Der lange Atem der Autokratie
Durchregieren als Fundament, Mitsprache als Fassade: Warum das System Erdoğan länger bestehen dürfte als von vielen erhofft – und wie die Geopolitik dem Präsidenten dabei in die Hände spielt.
Angenommen, wir schrieben heute das Jahr 2028 und es wären Wahlen in der Türkei, wie würden diese ausgehen? Ein Blick auf die aktuellen Umfragen: Denen zufolge lagen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP im Herbst 2024 knapp vorne, mit – je nach Umfrageinstitut – 31,2 bis 34,5 Prozent der Stimmen. Zum Redaktionsschluss dieses Textes Anfang Dezember kam die Regierungspartei immer noch auf über 30 Prozent, würde sich aber ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der Republikanischen Volkspartei (CHP) liefern. Was ist also dran an der These, die viele nach den Erfolgen der Opposition bei den Regionalwahlen im Frühjahr 2024 geäußert hatten: dass die politische Zeit des türkischen Präsidenten langsam zu Ende gehe?
Dass Erdoğan irgendwann die Politik verlassen wird – geschenkt. Der Präsident ist Jahrgang 1954. Doch sind auch die Tage des politischen Systems oder der politischen Kultur Erdoğans in der Türkei gezählt? Werden Parteien und Politiker in näherer Zukunft einen echten Wandel des Landes herbeiführen können – hin zu einer liberalen Demokratie?
Unberechenbare Ökonomie
Nun, transformiert wird die Türkei bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten – und zwar durch Präsident Erdoğan und die AKP. Ein Umbau aller politischen Strukturen wird nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen sein. Daran ändert auch das Ergebnis der Kommunalwahlen vom vergangenen März nicht viel: Ankara und Istanbul haben viele Hoffnungen geweckt; doch ob sie ein Wendepunkt in der türkischen Politik sein können, muss sich erst erweisen.
Tauchen wir etwas tiefer ein in die innenpolitischen Entwicklungen der Türkei. Ganz oben auf der Liste der Probleme steht die Wirtschaftskrise. Sie war schon bei den Kommunalwahlen verantwortlich dafür, dass die AKP und ihr rechtsnationalistischer Koalitionspartner, die MHP, Verluste einstecken mussten und – möglicherweise noch etwas schlimmer – viel von ihrem politischen Glanz verloren haben.
Während die AKP in den 2000er Jahren die türkische Wirtschaft mit einer Kombination aus ökonomischen Reformen und einer stärkeren Einbindung des Landes in die EU aus ihrer damaligen Krise herausholen konnte, gelten ihre Fähigkeiten zur Problemlösung heute nicht mehr als über jeden Zweifel erhaben.
„Die Türkei hat keine andere Wahl, als auf einen rationalen Boden zurückzukehren“, hatte Finanzminister Mehmet Şimşek bei seinem Amtsantritt im Herbst 2023 den Finger in die Wunde gelegt. „Eine regelbasierte, vorhersehbare türkische Wirtschaft wird der Schlüssel zum Erreichen des gewünschten Wohlstands sein.“ Davon ist die Ökonomie des Landes noch vergleichsweise weit entfernt, doch Şimşek selbst gilt bei vielen Beobachtern im In- und Ausland als Hoffnungsträger dafür, dass es mit der türkischen Wirtschaft wieder aufwärts gehen könnte.
Loyalität vor Qualität
Etwas andere Schlüsse zieht der Präsident selbst aus der ökonomischen Krise und der geopolitischen Weltlage: All das zeige, so Erdoğan im Einklang mit seiner Partei, dass das derzeitige Präsidialsystem zwar besser geeignet ist als frühere Systeme, um auf Herausforderungen zu reagieren. Das System müsse aber weiter „optimiert“ werden. Mit anderen Worten: Der Präsident möchte mehr Macht für seine Partei und für sein Amt. Sollten tatsächlich Änderungen am System vorgenommen werden, die Erdoğan politisch stärken würden, so wäre eine Festigung seines Systems die logische Folge, mit massiven Auswirkungen auf die türkische Innenpolitik.
Nicht einmal ein Fünftel der Türkinnen und Türken glaubt, dass die Justiz in ihrem Land unabhängig ist
Schon jetzt macht es das präsidiale System möglich, dass die AKP politische, exekutive sowie judikative Schlüsselpositionen und Ministerien mit Personen besetzt, die ihre Loyalität gegenüber der Partei vor die gegenüber dem Land stellen. Diese Entwicklung wird seit Jahren von Expertinnen und Experten kritisiert; sie weisen darauf hin, dass sich ein derartiges System der politischen Patronage letztlich auf die Qualität des Personals auswirke, etwa im diplomatischen Apparat.
Die fehlende parteipolitische Neutralität von staatlichen Institutionen ist ein ebenso beklagenswertes wie deutliches Signal dafür, dass das System Erdoğan nicht am Ende ist. Nur 15,7 Prozent der Türkinnen und Türken gingen laut einer Umfrage im Jahr 2022 davon aus, dass die Justiz in der Türkei unabhängig sei; heute dürfte das nicht viel anders aussehen.
Journalismus als Straftatbestand
Um das autoritäre System weiter zu festigen, wurde am 22. Oktober 2022 das sogenannte „Desinformationsgesetz“ verabschiedet. Damit kann die türkische Regierung direkt Einfluss auf kritische Medien nehmen und somit eine wichtige Säule der Demokratie aushebeln oder nach eigenen ideologischen Überzeugungen färben. Ziel ist es, investigativen Journalismus zu beschränken oder ganz zu verbieten, Kritik an der Regierung, an religiösen oder gesellschaftlichen Normen frühzeitig zu unterbinden und abweichende politische Meinungen oder Agenden, die der AKP schaden könnten, leichter zensieren zu können.
Zwar habe die Regierung damals behauptet, Journalisten seien von dem Gesetz nicht betroffen, fasste der heute im Exil schreibende Bülent Mumay die Folgen des Gesetzes im Mai 2024 rückblickend in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammen: „Doch kaum war es in Kraft, wurde gegen etliche Journalisten ermittelt, es gab Festnahmen und Haftbefehle.“ Von „Journalismus als Straftatbestand“ sprach die Journalistin Gamze Kafar.
Heute werden wichtige türkische Tageszeitungen wie Hürriyet und Milliyet oder Nachrichtensender wie CNN Türk und Habertürk direkt durch die AKP oder durch Unternehmen kontrolliert, die dem Präsidenten nahestehen. Ihr Interesse an einer korrekten und fairen Berichterstattung hält sich dementsprechend in Grenzen. Nur ein Beispiel: Als Erdoğan die Vertreter von Oppositionsparteien beschuldigte, Mitglieder terroristischer Organisationen zu sein oder zumindest jederzeit bereit zu sein, terroristische Anschläge zu ermöglichen, wurden diese Vorwürfe ungeprüft von AKP-nahen Medien übernommen.
Diese Form der Medienkontrolle ist in der Geschichte der Türkei nichts ganz Neues; auch Parteien wie die CHP haben sich solcher Methoden schon bedient. Das System Erdoğan orientiert sich in der Ausgestaltung seiner autoritären Politik also auch an historischen Vorbildern in der türkischen politischen Kultur.
Und auch wenn die regierende AKP diese Praktiken mittlerweile quasi perfektioniert hat, so stellt sich doch ganz grundsätzlich die Frage, ob es den türkischen Parteien in Zukunft gelingen wird, solchen undemokratischen Methoden den Rücken zu kehren und die autoritäre politische Kultur aufzugeben.
Die Richter der Regierung
Ein weiterer Sektor, in dem sich zeigt, dass das System Erdoğan nach wie vor ausgesprochen stabil und lebendig ist, ist die Judikative. Von einer Inhaftierung bedroht sind nicht nur politische Gegner des Präsidenten, sondern auch Philanthropen wie Osman Kavala. Kavala, Gründer der Nichtregierungsorganisation Anadolu Kültür, wurde 2017 inhaftiert und schließlich 2022 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, weil er sich angeblich 2013 an einem Umsturzversuch beteiligt hatte.
Das türkische Parlament erhält keine oder kaum Informationen über Staatsausgaben; Korruptionsvorwürfe gegen die AKP halten sich hartnäckig
Dass die Kritiker der Regierung nicht nur auf politischer Ebene gegen den türkischen Präsidenten kämpfen müssen, weiß auch der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu. İmamoğlu wird in den kommenden Jahren von seinen politischen Gegnern noch einiges zu erwarten haben, und das, obwohl oder doch eher: weil er so populär im Land ist. Allein durch seine Anwesenheit und sein Auftreten erinnert er die AKP immer wieder schmerzlich daran, dass ihr über kurz oder lang mit dem Ausscheiden Erdoğans ein charismatischer Parteiführer abhandenkommen wird.
İmamoğlu steht für eine demokratische und transparente Politik – ein weiterer Grund, warum er der AKP ein Dorn im Auge ist. Denn gerade Transparenz ist ein Tool, dessen sich Erdoğan und die Seinen nur sehr selektiv bedienen, um es einmal vorsichtig zu formulieren. So kritisieren Beobachter immer wieder, dass das türkische Parlament keine oder wenig Informationen über Staatsausgaben erhalte. Auch Korruptionsvorwürfe gegen die AKP halten sich hartnäckig.
Dass sich die Regierung in Ankara all das noch leisten kann, hat viel damit zu tun, dass eben auch in der Judikative wichtige Positionen wie Richterämter mit loyalen Mitstreitern besetzt sind.
Erben Erbakans
Die steigenden Umfragewerte der AKP und Präsident Erdoğans zeigen, dass die Partei durch ihre islamistisch-nationalistisch formulierte Außenpolitik an Boden gewinnen und anderen islamistischen oder nationalistischen Parteien in der Türkei den Wind aus den Segeln nehmen konnte.
Da trifft es sich schlecht, dass ausgerechnet jetzt der Sohn von Erdoğans einstigem politischen Lehrmeister, Necmettin Erbakan, der AKP das Leben schwermacht. Erbakan hatte in den 1970er Jahren seine islamistische Bewegung gegründet, weil er überzeugt war, dass der fehlende Islambezug ein erhebliches Manko der türkischen Politik war.
Seine Erben, darunter Erdoğan, orientierten sich Anfang der 2000er Jahre weg von Erbakan, um das Zusammenspiel von Religion und Politik in der Türkei neu zu justieren. Die kemalistische Religionspolitik „von oben“ und die in den 1980er Jahren entstandene türkisch-islamische Synthese sollten durch eine liberalere Politik nach dem Vorbild westeuropäischer Christdemokraten ersetzt werden. Fatih Erbakan, Necmettins Sohn, hat nun die politische Bühne in der Türkei betreten. Er hat Großes vor und wird alles daransetzen, seinen Vater politisch zu rächen.
Neue Handlungsspielräume
Während es im Frühjahr 2024 nach den Kommunalwahlen kurz danach aussah, dass die Lage der türkischen Wirtschaft die AKP dazu zwingen könnte, mehr in die Innenpolitik zu investieren und sich politisch zu öffnen, so ist der generelle Trend ein anderer: Die geopolitischen und ökonomischen Entwicklungen haben neue Handlungsräume für die autoritäre Politik des Präsidenten geschaffen. Das betrifft etwa die Energiepolitik oder die erneuten Flüchtlingswellen aufgrund der Entwicklung im Nahen Osten. Wechselseitige Isolation ist im Moment keine Option.
Die wirtschaftlichen Probleme der Türkei werden dadurch nicht verschwinden, aber den jahrzehntelangen Bündnispartnern wird nichts anderes übrig bleiben, als das System Erdoğan zähneknirschend weiter zu akzeptieren.
In einer Situation, in der man die Türkei unbedingt braucht, werden die Bündnispartner im Zweifel darauf verzichten, Themen wie Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte oder Minderheitenschutz anzusprechen
Ob die republikanische CHP, der wichtigste politische Konkurrent der AKP, ihre Position bis 2028 deutlich verbessern kann, ist im Moment nicht abzusehen. Gerade in der gegenwärtigen außenpolitischen Lage wird sich die CHP hüten, Fundamentalopposition gegen die AKP zu betreiben. Das gilt umso mehr, als sich in der CHP selbst und anderen türkischen Massenparteien auch starke antiwestliche Fraktionen finden, und auch autoritäre oder sogar antisemitische Strömungen sind keine unbekannten Phänomene im türkischen Parteienspektrum.
Wirtschaftliches Scharnier
Der russische Angriff auf die Ukraine und die Entwicklungen seit dem 7. Oktober haben die wirtschaftliche Relevanz der Türkei erheblich erhöht. Das bedeutet nicht, dass die EU-Türkei-Verhandlungen über einen Beitritt sofort wiederaufgenommen werden könnten; aber doch, dass beide Akteure viel miteinander kooperieren werden, um ihre Handlungsoptionen nicht zu begrenzen. Die EU wird einiges daransetzen, dass die Türkei bei einer Flüchtlingswelle aus dem Libanon oder anderen Regionen des Nahen Ostens weiter als „Schutzwall“ dient.
Parallel dazu könnte Ankara in den kommenden Jahren noch weitaus stärker als wirtschaftliches Scharnier in den Nahen Osten dienen, weil Europa aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine bereits an Optionen eingebüßt hat. Die politische und ökonomische Distanzierung der EU von Russland erfordert neue Bündnispartner oder eben die Glättung politischer Diskrepanzen mit altvertrauten Bündnispartnern.
Für die türkische Regierung, die stark vom Außenhandel lebt, ist das ein willkommener Anlass, um ihr autoritäres System auszubauen, statt allzu viele Gedanken auf einen möglichen politischen Kurswechsel zu verschwenden. Denn in einer solchen Situation werden auch die Bündnispartner Ankaras im Zweifel darauf verzichten, die politischen Kopenhagener Kriterien für einen EU-Beitritt wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte oder Minderheitenschutz anzusprechen. Das System Erdoğan profitiert davon, weil es erneut die Doppelmoral der politischen Kooperationspartner Ankaras aufzeigt.
Diese Partner werden sich auch weiter genötigt sehen, mit einer Regierung zu kooperieren, die schon lange vor dem 7. Oktober 2023 antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet hatte – wie etwa die, dass eine internationale „Zinslobby“ angeblich das Ziel verfolge, weltweit Probleme zu schüren und gerade die türkische Wirtschaft zu schwächen.
Kein Wandel in Sicht
Auch wenn sich die türkische Wirtschaft in den kommenden Jahren nicht deutlich erholen sollte, gibt es doch zwei wichtige Gründe, die dem türkischen Präsidenten in die Hände spielen. Zuerst einmal ist das die offensichtliche Tatsache, dass unmittelbar keine Wahlen im Land anstehen und die AKP bis 2028 Zeit haben wird, um die wichtigsten Herausforderungen anzugehen. Wichtiger noch ist im Moment die geopolitische Konstellation. Ihre geografische Lage lässt die Türkei dabei zu einem besonders relevanten Player werden und zu einem ausgesprochen attraktiven Bündnispartner.
Trotz aller internen und externen Probleme lassen sich keine Anzeichen eines bevorstehenden Endes des Systems Erdoğan beobachten. Die nicht nachlassende Stärke der AKP, die autoritären Strukturen und die Beeinflussung von Medien und Justiz tragen zusammen mit der geopolitischen Bedeutung der Türkei einiges dazu bei, dass ein grundlegender Wandel hin zu einer liberaleren Demokratie in naher Zukunft eher unwahrscheinlich ist.
Die Opposition steht vor internen Konflikten und äußeren Barrieren, die es schwierig machen, einen effektiven politischen Wandel herbeizuführen. Fehlende Transparenz und anhaltende Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung führen zu keiner wesentlichen Konsequenz; und ohne bevorstehende Wahlen wird Präsident Erdoğan ausreichend Zeit haben, sein System zu festigen oder gar noch weiter auszubauen.
Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2025, S. 14-19
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