Titelthema

02. Sep 2024

Deutschlands China-Politik: Einig nur auf dem Papier

 Als die Bundesregierung im Juli 2023 ihre China-Strategie 
verabschiedete, gab es Lob von allen Seiten. Doch ein Jahr später klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander.

Bild
Bild: Olaf Scholz mit einer Wirtschaftsdelegation und drei Ministern in China, darunter Digitalminister Volker Wissing.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Bereits 2021 kündigte die Ampelregierung im Koalitionsvertrag an: „Um in der systemischen Rivalität mit China unsere Werte und Interessen verwirklichen zu können, brauchen wir eine umfassende China-Strategie in Deutschland im Rahmen der gemeinsamen EU-China-Politik.“ Insbesondere die Grünen und die FDP hatten zuvor bereits eine kritische Politik gegenüber Peking vertreten. Auch die SPD stellte in ihrem Wahlprogramm fest: „Interessens- und Wertekonflikte mit China nehmen zu.“

Das Auswärtige Amt übernahm die Federführung für die Strategie. Es folgte ein zuweilen zäher Prozess, in dem sich die Koalitionspartner auf eine gemeinsame Linie einigten. Am 13. Juli 2023 verabschiedete die Bundesregierung die erste China-Strategie in der Geschichte der Bundesrepublik. „Für Deutschland bleibt China Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock bei der Vorstellung des 61-seitigen Papiers, „aber der Aspekt des systemischen Rivalen ist in den letzten Jahren immer mehr in den Vordergrund getreten.“

Nicht nur wegen der historischen Dimension, sondern auch aus zwei weiteren Gründen war die Präsentation am 13. Juli bemerkenswert. Zum einen fand sie in den Räumen des China-Thinktanks Merics statt, der als Reaktion auf EU-Sanktionen gegen China von der chinesischen Staatsführung sanktioniert wurde: Mitarbeiter des Forschungsinstituts und ihre Angehörigen dürfen nicht mehr in die Volksrepublik reisen. Dass die China-Strategie ausgerechnet dort vorgestellt wurde, war ein klares Signal der Unterstützung für das Institut. 

Zum anderen stellte Baerbock die Strategie allein vor. Einen Monat zuvor hatte die Bundesregierung noch die gemeinsame Nationale Sicherheitsstrategie präsentiert. Damals standen neben Baerbock noch weitere Kabinettsmitglieder auf dem Podium der Bundespressekonferenz, auch Bundeskanzler Olaf Scholz. Bei der China-Strategie reichte es nur zu einem kurzen Tweet des Regierungschefs: „Ziel ist es nicht, uns abzukoppeln. Wir wollen aber kritische Abhängigkeiten vermeiden“, schrieb Scholz. Damit schien sich zu bestätigen, was sich schon zuvor abgezeichnet hatte: Die zwei wichtigsten Stellen, an denen Außenpolitik innerhalb der Bundesregierung gemacht wird, das Auswärtige Amt und das Kanzleramt, waren sich mit Blick auf China nicht einig.


Was hat die China-Strategie erreicht?

Das Papier ist zweifelsohne ein Referenzpunkt, auf den die Ressorts, Bundesländer und Kommunen immer wieder im Umgang mit China verweisen können – eine nicht zu unterschätzende Funktion.

Außerdem haben im Zuge der Ausarbeitung der China-Strategie erstmals alle betroffenen Ressorts gemeinsam über den Umgang mit der Volksrepublik nachgedacht – unter Einbeziehung von Experten, Wirtschaftsverbänden und Unternehmensvertretern. Mit der ­China-Strategie wurde der Austausch zwischen den Ministerien institutionalisiert, indem regelmäßige Treffen auf Ebene der Staatssekretäre zum Thema China eingeführt wurden – ein großer Fortschritt im Vergleich zu früheren Jahren, in denen alle Ressorts nebeneinander her arbeiteten.

Drittens kann die China-Strategie anderen Staaten als Orientierung für Deutschlands Haltung gegenüber der Volksrepu­blik dienen. Insbesondere in den USA, aber auch in Ländern wie Japan und Großbritannien und natürlich China wurde das Papier aufmerksam gelesen. 


In der Praxis kaum Kohärenz

Das vergangene Jahr hat jedoch auch deutlich gezeigt, was die China-Strategie nicht leisten konnte. Die China-Politik der Bundesregierung wirkte uneinheitlich und eher von Parteipolitik als von neuen Realitäten im Umgang mit China geprägt.

Deutschlands China-Politik wirkt eher von Parteipolitik als von neuen Realitäten im Umgang mit China geprägt 

Eine Strategie gibt die Richtung vor; sie soll ein Plan zur Erreichung der gemeinsamen Ziele sein – keine detaillierte An­leitung zu Handlungen. Die China-Strategie solle „Wege und Instrumente aufzeigen, wie die Bundesregierung mit China zusammenarbeiten kann, ohne Deutschlands freiheitlich-demokratische Lebensweise, unsere Souveränität, unseren Wohlstand sowie unsere Sicherheit und Partnerschaften mit anderen zu gefährden“, heißt es in dem gemeinsamen Papier der Bundesregierung. Und weiter: „Sie soll den Rahmen setzen, innerhalb dessen die Ressorts der Bundesregierung ihre Politik gegenüber China kohärent gestalten.“

Allerdings hat sich im vergangenen Jahr gezeigt, dass die Ressorts diese Grundsätze in der Praxis sehr unterschiedlich interpretieren: drei Beispiele.


Beispiel 1: Die deutsche 5G-Debatte

In der China-Strategie wird dem Schutz der sogenannten kritischen Infrastruktur, wozu explizit auch die Telekommunika­tionsinfrastruktur gezählt wird, besondere Bedeutung zugemessen. So heißt es: „Die unverzügliche Minderung von Risiken, die auf deren Hersteller zurückgehen, spielt daher eine besondere Rolle beim Schutz und bei der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Kritischen Infrastrukturen Deutschlands.“

Zwar werden chinesische Hersteller nicht direkt benannt, es ist aber klar, auf wen dieser Satz abzielt. Bereits seit Jahren gibt es einen Streit, wie chinesische Komponenten im 5G-Netz zu behandeln sind. In Sicherheitskreisen diesseits und jenseits des Atlantiks wird sehr deutlich vor Technik insbesondere des chinesischen Anbieters Huawei gewarnt. Die Befürchtung: Spionage und Sabotage.

Im September 2023 hatten Sicherheitsexperten im Bundesinnenministerium klar gemacht, was der Schutz der kritischen Infrastruktur in der letzten Konsequenz bedeutet. Aus ihrer Sicht müssten chinesische Komponenten „unverzüglich“ und „vollständig“ aus dem deutschen 5G-Netz entfernt werden, hieß es aus dem Ministerium. Da das jedoch nicht möglich sei, schlugen die Experten Fristen und Bereiche vor, in denen die Sicherheit besonders schnell hergestellt werden sollte. 

Das Auswärtige Amt und das Bundeswirtschaftsministerium, die neben dem Bundeskanzleramt und dem Digital­ministerium beteiligt waren, folgten der Linie des Innenministeriums. Doch die Entscheidung kam weder unverzüglich noch läuft sie auf eine vollständige Entfernung der chinesischen Komponenten im deutschen 5G-Netz hinaus, deren Anteil derzeit auf rund 60 Prozent geschätzt wird. Erst fast ein Jahr nach der eindeutigen Einschätzung aus dem Bundesinnenministerium einigte sich die Bundesregierung im Juli 2024 darauf, was mit den bereits verbauten chinesischen Komponenten passieren solle. 

Sicherheitsexperten kritisierten die Lösung als vollkommen unzureichend und die Rückbaufristen als viel zu lang. Durchgesetzt hatten sich das Bundeskanzleramt und FDP-Digitalminister Volker Wissing, die zugunsten der Netzbetreiber für län­gere Ausbaufristen plädiert hatten. 


Beispiel 2: Reisen nach China 

Besuche hochrangiger Politiker in der Volksrepublik dauern zwar oft nur wenige Tage, ihre Bedeutung ist aber groß. Andere Länder schauen sehr genau auf die Signale, die von solchen Reisen ausgehen.

Auch hier sendete die Bundesregierung ambivalente Botschaften. Scholz’ jüngster Besuch in Peking wirkte wie „business as usual“. Der Kanzler reiste im April dieses Jahres nicht nur mit einer Delegation von Chefs großer deutscher Unternehmen nach China, sondern hatte auch noch drei weitere Minister im Schlepptau – ausgerechnet jene, die mehr für Kooperation statt Konfrontation stehen: Digitalminister Wissing, der sich vor allem in der 5G-Debatte für eine weichere Linie gegenüber Peking eingesetzt hatte. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, der bei der Reise zum Ziel hatte, dass China seinen Markt für deutsches Schweinefleisch wieder öffnet. Und Umweltministerin Steffi Lemke, die die Klimakooperation mit der Volksrepublik vorantreiben sollte – ein Bereich, der von allen Parteien gerne als Begründung für ein entgegenkommendes Auftreten gegenüber China genannt wird. 

Bei seiner China-Reise nahm Scholz Minister mit, die mehr für Kooperation statt Konfrontation stehen

Vor dem Hintergrund der China-Strategie, auf die sich die Regierung wenige Monate zuvor geeinigt hatte, war diese Konstellation erstaunlich. Denn darin heißt es: „Die Bundesregierung arbeitet auf ein De-Risking der Wirtschaftsbeziehungen zu China hin.“ Studien wie etwa vom In­stitut der deutschen Wirtschaft zeigen, dass es gerade die großen deutschen Unternehmen sind, die trotz China-Strategie eher mehr als weniger in die Volksrepublik investieren. 

Außenministerin Baerbock war bei ihrer China-Reise ein Jahr zuvor dagegen robuster aufgetreten. Zwar hatte sie sich zunächst mit deutschen Wirtschaftsvertretern getroffen und im weiteren Verlauf der Reise mehrere deutsche Unternehmen in der Volksrepublik besucht. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, kritische Worte gegenüber ihren chinesischen Gesprächspartnern zu finden – und ihren damaligen Amtskollegen Qin Gang vor einem Überfall auf Taiwan zu warnen. Dieser hätte wirtschaftliche Folgen, die auch China und Deutschland treffen würden, so Baerbock. 

Kanzler Scholz hingegen sparte die kritischsten Punkte aus: Er erwähnte in seinem Statement nach einem Treffen mit Premierminister Li Qiang im April weder Chinas Drohungen gegen Taiwan noch die massiven Menschenrechtsvergehen der chinesischen Führung in Xinjiang.


Beispiel 3: Wissings China-Alleingang

Im Juni 2024 reiste Wissing nach Peking. Das Ziel: die Unterzeichnung einer Absichtserklärung über den Transfer von Autodaten zwischen Deutschland und China. Wie mehrere Quellen berichteten, griff hier die in der China-Strategie verabredete Kohärenz im Umgang mit der Volksrepublik erneut nicht: Wissing hatte die Erklärung vor seiner Reise nicht ausreichend mit den anderen Ressorts abgestimmt. Das Auswärtige Amt, das Innen- und das Wirtschaftsministerium reagierten verärgert.

Neben „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“ müsse China laut Experten auch als sicherheitspolitische Bedrohung für 
Europa gesehen werden

Und auch dem Bundeskanzler war das zu viel. Scholz nannte die China-Strategie als Grundlage der Handlungen der ­Bundesregierung und ermahnte den FDP-Politiker öffentlich, dass die Bundesregierung aus Prinzip Sachen „gemeinsam miteinander vereinbart und sich darauf einigt, dass die Dinge auch tatsächlich passieren“. Insofern sei es „bedauerlich“, dass das in diesem Fall nicht geschehen sei. Das Bundesverkehrsministerium sah sich zu Unrecht kritisiert und sein Vorgehen von der China-Strategie gedeckt. 

Bei Verbündeten wie Japan führt eine solche inkohärente Politik zu Irritationen. Gerade Japan engagiert sich derzeit trotz der großen geografischen Entfernung ungewöhnlich stark für die Ukraine. Die Regierung in Tokio tut dies aber auch deshalb, weil sie sich im Gegenzug von der Bundesregierung Unterstützung gegen Chinas Vorgehen in der Indo-Pazifik-Region erhofft, wozu ein kritischerer Umgang mit Peking notwendig wäre.


Wie es weitergehen könnte

Seit Verabschiedung der China-Strategie vor rund einem Jahr hat sich die Volksrepublik unter Staats- und Parteichef Xi Jinping weiter gewandelt. Der Westen sieht es inzwischen als erwiesen an, dass Chinas Exporte von sogenannten Dual-Use-­Gütern, also Produkten, die sowohl für zivile als auch militärische Zwecke verwendet werden können, die russische Kriegsmaschinerie entscheidend am Laufen halten und westliche Sanktionen untergraben. In ihrem gemeinsamen Kommuniqué zum NATO-Gipfel im Juli wurden die Mitgliedstaaten deutlich: China sei ein entscheidender „Ermöglicher“ von Russlands Krieg gegen die Ukraine geworden.

Trotz wiederholter Appelle westlicher Spitzenpolitikerinnen und -politiker weist Chinas Staatsführung jegliche Verantwortung von sich. Im Gegenteil: Peking und Moskau bauen ihre „Freundschaft ohne Grenzen“, die sich Xi und Kremlchef Wladimir Putin kurz vor dessen Angriff auf die Ukraine geschworen haben, immer weiter aus. Erst im Juli absolvierten die chinesische und die russische Marine gemeinsame Übungen im Südchinesischen Meer. Kurz zuvor hielt China mit Belarus militärische Drills ab – nur 15 Kilometer von der Grenze zum NATO-Mitglied Polen entfernt und zeitgleich zum NATO-Gipfel in Washington.

Experten wie Gunnar Wiegand, Fellow beim German Marshall Fund und ehemaliger Asien-Direktor des Europäischen Auswärtigen Dienstes, wo er von 2016 bis 2023 die Neuausrichtung Brüssels gegenüber Peking entscheidend vorangetrieben hat, glauben, dass es an der Zeit ist, dem Dreiklang aus „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“ eine vierte Dimension hinzuzufügen: China als sicherheitspolitische Bedrohung für Europa.

Auch mit Blick auf das transatlantische Verhältnis wird es in den kommenden Jahren entscheidend sein, wie Deutschland seine China-Politik aufstellt – unabhängig davon, wer die US-Wahlen im November gewinnt. Für die USA ist längst klar: China ist eine Bedrohung für den Westen. Eine neue US-Regierung wird deutlich stärker als heute fordern, dass sich Deutschland klar gegenüber China positioniert. Die Bundesregierung sollte spätestens dann Antworten haben.    

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Einig nur auf dem Papier" erschienen.

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 25--29

Teilen

Dana Heide 
ist Korrespondentin 
des Handelsblatts in Berlin. Zuvor war 
sie von 2019 bis 
2022 als China-
Korrespondentin für das Handelsblatt in Peking tätig.

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.