„Die Antwort kann nur lauten: Ein stärkeres Europa“
Die europäischen Länder haben nicht genug getan, um ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern, sagt der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen. Angesichts der von der zweiten Trump-Regierung eingeläuteten „neuen Normalität“ müsse nun die Stunde Europas schlagen.
IP: Herr Heusgen, die Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wird weithin als Zeitenbruch angesehen. Stimmen Sie dem zu?
Christoph Heusgen: Es stimmt, wir sind in einer neuen Welt aufgewacht. Aber immerhin haben wir eine Vorstellung davon, wie diese Welt aussieht. Wir verfügen über Erfahrungen aus der ersten Amtszeit.
Damals war ich außenpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Februar 2017 hatte ich mein erstes Treffen mit Jared Kushner, Trumps Berater und Schwiegersohn. Diese Begegnung hat mich seitdem in meiner Einschätzung von Präsident Trump und seiner Politik geleitet. Ich erklärte Jared, dass ich aus einem Land mit einem sehr transatlantisch geprägtem Hintergrund komme und dass wir unsere Souveränität den Vereinigten Staaten verdanken: durch die Berliner Luftbrücke 1948/49, durch Präsident John F. Kennedy, der vor und nach dem Bau der Berliner Mauer auf der Unabhängigkeit West-Berlins bestand, und durch die Präsidenten Ronald Reagan und George H.W. Bush, die sich voll und ganz für die deutsche Einheit einsetzten. Ich sagte ihm, dass transatlantische Beziehungen auf einer stabilen militärischen Basis in Deutschland das Fundament meines Landes seien. Er erwiderte, dass die neue Regierung aus Geschäftsleuten bestehe. Und im Geschäftsleben sei man an einem Tag Freunde und am nächsten Tag Gegner.
Ist das die neue Normalität?
Ich glaube schon. Die Regierung von Präsident Joe Biden war die Ausnahme – eine Erinnerung an das, was viele Menschen als die „gute alte Zeit“ betrachten. Es gibt ein Element der Kontinuität in dem, was wir jetzt sehen. Schon nach ihren ersten Begegnungen mit Präsident Trump hat Bundeskanzlerin Merkel etwas gefordert, das nach meiner Einschätzung jetzt noch energischer vorangetrieben werden muss ...
... in der „Bierzeltrede“, die sie im Mai 2017 in der Nähe von München hielt, in der sie sagte, dass Europa sein Schicksal „ein Stück weit“ selbst in die Hand nehmen müsse?
Genau. Sie machte deutlich, dass wir uns nicht immer auf die USA werden verlassen können und wir ein stärkeres Europa aufbauen müssen. Die scheidende Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz hat zu Recht viel in die transatlantischen Beziehungen investiert. Was wir jedoch versäumt haben, ist, uns viel stärker für die europäische Verteidigung einzusetzen.
Was bedeutet, dass Europa unvorbereitet ist?
Wenigstens sendet Europa die richtigen Signale. Mit Ursula von der Leyen hat die Europäische Union eine sehr starke Präsidentin der Europäischen Kommission, die klar sagt: Wir brauchen ein starkes Europa, und die Verteidigung ist zentral. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU haben wir eine ehemalige Premierministerin als Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik: Kaja Kallas, die eine der fähigsten und talentiertesten Spitzenpolitikerinnen ist, die wir in Europa haben. Wir haben zum ersten Mal einen Verteidigungskommissar, Andrius Kubilius, ebenfalls ein erfahrener ehemaliger Premierminister. Europa ist also bereit. Brüssel hat seine Hausaufgaben gemacht, und jetzt liegt es an den Mitgliedstaaten, dies auch tatsächlich zu unterstützen.
Woran mangelt es?
Gerade in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern herrscht noch eine Geisteshaltung, die wir überwinden müssen: Es ist die Vorstellung, die Landesverteidigung sei der Kern nationaler Souveränität, und Europa sei noch nicht so weit, dass man es damit betrauen könne. Wenn sich diese Haltung durchsetzt, verpassen wir eine Chance. Einige Länder haben das begriffen. Ich bin wirklich beeindruckt davon, wie sich die nordischen und baltischen Staaten, die NB8 – Dänemark, Estland, Finnland, Island, Lettland, Litauen, Norwegen und Schweden – organisiert haben. Sie koordinieren ihre Aktivitäten und die meisten von ihnen erhöhen ihre Verteidigungsausgaben massiv. Sie haben verstanden, dass Russland eine reale Bedrohung ist, während wir in Deutschland zum Teil noch in unserem Wolkenkuckucksheim leben.
Was wäre für Deutschland eine angemessene Antwort?
Wir müssen endlich begreifen, dass es Wladimir Putin ernst ist. Der russische Präsident meint, was er sagt. Deshalb müssen wir mit der halbherzigen Unterstützung für die Ukraine und dem halbherzigen Ausbau unserer Verteidigung aufhören und die Dinge ernsthafter angehen. Wir müssen verstehen, dass wir nicht dauerhaft mit Sondervermögen operieren können, um die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Sie müssen Teil des ordentlichen Haushalts sein.
Dies erfordert natürlich sehr schwierige Entscheidungen; es erfordert Führung. Aber wenn wir weiterhin glauben, dass wir den Herausforderungen begegnen können, indem wir einfach weitermachen wie bisher, dann irren wir uns.
Bundeskanzler Scholz hat Vorschläge, 3,5 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, als „unausgegoren“ bezeichnet ...
Ich würde dem Kanzler empfehlen, mit seinem Verteidigungsminister zu sprechen, der mehr Mittel beantragt hat, aber abgewiesen wurde. Der Bundeskanzler hat auf dem NATO-Gipfel in Vilnius 2023 selbst zugestimmt, dass 2 Prozent das Minimum sind.
Woran mangelt es am meisten beim Wiederaufbau der deutschen Streitkräfte?
Wir brauchen alles. Wir müssen mehr investieren, um die Bundeswehr attraktiver zu machen – auch hier hat der Verteidigungsminister einige Ideen – und wir müssen mehr Leute einstellen. Wir brauchen auch mehr Fähigkeiten. Wenn wir also über Zahlen wie 2 oder 3,5 Prozent reden, liegt darin ein gewisses Maß an Willkür. Sie erinnern sich, dass der Inspekteur des Heeres vor drei Jahren gesagt hat: „Wir stehen blank da.“ Das ist besser geworden, aber natürlich bleibt noch viel mehr zu tun.
Der CDU-Vorsitzende und wahrscheinlich nächste Bundeskanzler, Friedrich Merz, hat die Frage nach der Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats wieder aufgeworfen. Wäre das hilfreich, um militärischen und politischen Sachverstand zu bündeln?
Nach meiner Überzeugung müssen wir entweder einen Nationalen Sicherheitsrat einrichten oder Strukturen aufbauen, die einem solchen entsprechen. Wir brauchen einen umfassenden Überblick über die Sicherheitsbedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind. Es ist offensichtlich, dass Russland einen hybriden Krieg gegen Deutschland und Europa führt, auch wenn uns das noch nicht bewusst geworden ist. Man muss nur sehen, was hier geschieht: Erst mit den Angriff auf die Ukraine, dann mit den Angriffen auf die Infrastruktur – in der Ostsee, aber auch an Land – , mit den Versuchen der Beeinflussung sozialer Medien und auch mit der Tatsache, dass Putin nicht einmal ein Problem damit hat, Menschen direkt vor der Nase der Regierung in Berlin zu töten. Wenn man sich das vor Augen führt, dann sieht man, dass er sich in einem nicht erklärten hybriden Krieg mit Deutschland befindet. Das müssen wir erkennen und in unseren Strukturen widerspiegeln.
Sie haben sich in der Vergangenheit auch für die Zusammenlegung des Auswärtigen Amtes und des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung eingesetzt.
Wirtschaftlich wird Deutschland heute wieder als „der kranke Mann Europas“ bezeichnet. In der Vergangenheit haben wir uns auf billige Energie aus Russland und auf Exporte nach China und Investitionen dort verlassen. Das funktioniert nicht mehr, also müssen wir diversifizieren und auf andere asiatische Länder, auf afrikanische Länder und lateinamerikanische Länder blicken. Wenn man Afrika als Ganzes betrachtet, ist es die am zweitschnellsten wachsende Volkswirtschaft der Welt. Und Deutschland ist dort kaum präsent.
Sie sagen also, dass Berlin einen Gesamtansatz braucht?
Für ein Land, das so unter Druck steht wie wir, finde ich es absurd, dass wir keine umfassende Strategie haben, die Außenpolitik, Wirtschaftsbeziehungen und Entwicklungspolitik verbindet. Deutschland ist eines der letzten Länder, das noch getrennte Ministerien für Außen- und Entwicklungspolitik hat. Es braucht keine Fusion, man kann immer noch zwei Minister haben, aber die Strukturen müssen viel enger verknüpft werden.
Als ich 1980 als Diplomat anfing, waren zwei Drittel unseres Personals in unseren weltweiten Vertretungen tätig. Heute arbeiten zwei Drittel in Berlin. Das müssen wir wieder ändern. Wenn Sie in ein afrikanisches Land gehen, treffen Sie in der dortigen Vertretung zwei oder drei deutsche Diplomaten an. Auf der anderen Seite der Straße arbeiten aber hundert chinesische Diplomaten. Kein Wunder, dass sie effektiver sind als wir.
Machen Sie sich keine Sorgen um die Fähigkeit Deutschlands und Europas, in dieser neuen Welt zu überleben, die selbst von den USA eher transaktional angegangen wird?
Wir müssen die richtigen Antworten finden – auf Russland, auf China und auf die zweite Trump-Regierung. In der Außen- und Sicherheitspolitik kann die Antwort nur lauten: ein stärkeres und geeinteres Europa.
Befürchten Sie, dass die USA über die Köpfe der Europäer hinweg einen Deal machen?
Die US-Regierung wird wahrscheinlich ein Abkommen mit Russland schließen und uns dann sagen, welche Rolle darin für uns vorgesehen ist.
Kann das auch bedeuten, dass europäische Streitkräfte dauerhaft in der Ukraine stationiert werden?
Möglicherweise. Es ist klar, dass die USA nicht bereit sind, der Ukraine die Garantie zu geben, die die Ukrainer wirklich wollen – das ist die NATO-Mitgliedschaft. Biden war dazu nicht bereit, Trump wird es auch nicht sein. Was also sind die Alternativen? Man muss der Ukraine die Waffen liefern, die sie braucht, und möglicherweise europäische oder andere Soldaten stationieren, um den Preis für einen erneuten Angriff Russlands zu erhöhen, denn eine weitere Aggression ist natürlich möglich.
Welche Rolle wird die Münchner Sicherheitskonferenz in diesem Jahr spielen?
Das Motto der MSC lautet „Frieden durch Dialog“. Wir wollen so viele Parteien wie möglich nach München bringen. Von entscheidender Bedeutung sind die Beziehungen zwischen den USA und China. Außerdem müssen wir uns mit verschiedenen regionalen Konflikten befassen. Wenn wir von „Frieden durch Dialog“ sprechen, dann tun wir das auf einer soliden Grundlage, und das sind die Rechtsstaatlichkeit, die Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Deswegen habe ich in den drei Jahren meiner Amtszeit als Vorsitzender auch alle wichtigen UN-Akteure eingeladen.
Wird die neue US-Regierung auch dabei sein?
Ich bin zuversichtlich, dass wir eine starke US-Präsenz haben werden. Letztes Jahr war die damalige US-Vizepräsidentin Kamala Harris da, ebenso wie JD Vance, der jetzt dieses Amt innehat. Und auch die EU-Institutionen werden gut vertreten sein. Ja, dies ist wirklich die Stunde Europas.
Wir werden, wie ich vorhin mit Blick auf die wirtschaftliche Misere Deutschlands gesagt habe, nur dann wieder wachsen, wenn wir auf die Länder des Globalen Südens zugehen. Ein Viertel der MSC-Referenten wird aus dem Globalen Süden kommen. Das ist etwas, das ich in meinen drei Jahren als MSC-Vorsitzender erreicht habe und wofür ich mich auch weiterhin einsetzen werde. Und wir werfen einen ganzheitlichen Blick auf Sicherheit: Wir werden über Verteidigung und Abschreckung sprechen, aber auch über Klimapolitik, Cybersicherheit und Desinformation durch soziale Medien.
Ein letzter Punkt: Ich glaube fest an die Notwendigkeit eines ausgewogenen Geschlechterverhältnisses. Letztes Jahr waren zum ersten Mal in der Geschichte der MSC mehr als die Hälfte der Plätze auf den Podien mit Frauen besetzt.
Also spiegelt die MSC wider, dass sich die Weltordnung verändert?
Unser Ziel ist es, eine Diskussion zu fördern, bei der unterschiedliche Ansichten zur Geltung kommen. Aber ganz gleich, wie sehr sich die Weltordnung verändert, Frieden durch Dialog muss auf der regelbasierten internationalen Ordnung beruhen, die in der UN-Charta verankert ist. Rechtsstaatlichkeit ist zentral, und leider unterschätzen wir oft, was wir in Europa in dieser Hinsicht erreicht haben.
Dieses Erreichte müssen wir sichern, auch gegenüber Ländern, die den Rechtsstaat infrage stellen. Ich sehe dazu keine Alternative. Wenn von einer neuen Weltordnung die Rede ist, geht es viel zu oft gar nicht um neue Inhalte, sondern um das Recht des Stärkeren.
Wird sich die zweite Trump-Regierung als Verbündete erweisen, wenn es um die Wahrung des Völkerrechts geht?
Die jetzige US-Regierung wird vielleicht nicht jeden Morgen aufwachen und darüber nachdenken, wie sie das Völkerrecht stärken kann. Aber das sollte kein Grund sein, internationales Recht aufzugeben. Konrad Adenauer sagte, für ihn sei der Rechtsstaat das Wichtigste. Dies war auch die Schlussfolgerung der Gründerväter und -mütter der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union nach dem Zweiten Weltkrieg. Und das gilt heute noch!
Das Interview führten Martin Bialecki und Henning Hoff.
Internationale Politik, Online-Veröffentlichung, 10. Februar 2025