Internationale Presse

01. Mai 2019

Der Stumme tritt ab

Algeriens Medien sehen die Protestbewegung vor einer ungewissen Zukunft

Algerien erlebt seit Mitte Februar 2019 eine landesweite Mobilisierungswelle gegen die machthabende Elite um den bisherigen Dauerpräsidenten Abdelaziz Bouteflika – und staunt über sich selbst. Der Verzicht Bouteflikas auf eine fünfte Amtszeit am 11. März und sein dann doch plötzlicher Rücktritt am 2. April haben die Proteste eher noch verstärkt. Zielscheibe sind nun alle (alten) politischen Eliten und das System selbst geworden. Während der Ausgang noch völlig offen ist, diskutiert Algeriens unabhängige und staatsnahe Presse ungewohnt offen über Mittel und Motive dieses ­Protests.

Bereits zum Jahreswechsel gab die private französischsprachige Tageszeitung El Watan (28. Dezember 2018) einen Ausblick unter dem Titel „Was uns 2019 erwartet“ und wagte die Voraussage: „Eine Präsidentschaftswahl oder vielleicht auch nicht!“

Zu Jahresbeginn war noch offen, ob Bouteflika, der seit 20 Jahren im Amt und seit 2013 aufgrund der Folgen eines Schlaganfalls der Öffentlichkeit entrückt ist, für eine fünfte Amtszeit kandidieren würde. Bis zum ­frühen Februar bestimmten daher Spekulationen die öffentliche Debatte. Die Online-Nachrichtenagentur Tout sur L’Algérie (TSA) schrieb von einer „seltsamen Haltung der Parteien der Präsidentschaftsallianz. Kein Wort mehr von FLN, RND, TAJ und MPA, seit ihre jeweiligen Parteiführer vor fünf Tagen bekannt gaben, dass sie Abdelaziz Bouteflika als ihren Kandidaten für die nächste Präsidentschaftswahl vorgesehen haben.“ Das führte die Agentur zu der Frage, ob dies „nur eine weitere Unschlüssigkeit an der Spitze“ sei (7. Februar).

Bereits 2018 wurde die Lähmung des politischen Systems wiederholt deutlich. Die Blockade des Parlaments von September bis Oktober 2018 und die Auseinandersetzung um die Neubesetzung des Senats im Dezember zeugten von inneren Kämpfen um die Ausrichtung der Präsidentenpartei Front de libération nationale (FLN). Das Schachern um die wichtigen Staatsorgane – der Senatspräsident ist zugleich die Nummer zwei im Staat – beschädigte das ohnehin ­geringe Vertrauen der Bevölkerung in die politische Elite wohl weiter.

Nach der offiziellen Bekanntgabe Bouteflikas, für eine weitere Amtszeit kandidieren zu wollen, schrieb El Khabar, eine der meistgelesenen, arabischsprachigen Tageszeitungen: „Bouteflika bricht die Spannung“ (11. Februar). Flankiert wurde die Schlagzeile von einem Bild des unverkennbar schwerkranken Präsidenten.

Eine Bewegung findet sich selbst

Bei ersten lokalen Protesten in Kherrata, das in der Provinz Béjaïa im Osten des Landes liegt, wurde schnell ein Ende der „mörderischen Macht“ beziehungsweise von „Le Pouvoir“ gefordert, ein gängiger Begriff für die Machtclique um Präsident Bouteflika. Ein Protestmarsch in Khenchela gegen die Blockade des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Rachid Nekkaz, in dessen Verlauf es zur Demontage eines Bouteflika-Plakats kam, schlug große Wellen in den sozialen Medien.

Die regimenahen Medien schwiegen dazu. Stattdessen veröffentlichte die regierungseigene, arabischsprachige Zeitung El Massa noch einen Tag vor der ersten Großdemonstration in Algier eine lobpreisende Biografie mit dem Titel „Bouteflika: Mensch, Vision und Herangehensweise im Dienste des Friedens“; auf dem Coverbild hält der „Friedensbotschafter“ eine weiße Taube in der Hand (21. Februar). Schon einen Tag später befand sich die Hauptstadt im Lichte der ersten Großdemonstration laut Online-Plattform ObservAlgérie im „Belagerungszustand“ (22. Februar). Regierungszeitungen wie El Massa blendeten die Massendemonstrationen jedoch weiterhin aus und berichteten stattdessen über eine Tourismusmesse (23. Februar).

Die Journalistin Ghania Mouffok bilanzierte in einem Blog für Kultur und Politik, NEDJMA, die freitäglichen Märsche stimmten mit ihren „silmya“-Rufen (arabisch für „friedlich“) „das neue Freitagsgebet“ an. Bei den ersten beiden Massendemonstrationen, in Algier seit 2001 gesetzlich verboten, sei keinesfalls eine Mauer der Angst gefallen. Gebrochen sei ein „Pakt des Schweigens“.

Die Demonstrationen seien „neu und historisch, unvergleichlich mit allen anderen, und wenn es keine Revolution ist, ist es in der Tat eine kollektive und massive Befreiung von einer unsichtbaren Last“, so Mouffok weiter (28. Februar). Die Soziologin Fatma Oussedik fragte in El Watan: „Drei Millionen Menschen auf den Straßen der Städte des Landes: Wer sind wir?“ Ihre Antwort: „In erster Linie eine städtische Bevölkerung, die die Mehrheit der algerischen Bevölkerung ausmacht.“ Altersgruppen- und geschlechterübergreifend seien die Proteste gewesen, und „bemerkenswert ist die starke Präsenz der meist schweigenden Mittelschicht“ (7. März).

Die am 3. März verkündeten Konzessionen Bouteflikas – eine verkürzte fünfte Amtszeit und eine Übergangsphase – stießen schnell auf Ablehnung. Am 11. März folgten die Ankündigung eines Verzichts auf ein weiteres Mandat, die Etablierung einer „Nationalen Konferenz“ und die Verschiebung der angesetzten Wahlen: anstelle eines fünften bedeutete dies praktisch eine Verlängerung des vierten Mandats.

Mit dem offiziellen Verzicht Bouteflikas auf eine fünfte Amtszeit ging eine – unvollständige – Regierungsumbildung einher. Der neue Premierminister Noureddine Bedoui hatte laut der unabhängigen Online-Plattform Maghreb Emergent „große Schwierigkeiten, ein Regierungsteam zu bilden, das nicht in der Kontinuität der Bouteflika-Ära steht“ (22. März).

Gleichzeitig eröffnet der neu bestimmte Stellvertreter Bedouis, Ram­tane Lamamra, eine bereits schwelende Debatte über die Rolle externer Akteure. Kritik an seinen Auslandsreisen und seiner Werbung für den Übergangsplan Bouteflikas in Moskau, Rom und Berlin dominierte den öffentlichen Diskurs. „Lamamra will die politische Krise internationalisieren“, konstatierte die Nachrichtenagentur TSA. Demonstranten werfen ihm vor, selbst „die Hand des Fremden in Algerien“ zu sein (22. März).

El Khabar schrieb dazu: „Es ist kein Geheimnis, dass die Unterstützung der großen Hauptstädte für den Fahrplan zur Macht, der vom Volk abgelehnt wird, nicht kostenlos ist, sondern dass diesen Ländern im Gegenzug für ihr Schweigen Zugeständnisse und Vorteile angeboten werden müssen“ (19. März). Die staatliche Nachrichtenagentur APS versuchte offenbar, die Wogen zu glätten: „Niemand bat Russland um Hilfe. Algier und Moskau wollen in ihrer Zusammenarbeit gute Beziehungen pflegen“ (21. März).

Die Frage über Mittel und Wege zur Überbrückung der Zerwürfnisse bestimmte seitdem auch die Tagespresse: Tauwetter in der bis dahin starren Medienlandschaft. Selbst die regierungseigene Zeitung El Massa titelte nach dem fünften Freitag der Großdemonstrationen: „Millionen [Menschen] zur Förderung nationaler Einheit und Beschleunigung des Wandels“ (23. März).

Sammelbecken für Ideen

Algeriens Medien verwandelten sich seitdem zum Sammelbecken von Ideen für die Zukunft des Landes. Allen voran in den sozialen Netzwerken, aber auch auf den Titelseiten und in den Kommentarspalten sämtlicher Zeitungen werden täglich neue Vorschläge und Entwicklungen reflektiert. Während die Präsidialelite weiter für die Nationale Konferenz und eine Übergangsphase wirbt, kam vonseiten der alten Opposition beispielsweise der Vorschlag eines neu zu gründenden kollegialen „Präsidialorgans“ auf. Diese Idee habe, so El Khabar, „keine verfassungsrechtliche Grundlage“. Da Algerien aktuell „in einem Stadium außerhalb der verfassungsrechtlichen Legitimität“ lebe, sei dies jedoch denkbar (25. März).

Zum alles überragenden Thema wurde derweil die Rolle des Militärs. Die weitgehend unabhängige Tageszeitung Quotidien d’Oran gab auf die Frage „Was wird die Armee tun?“ folgende Antwort: „Die Opposition beschuldigt den Bouteflika-Clan, die Verfassung mit Füßen zu treten, und die Opposition ist nicht besser. Sie fördert die Verletzung der Gesetze der Republik und fordert das Militär auf, (wieder) im politischen Terrain zu investieren“ (25. März).

Ohne Zweifel stehe die Armee unter Druck, berichtete El Khabar. Dass sich Armeechef Gaïd Salah am 26. März dafür aussprach, Artikel 102 der Verfassung zur Bestimmung der Amtsunfähigkeit des Präsidenten anzuwenden und damit den Abgang Bouteflikas beschleunigte, galt der Zeitung als deutliches Zeichen. Dieser Paukenschlag löste eine hitzige Debatte aus, doch laut der Online-Plattform ObservAlgérie blieben die Reaktionen der Opposition verhalten bis skeptisch. So lehnten Führer aus dem islamistischen Spektrum wie Abdallah Djaballah oder Abderrazak Makri ein Eingreifen der Armee ebenso ab wie die Oppositionellen Mustapha Bouchachi und Rachid Nekkaz. Dies würde „die Fortsetzung des Systems“ erlauben, so Nekkaz (26. März).

Am sechsten Freitag seit Beginn der Proteste dominierte laut El Watan die Kritik am Militär die Massenbewegung (2. April). In einem ­anonymen Leitartikel auf der Titelseite von El Moudjahid wurden „Angriffe auf die Glaubwürdigkeit“ der Armee dennoch als „rote Linie“ bezeichnet (1. April). Auf die unmittelbar folgende Rückzugsankündigung des Präsidenten reagierten die unabhängige Presse und die Protestbewegung skeptisch. „Bouteflikas Rücktritt könnte sich in eine Verschwörung gegen das Volk verwandeln“, zitierte TSA die Oppositionspartei MSP (2. April). El Watan zufolge sei es „nicht sicher, ob die Straße mit den Konzessionen des Regimes zufrieden ist“ (2. April).

Euphorie und Spaltungsängste

Schon vorher oszillierte die Stimmung zwischen Euphorie und Spaltungsängsten. Erinnerungen an die koloniale Vergangenheit und die Grauen der „Schwarzen Dekade“, des Bürgerkriegs von 1992 bis 1999, befeuerten viele Ängste vor äußerer Einmischung. Und doch setzte die bislang führungslose, friedliche und fragmentierte Protestbewegung den Aushandlungsprozesses über ihre eigene Zukunft fort.

Von der zeitintensiven Debatte wird sie selbst vermutlich nicht profitieren. El Khabar konstatierte bereits, die Herrschenden hätten auf den „Zeitfaktor gesetzt, um die Bewegung zu schwächen“ (23. März). Ob sich nun der von der Tageszeitung L’Éxpression beschriebene „Dritte Weg“ zwischen den Plänen der Elite und der Opposition anbahnen wird, ist fraglich. „Kein Volk der Welt kann akzeptieren, dass ein Präsident, der nicht spricht, an seiner Stelle gewählt wird“, bilanzierte Ghania Mouffok auf dem ­NEDJMA-Blog.

Die Demonstranten fordern deshalb schon länger „einen neuen politischen Vertrag zwischen der Regierung und den Regierten. Ein Vertrag, der noch geschrieben und unterzeichnet werden muss. Der Weg wird hart und lang sein“, so ­NEDJMA. El Khabar brachte einen Monat später am 28. März die Situation auf den Punkt: „Die kommenden Wochen werden für die Volksbewegung entscheidend sein.“ Was TSA am 3. April als ein „Ende ohne Ruhm“ für Bouteflika bezeichnet, ist sogleich der Beginn einer ungewissen Zukunft für Algerien und seine Protestbewegung.
 

Luca Miehe ist Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 130-133

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