Gegen den Strich

01. März 2016

Deutsche Führung

Sechs Thesen auf dem Prüfstand

Deutschland ist in der politischen Realität angekommen. Die eigenen Interessen, seine Größe, die Mittellage und die global veränderten Rahmenbedingungen zwingen es, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Aber seine Fähigkeit zur Führung wird davon abhängen, ob es Ideen hat, die funktionieren und Anhänger finden.

Deutschland ist die „unverzichtbare Nation“ in Europa

Ja, daran besteht kein Zweifel, aber es ist nicht die einzige. Deutschlands Wirtschaftskraft hält den Euro am Leben und sorgt in kleineren Nachbarländern, deren Volkswirtschaften meist mehr oder weniger auf die deutsche ausgerichtet sind, für Wohlstand und Stabilität. Diese Wirtschaftskraft hat auch dazu geführt, dass Berlin – gegen seine Instinkte – im Verhältnis zu Russland europäische Leitmacht geworden ist. Ohne Deutschlands Bereitschaft, seine engen Handelsbeziehungen zu Russland in die Waagschale zu werfen, hätte es nach der Annexion der Krim durch Moskau keine wirksamen Sanktionen gegen Russland gegeben.

Auch für das Überleben der europäischen Integrationsidee ist kein Land so zentral wie Deutschland mit seiner Bereitschaft, sich multilateral einzubinden und seine Politik mit den Partnern eng abzustimmen. Deshalb sind auch Deutschlands Alleingänge für Europa so schicksalshaft, ob bei der Energiewende, in der Handelspolitik oder jüngst in der Flüchtlingsfrage.

Die Bundesrepublik war einst die Reservemacht der europäischen Integration. Ihre Partner konnten sich darauf verlassen, dass sich das größte Land Europas im Zweifelsfall für eine gemeinschaftliche, nicht für eine nationale Lösung einsetzen würde. Deutschland war bereit, im Notfall ein kleines bisschen früher nachzugeben und etwas mehr zu zahlen, wenn ein schwieriger Kompromiss gefunden werden musste. Europa war Staatsräson in Deutschland, und es hat enorm davon profitiert, dass es oft auf den kleinen, kurzfristigen Vorteil zugunsten einer europäischen Lösung verzichtet hat. Wichtiger noch, das Land hat durch diese Praxis einen gewaltigen Vertrauensvorschuss in das europäische System gepumpt, von dem das Projekt enorm gezehrt hat.

Seit dem Ende der Ära Helmut Kohl hat Deutschland diesen Status als Reservemacht zu einem guten Teil eingebüßt. Sowohl Gerhard Schröder als auch Angela Merkel waren und sind dazu bereit, nationale Positionen viel entschiedener zu vertreten als ihre Vorgänger. Beide bevorzugen in der EU eher den intergouvernementalen Weg, also das freie Aushandeln von Lösungen zwischen den Mitgliedstaaten, und nicht die integrative Gemeinschaftsmethode, die den europäischen Institutionen eine gewichtige Rolle zuweist. Die Integrationsidee hat damit ihren wichtigsten Anwalt verloren, was ein Hauptgrund für den Vertrauensschwund zwischen den Staaten Europas ist.

Doch nicht nur Deutschland muss seine Rolle als integrative Reservemacht wieder annehmen, wenn Europa nicht zerfasern soll. Frankreich, die andere „unverzichtbare Nation“ Europas, muss das ebenfalls tun, indem es sich reformiert und innenpolitisch die Nerven behält. So unverzichtbar Berlin ist, ohne Paris bleibt es ein ohnmächtiger Riese.

 

In der Euro-Krise und im Ukraine-Konflikt hat Deutschland Führung gezeigt

Ja, aber erst nach langem Zögern. In beiden Fällen hatte Berlin lange gehofft, dass sich der Sturm schnell wieder legt und dass sich der Status quo ante wieder einstellen würde. Erst als diese Illusion starb, hat Deutschland Führung übernommen. Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob die deutschen Rezepte in der Euro-Krise und auch im Verhältnis zu Russland und zur Ukraine die richtigen sind. Aber man kann nicht abstreiten, dass Deutschland hier klar Position bezogen hat, bereit war, viel Geld und politisches Kapital zu investieren und gegen starke Widerstände standhaft zu bleiben.

Berlins Motivation in beiden Fällen war nicht etwa teutonisches Hegemonialstreben in Europa, wie es übelwollende Stimmen bewusst ehr­abschneidend formuliert haben. Deutschland hatte vielmehr erkannt, dass es in beiden Fällen „last man standing“ war – das einzige Land, das noch in der Lage war, entscheidend einzugreifen. Frankreich und Großbritannien standen in beiden Fällen aus unterschiedlichen Gründen als Führungsmächte nicht zur Verfügung.

Doch weder die Euro-Krise noch der Ukraine-Konflikt sind gelöst. Der Kerngrund für die Euro-Krise, das Ungleichgewicht zwischen ökonomischer und politischer Integration in der EU, besteht fort, und kein ernsthafter Fortschritt ist in Sicht. Uneinigkeit in der Euro-Zone und die Unvereinbarkeit der Berliner Integrationsideen mit denen Frankreichs bleiben hier zentrale Hindernisse. Und so ist die nächste Euro-Krise nur eine Frage der Zeit.

Auch die Ukraine-Krise schwelt weiter. Hier liegt der Hauptgrund aber nicht im deutschen oder europäischen Versagen, sondern in Russlands aggressiver Machtpolitik innerhalb der von Moskau beanspruchten geopolitischen Einflusssphäre. Gerade wegen Russlands harter Haltung wird Deutschlands Führung hier weiter gebraucht. Die EU-Front bei den Sanktionen gegen Russland bröckelt, und auch in Deutschland gibt es parteiübergreifend noch immer genügend politische Naivität gegenüber Präsident Putin und seinen brutalen Ambitionen.

 

Die deutsche Frage ist zurück

Nein. Die deutsche Frage ist seit dem Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrags im März 1991 gelöst. Deutschland hat keine unerfüllten territorialen Ansprüche in Europa, und niemand erhebt sie gegen Deutschland. Die Bundesrepublik ist umgeben von befreundeten Nationen und fest eingebunden in das westliche Bündnissystem, die EU und die Vereinten Nationen. Klarer kann die Position eines Landes in Europa nicht definiert sein; und wer diese Lage infrage stellt, der stellt die europäische Ordnung an sich infrage.

Aber mit „deutscher Frage“ sind heute meist zwei andere Dinge gemeint, die man dann aber auch anders benennen sollte. Erstens: Ist Deutschland zu groß, zu mächtig für Europa? Und ist deswegen eine neuerliche Gegenblockbildung erforderlich, um dem deutschen Gewicht etwas entgegenzusetzen? Zweitens: Ist Deutschland ein verlässlicher Verbündeter? Ist seine Westbindung unerschütterlich? Die Antwort auf die erste Frage ist ein klares Nein. Deutschland ist weder zu mächtig, noch muss man sich dagegen verbünden. Deutschlands Macht in Europa ist zumindest teilweise eine Illusion gewesen. Sie speiste sich zu einem Großteil aus der Schwäche anderer, und sie speiste sich nie aus hegemonialem Ehrgeiz. Die EU ist zudem ein sehr effektives System zur Vermeidung von Vormacht in Europa; auch Deutschland kann ihm nicht eigenhändig seinen Willen aufzwingen, wie man in der Euro-Krise sehen konnte, in der Deutschland eben nicht alle Kämpfe gewonnen hat. Deutschlands militärische Macht ist vernachlässigenswert. Und schließlich ist seine Stärke nicht in Stein gemeißelt. Seine demografischen Probleme, sein Reformstillstand, seine katastrophale Bildungspolitik und seine sehr einseitige Exportabhängigkeit garantieren, dass seine Bäume nicht in den Himmel wachsen und dass vielleicht schon bald wieder von Krise und „deutscher Krankheit“ gesprochen wird.

Die Antwort auf die zweite Frage fällt weniger deutlich aus. Deutschlands kontinentaleuropäische Prägung hat es nie zu einem instinktiv rein westlichen Land gemacht. Wie für viele andere kontinentaleuropäischen Nationen sind auch für die Deutschen die Wesensmerkmale der modernen westlichen Massengesellschaft, also Wettbewerb als Grundelement von Wirtschaft und Politik, Parteiendemokratie, Individualismus, pluralistische Gesellschaftsordnung, und die liberal-kapitalistische Marktordnung, nicht nur positiv konnotiert.

Anders als manche Kritik aus Amerika wie aus Mittel- und Osteuropa uns weismachen will, sind die Hinwendung nach Osten, die Annäherung oder Anlehnung an Russland aber gerade nicht die deutsche Versuchung. Die deutsche Versuchung ist immer der Alleingang, die Selbstwahrnehmung als Land „dazwischen“, das sich selbst genügt. Gegen dieses Gefühl, das sich auch in Deutschlands latentem Antiamerikanismus, Antimodernismus und Anti­kapitalismus offenbart, muss die Westbindung Deutschlands beständig neu gefestigt werden. Dieser Teil der so genannten deutschen Frage bleibt aktuell.
 

Deutschland ist militärisch ein Schwächling

Ja. Und das ist ein zutiefst ambivalenter Befund. Einerseits ist Deutschlands militärische Schwäche durchaus eine Vertrauensinvestition in Europa. Wo Nachbarn nichts zu fürchten haben, da ist Kooperation einfacher. Dieser historische Befund bleibt im traditionell konfliktreichen und vertrauensarmen Europa auch heute wirksam. Andererseits ist die deutsche militärische Schwäche auch ein Grund für Misstrauen. Denn wo befreundete Nationen sich im Notfall auch auf von Deutschland zugesicherten militärischen Beistand verlassen wollen und müssen, da erzeugt militärische Schwäche Nervosität und Angst. Ganz abgesehen davon, dass die Verteidigung des europäischen NATO-Territoriums und die Wahrung europäischer Interessen in der Welt in einer Zeit abnehmenden Engagements der USA in Europa viel stärker von Europäern, also auch von Deutschen, selbst geleistet werden müssen. Wofür wiederum die entsprechenden Ressourcen erforderlich sind.

Die deutsche militärische Schwäche ist weniger ein Problem militärischer Fähigkeiten, obwohl die mangelnde Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, ihre dauerhafte Unterfinanzierung und die Überlastung durch relativ überschaubare Auslandseinsätze schon Besorgnis hervorrufen könnten. Der eigentliche Grund zur Sorge ist, dass diese Schwäche ein Symptom eines tiefer­liegenden Problems ist. Sie ist Ausdruck mangelnden Vertrauens in die eigenen guten Absichten, und damit letztlich Ausdruck eines nicht bewältigten historischen Traumas. Sie ist Ausdruck einer Fehlwahrnehmung über den Zustand der Welt und der Notwendigkeit militärischer Macht für den Erhalt von Ordnung. Sie ist Ausdruck einer Ahnungslosigkeit über die Abhängigkeit des eigenen Wohlstands und der eigenen Stabilität von der Sicherheitssubvention der USA. Und es ist Ausdruck einer Mentalität, die Frieden mit Konfliktvermeidung verwechselt. Es sind diese Mentalitätsprobleme, die zu Zweifeln an Verlässlichkeit und Ernsthaftigkeit deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik führen.
 

Deutschland ist eine semihegemoniale, geoökonomische Macht

Nein. Beide Vorwürfe scheinen oberflächlich Sinn zu ergeben, aber sie halten einer näheren Betrachtung nicht stand. Leider werden sie derzeit vor allem im angelsächsischen Raum wieder und wieder hervorgebracht – sei es aus Enttäuschung über das angeblich mangelnde geopolitische Engagement Deutschlands, sei es aus traditioneller Deutschland-Skepsis.

Deutschland ist weder hegemonial noch semihegemonial veranlagt. Die deutsche Neigung, das eigene nationale Interesse in der EU stärker zu vertreten und dem Integrationsprozess skeptischer gegenüberzustehen als früher, entstammt gerade nicht einem Dominanzdenken oder dem Ehrgeiz, sich über andere zu erheben. Sie entstammt einem Erschlaffen der „Herzenssache Europa“, wie sie in ganz Europa zu erkennen ist, die in Deutschland aber besonders augenfällig wird, weil hier die bedingungslose proeuropäische Einstellung so lange den Status einer Ersatzreligion hatte. Deutschland hat die Lücke, die durch die Abkühlung entstanden ist, aber nicht durch nationale Ambition ersetzt, sondern durch eine Mischung aus Egoismus und Biedermeier. Im Zusammenspiel mit der Schwäche der anderen großen Nationen in Europa, die Deutschland viel politischen Spielraum gelassen haben, mag dies von außen als semihegemonial wahrgenommen werden. Als Erklärung für die komplexe deutsche Gemengelage taugt dieser Begriff jedoch nicht.

Der „geoökonomische“ Vorwurf wiegt schwerer. Ihm zufolge ist Deutschland an nichts anderem interessiert als an seinem wirtschaftlichen Erfolg, weswegen es seine internationale politische Verantwortung nicht ausreichend wahrnimmt. Dieser Vorwurf kommt nicht von ungefähr. Deutschland konnte sich lange Zeit, sogar noch eine Weile nach der Wiedervereinigung, aus den wesentlichen geopolitischen Fragen heraushalten, und seine Alliierten und Partner waren darüber nicht unglücklich. Deutschland nahm diese Gelegenheit wahr und baute im Schatten des Kalten Krieges an seiner unerhörten ökonomischen Erfolgsgeschichte, während sich die Westalliierten um die globalen Ordnungsprobleme kümmerten.

Zwar hat sich an der Sehnsucht nach genau diesem Nischendasein in Deutschland seitdem nicht viel verändert, aber das tatsächliche Handeln des Landes hat sich, zögerlich und nicht ohne manchen Veränderungsschmerz, angepasst. Militäreinsätze, auch in entlegenen Winkeln der Welt, sind immer noch unbeliebt, aber sie sind nicht mehr tabu. Die Kosten internationaler Diplomatie und der oft dazugehörigen Sanktionen (Iran, Russland) werden mitgetragen. In der militärischen Rückversicherung seiner östlichen NATO-Partner nach der Ukraine-Krise hat Deutschland nicht gezögert und manchen Verbündeten überrascht. Es stimmt, dass nichts hiervon aus Neigung passiert, und erst recht nicht aufgrund einer strategisch durchdachten europäischen oder globalen Ordnungsvorstellung. Diese Präferenz fürs Inruhegelassenwerden und die mangelnde strategische Kultur eines 80-Millionen-Landes bleiben auch weiterhin berechtigte Kritikpunkte. Aber der Vorwurf, Weltpolitik ausschließlich aus ökonomischer Sicht zu betrachten, klingt hohl. Doppelt hohl klingt er angesichts der historisch stark merkantil orientierten Außenpolitik anderer großer europäischer Nationen.
 

Berlin sollte sich auf „leading from behind“ ­beschränken

„Leading from behind“ gibt es gar nicht! Der US-Präsident hat das in den vergangenen Jahren schmerzhaft erfahren müssen. Einen gewissen Einfluss mag der unsichtbare Strippenzieher und anonyme Sponsor sicher haben. Und in der internationalen Politik sind Zurückhaltung und diskrete Diplomatie sogar sehr häufig die Voraussetzungen für Erfolg. Führung bedeutet in der Tat nicht, dass man sich ständig exponiert. Entscheidend ist aber, dass man im Zweifelsfall dazu bereit wäre, sich sichtbar an die Spitze einer Sache zu stellen, und dass die anderen Beteiligten in diese Bereitschaft Vertrauen haben. Wer dazu nicht bereit ist, kann auf Dauer keinen entscheidenden Einfluss haben.

Die wichtigere Frage ist, wohin Berlin führen würde, wenn es denn wollte. Welche Idee von Europa hat man im Kanzleramt, in den Parteien, im Bundestag? Welche Ordnungsvorstellung von der Welt, die sich parallel zum schleichenden Abgang der Pax Americana eine neue Verfasstheit geben muss? Wie können Wohlstand und Stabilität gesichert oder sogar ausgeweitet werden, wenn die Nachbarschaft Europas immer unsicherer wird, die etablierten Institutionen bröckeln, die Wirtschaftskraft nachlässt und die Bevölkerung altert? Wie will man in einer Welt mithalten, die durch explodierende Informationstechnik in Rekordzeit ihre Gestalt verändert, in der aber keine dieser Innovationen aus Europa kommen?

Deutschland ist in der politischen Realität angekommen und kann vorm Führen nicht mehr fliehen. Zu sehr zwingen es die eigenen Interessen, seine Größe, die Mittellage und die global veränderten Rahmenbedingungen, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Aber seine Fähigkeit zur Führung wird mehr davon abhängen, ob es Ideen hat, die funktionieren und Anhänger finden, als von einer theoretischen Debatte über seinen angemessenen Platz in der Welt.

Jan Techau ist Direktor von Carnegie Europe, Brüssel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2016, S. 66-71

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