ansatz der Verwirklichungschancen („approach of capabilities“) des Ökonomie-Nobelpreisträgers Amartya Sen und der Rechtsphilosophin Martha Nussbaum greift diesen umfassenderen Bildungsbegriff auf. Der Wohlstand einer Gesellschaft bemisst sich nicht nur am Einkommen, sondern auch daran, inwieweit eine Gesellschaftsordnung den Fähigkeiten („capabilities“) von Menschen gerecht wird. Nach dem Ansatz von Sen und Nussbaum sollen Individuen in die Lage versetzt werden, ein Leben zu führen, für das sie sich aus individuellen Gründen entschieden haben und über das sie selbstbestimmt verfügen können.
Die Fähigkeiten eines Menschen werden dabei nicht nur auf Wissens-bestände reduziert. Damit Menschen ein würdiges Leben führen können, müssen sie auch in der Lage sein, ihre fünf Sinne zu benutzen, zu phantasieren, zu denken und zu urteilen. Sie müssen fähig sein, Bindungen zu Menschen in Freundschaften, im Gemeinschaftsleben und zur Natur zu unterhalten. Menschen müssen Autonomie und Subjektivität ausbilden, um das eigene Leben selbst-bestimmt leben zu können. Die Betonung dieser Fähigkeiten geht über den engen Bildungsbegriff der Schulleistungsstudien hinaus, der sich auf Bildungsabschlüsse und Kompetenzen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften stützt. Der Capabilities-Ansatz hat Eingang gefunden im „Human Development Index“, den die Vereinten Nationen ihren globalen Entwicklungsberichten zugrunde legen. Gleichsam findet er sich auch in den Weltbildungsberichten der UNESCO wieder.
Früh fördern, Lernchancen verbessern
Die demografische Entwicklung und veränderte Anforderungen auf den Arbeitsmärkten von morgen setzen nicht nur in den OECD-Ländern die Systeme von Bildung, Ausbildung und Weiterbildung unter Druck. Die wachsende -globale Interdependenz und Arbeitsteilung fordern die Bildungssysteme von OECD-, Schwellen- und Entwicklungsländern gleichermaßen heraus. Inwieweit die einzelnen Regionen der Welt angesichts der demografischen Entwicklungen und den veränderten Anforderungen auf den Arbeitsmärkten gut aufgestellt sind, darüber informieren seit 2002 die jährlichen Weltbildungsberichte „Bildung für alle“ der UNESCO. Diese evaluieren die Fortschritte in den Bildungszielen, auf die sich im Rahmen des Weltbildungsforums 2000 in Dakar/Senegal 164 Länder verpflichtet haben. Konkret einigten sich die Länder auf sechs Bildungsziele, die bis zum Jahr 2015 erreicht werden sollen. Diese Ziele umfassen:
- Ausbau der frühkindlichen Bildung
- flächendeckende Grundschulbildung
- Verbesserung der Lernchancen
- Erhöhung des Alphabetisierungsgrads von Jugendlichen und Erwachsenen
- Schaffung von mehr Chancengleichheit
- Verbesserung der Qualität von Bildung.
Neun Jahre nach Beginn des Prozesses von Dakar ist die Bilanz geteilt. Die meisten Staaten Nordamerikas und Westeuropas sowie Mittel- und Osteuropas haben die Ziele von Dakar erreicht oder stehen kurz vor deren Umsetzung. Zu dieser Gruppe gehören auch einige asiatische Staaten wie Japan, Südkorea oder Malaysia. In Lateinamerika und einigen arabischen Ländern ist die Qualität der Bildung ein größeres Problem. Besonders weit von der Umsetzung der Bildungsziele entfernt sind die meisten Staaten in Afrika südlich der Sahara und Staaten wie Bangladesch oder Indien.
Der UNESCO-Weltbildungsbericht 2008 macht deutlich, dass die verschiedenen Regionen in der Welt vor unterschiedlichen Herausforderungen in ihrer Bildungspolitik stehen. In den OECD-Ländern haben praktisch alle Jugendlichen einen Zugang zu einer formalen Ausbildung von zwölf Jahren. Doch auch zwischen den OECD-Ländern gibt es deutliche Unterschiede in der Bildungsbeteiligung während der Vorschuljahre, nach Beendigung der Schulpflicht und in der Weiterbildung. Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung nach Geschlecht, Migration, Region und sozialer Herkunft sind zudem nicht nur in den Entwicklungs- und Schwellenländern ein Problem, auch die OECD-Länder kennen – wenngleich in deutlich abgeschwächter Form – diese Problematik. Für die OECD-Länder gilt, dass Bildungsreserven besser genutzt und erreichte Bildungsniveaus durch kontinuierliche Weiterbildung besser bewahrt werden müssen.
Die Schwellen- und Entwicklungsländer stehen vor der Herausforderung zuerst eine allgemeine Grundschulbildung durchzusetzen und den Zugang zu Bildung für breite Bevölkerungsschichten zu ermöglichen. Der jüngste UNESCO-Bildungsbericht mahnt jedoch, dass Regierungen und Geldgeber in der Entwicklungshilfe ihre Anstrengungen nicht allein auf die formale Grundschulbildung konzentrieren sollten. Vor allem dürften die frühkindliche Förderung sowie die Alphabetisierung von Erwachsenen nicht vernachlässigt werden. Gerade die Bedeutung der frühkindlichen Förderung für den Bildungsverlauf wird in vielen Regionen noch stark unterschätzt. Auch innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit hat dieser Bereich bisher keine Priorität. In den entwickelten Ländern besuchten 2006 79 Prozent der Kinder vorschulische Programme, in den Schwellenländern 62 Prozent und in den Entwicklungsländern 41 Prozent. In Afrika südlich der Sahara liegt die Quote in einigen Ländern unter 15 Prozent.
Auch die Alphabetisierung Jugendlicher und Erwachsener ist ein vernachlässigtes Feld. Rund 776 Millionen Menschen im Alter von über 15 Jahren – das sind 16 Prozent der Weltbevölkerung – haben keine Grundkenntnisse im Lesen und Schreiben. Die meisten von ihnen leben in Süd- und Westasien sowie im subsaharischen Afrika. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. Der Fortschritt bei den sechs Dakar-Zielen wird insbesondere durch Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen aufgehalten: -Faktoren wie Einkommen, Geschlecht, ethnische bzw. sprachliche Zugehörigkeit, Region und Behinderung gehen nach wie vor oft mit mangelnden Bildungschancen einher.
Neben höheren Bildungsausgaben und internationaler Hilfe ist dem jüngsten Weltbildungsbericht zufolge eine gut abgestimmte nationale Bildungspolitik von zentraler Bedeutung. Wichtige Instrumente dabei sind in den Entwicklungs- und Schwellenländern die Abschaffung von Schulgebühren, Maßnahmen gegen Kinderarbeit, Stipendienprogramme für Kinder aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen und Geld- oder Sachleistungen für Familien, wenn ihre Kinder die Schule besuchen. Die Regierungen müssen mehr Geld in die Hand nehmen, um Schulen besser auszustatten sowie mehr und besser ausgebildete Lehrer und Lehrerinnen einzustellen. Für die Umsetzung von Bildungsreformen fehlen der UNESCO zufolge elf Milliarden Dollar in der Entwicklungshilfe, die pro Jahr zur Erreichung der Dakar-Ziele zusätzlich nötig wären. Seit 2005 sind die Hilfen der Geberländer für grundlegende Bildung in armen Ländern jedoch noch weiter zurückgegangen.
Inwieweit die Hilfen aufgrund der weltweiten Finanzkrise dem Sparzwang zum Opfer fallen werden, ist noch ungewiss. Wichtig ist hier aber auch der ganzheitliche Blick. Bildungssysteme sind mit den wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verwoben. Das Zusammenspiel von wirtschaftlicher bzw. technischer Entwicklung, Armutsbekämpfungsstrategien, verbesserten Kreditkonditionalitäten der Geberländer, die Bekämpfung der HIV/Aids-Pandemie, Friedensbemühungen oder Gesellschaftsreformen sind bedeutsam für die Entwicklung von Bildungssystemen. Die Entwicklungsländer können ihre Bildungssysteme nur reformieren, wenn die reichen Industriestaaten sie hierbei unterstützen. Bei dem Ziel „Bildung für alle“ dürfen wir die Entwicklungsländer nicht alleine lassen. Die Bildungsberichte der UNESCO machen uns deutlich, dass Bildung jenseits ökonomischer Verwertungsaspekte betrachtet werden muss, wenn zugleich ein universeller Wert der Bildung im Sinne des Capabilities-Ansatzes von Amartya Sen und Martha Nussbaum gemeint sein soll. Bildung ist dabei mehr als nur ein Wirtschaftsfaktor, Bildung ist Menschenrecht.
Dr. RITA NIKOLAI leitet die BMBFNachwuchsgruppe „Education and Transitions into the Labour Market“ im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Internationale Politik 4, April 2009, S. 10 - 18.