Weltspiegel

05. Juni 2024

Der Kampf gegen den inneren Feind

Für den Wiederaufbau der Ukraine werden gewaltige finanzielle Mittel benötigt. Reichen die Vorkehrungen gegen Korruption und Veruntreuung aus? 

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Bild: Semen Kryvonos in seinem Büro
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Die jüngsten Schadensanalysen von Weltbank, Europäischer Union, Vereinten Nationen und ukrainischer Regierung, veröffentlicht im Februar 2024, gehen von Wiederaufbaukosten in Höhe von 486 Milliarden Dollar aus. Da Russland sich wieder in der Offensive befindet, dauert die Zerstörung ukrainischer Energieinfrastruktur, Städte und Dörfer an und treibt die Kosten weiter in die Höhe.

 Die für die Erholung erforderlichen Mittel, inklusive der Investitionen aus dem Ausland, sind umfangreich verglichen mit dem ukrainischen BIP, das sich 2022 auf 160 Milliarden Dollar belief, oder den 100 Milliarden Dollar an kumulierten ausländischen Direktinvestitionen, die das Land seit 1991 erhalten hat. Dies wirft die Frage auf, wie ausreichend Geld angezogen, sinnvolle Projekte umgesetzt und die Ausgaben transparent überwacht werden können, um Missbrauch und Korruption vorzubeugen.

Jeder Fall von Veruntreuung von Mitteln droht die westliche Unterstützung zu untergraben, von der die Ukraine so existenziell abhängt. In den vergangenen 30 Jahren hat die Ukraine viele Maßnahmen ergriffen, ihr Korruptionsproblem zu bekämpfen. Doch wie gut steht das Land heute da, wenn es darum geht, Korrup­tion beim langfristigen Wiederaufbau zu vermeiden?

Korruption ist ein typisches Merkmal von Transformationsgesellschaften, insbesondere in Ländern, die früher Teil der Sowjetunion waren. Seit ihrer Unabhängigkeit wurde die Ukraine von schwachen Institutionen geplagt – so ging es den meisten „postsozialistischen“ Staaten. Doch anders als in den Staaten Mittel- und Osteuropas gelang es den herrschenden Kommunisten in der Ukraine anfänglich, sich an der Macht zu halten; aus verschiedenen Gründen strebte das Land zunächst weder eine Mitgliedschaft in der NATO noch in der EU an. Daher gingen die Anpassung der Ukraine an die Marktwirtschaft und die damit einhergehenden Staatsreformen nur schmerzhaft langsam voran.


Fortschritte seit 2014

Seit 2014 wurden eine Vielzahl an Reformgesetzen verabschiedet und eine Reihe von Transparenz- und Rechenschaftsmechanismen eingeführt. Dazu zählt ProZorro, ein preisgekröntes, verpflichtendes System zur öffentlichen Auftragsvergabe, das dem Staat zwischen 2017 und 2021 Ersparnisse in Höhe von sechs Milliarden Dollar einbrachte. Eine weitere Errungenschaft ist die Einführung eines der global weitreichendsten Register für elektronische Vermögenserklärungen: Etwa eine Million Bedienstete des Staates – von Lokalpolitikern bis zu obersten Richtern – müssen jährlich umfassende Erklärungen über Vermögen und Einkommen ihrer Familien einreichen. Dieses vollkommen transparente Register ermöglicht es Anti-
Korruptions-Behörden, Journalisten, Aktivistinnen und gewöhnlichen Bürgern, ihre Staatsbediensteten zur Verantwortung zu ziehen.

Erstmals hat die Ukraine auch unabhängige Anti-Korruptions-Institutionen eingerichtet, ausgestattet mit dem Auftrag, Korruption auf höchster Ebene zu bekämpfen. Im Jahr 2015 wurden das Nationale Anti-Korruptions-Büro (NABU) und die Spezialisierte Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft (SAPO) eingerichtet. Diese Behörden wurden 2019 durch das Hohe Anti-Korruptions-Gericht (HACC) ergänzt und als „Inseln der Integrität“ außerhalb der bestehenden Institutionen angesiedelt mit dem Ziel, politische Korruption auf höchster Ebene zu bekämpfen.

Ein wichtiges Element besteht da­rin, dass die neuen Institutionen, die über weitreichende Befugnisse verfügen, ihr Führungspersonal in transparenten und meritokratischen Auswahlprozessen bestimmt haben. Entscheidendes Kriterium war dabei neben fachlicher Qualifikation auch ein hohes Maß an Integrität. Erstmals haben ausländische Expertinnen und Experten an dem Prozess teilgenommen und hatten ein Vetorecht, um bestimmte Kandidaten auszusortieren. Gemeinsam haben die neuen Institutionen über 500 hochrangige Staatsbedienstete, Richter und Geschäftsführer von Staatsbetrieben angeklagt; fast 200 davon wurden verurteilt. Sogar nach dem großangelegten russischen Angriff haben die Korrup­tionsfahnder und Staatsanwälte ihre Arbeit fortgesetzt und einige namhafte Personen verhaftet.

Seit Februar 2022 wird der Großteil der staatlichen Mittel für Militärausgaben und die allgemeinen Kriegsanstrengungen verwendet; daher ist Korruption im militärischen Bereich ein besonders sensibles Thema. 2023 erschütterten Vorwürfe in Sachen überteuerter Beschaffung von Lebensmitteln und Ausrüstung das ukrainische Verteidigungsministerium. Anfang dieses Jahres deckten ukrainische Ermittler einen Korruptionsfall auf, bei dem es um die Anschaffung von Waffen durch das Militär im Wert von 40 Millionen Dollar ging. Nicht wenige ukrainische Experten gehen davon aus, dass diese Skandale nur die Spitze des Eisbergs sind, da die meisten militärischen Beschaffungen der Geheimhaltung unterliegen. Jeder Skandal löst indes in der ukrainischen Bevölkerung große Empörung aus; es gibt ein ausgeprägtes Bewusstsein, dass Korruption im Militär die Sicherheit der Armee ebenso bedroht wie die fortgesetzte Unterstützung durch den Westen.


Weniger Korruptionserfahrungen

Nach einer Vielzahl von Schätzungen und Indizes hat die Korruption in den letzten zwei Jahren nachgelassen, bleibt aber ein Problem. In einer 2023 vom Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) durchgeführten und im Juli 2023 veröffentlichten Umfrage gaben 14 Prozent der Befragten an, dass sie oder ihre Familienmitglieder in den vergangenen zwölf Monaten ­Korruption erlebt haben. Diese Zahl ist zwar hoch, aber bei Weitem der niedrigste Wert, seit KIIS im Jahr 2007 erstmals eine solche Umfrage durchführte – damals hatten noch 67 Prozent angegeben, Erfahrungen mit Korruption gemacht zu haben. Dieselbe Umfrage ergab, dass Korruption als das größte Problem wahrgenommen wird, dem sich die Ukraine nach dem Krieg wird stellen müssen; 89 Prozent der Befragten waren dieser Meinung. 

Bemerkenswerterweise verzeichnete die Ukraine im Korruptionswahrnehmungsindex 2023 von Transparency International eine der stärksten jährlichen Verbesserungen und rückte infolgedessen auf Platz 104 von 180 Ländern vor, den sie sich mit Brasilien und Serbien teilt. Damit gehört die Ukraine zu den wenigen Ländern, in denen sich die Situation „besonders verbessert“ hat, während sich die Lage in vielen anderen Staaten in den vergangenen Jahren verschlechtert hat.

Dieser Befund wird dadurch erhärtet, dass die ukrainische Gesellschaft die Korruption als den größten „inneren Feind“ ansieht, den es angesichts der existenziellen Bedrohung durch Russland einerseits und der Aussicht auf einen EU-Beitritt andererseits zu bekämpfen gilt.

Die positive Entwicklung in der Korruptionsbekämpfung wurde auch vom Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission anerkannt, der im Dezember 2023 Grundlage für die historische Entscheidung des Europäischen Rates war, den Weg für Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine freizumachen. 

Kurz gesagt: Die Anti-Korruptions-Institutionen, die die Ukraine nach den Maidan-Protesten eingerichtet hat, stellen ihre Effektivität täglich unter Beweis, indem sie hochkarätige Korruptionsfälle mächtiger Personen untersuchen. Allerdings bleibt angesichts ihres engen Mandats, politische Korruption auf höchster Ebene zu bekämpfen, die Frage unbeantwortet, wie Korruption beim Wiederaufbau der Ukraine auf allen Ebenen vermieden werden kann.


Integrität dank DREAM

An den Erfolg von ProZorro anknüpfend hat die Regierung gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen und internationalen Organisationen das Digital Restoration Ecosystem for Accountable Management (DREAM) eingerichtet. Die Plattform hat das Potenzial, für die Integrität des Wiederaufbaus ebenso entscheidend zu sein wie ProZorro für die allgemeine öffentliche Auftragsvergabe. Sie könnte als einheitliches Kontrollinstrument für alle Wiederaufbauprojekte fungieren und es dem Gesetzgeber ebenso wie Ermittlern, Investoren und Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, alle Dokumente und Schritte jedes einzelnen Wiederaufbauprojekts einzusehen.

Bis Anfang 2024 wurden mehr als 2100 Wiederaufbauprojekte mit bestätigter Finanzierung von insgesamt 3,4 Milliarden Dollar in das System eingespeist. Allerdings ist die Nutzung der Plattform bisher nicht verpflichtend und Missbrauch nicht strafbar. Das sollte sich ändern: Alle Projekte, die direkt oder indirekt von den internationalen Partnern der Ukraine oder von der ukrainischen Regierung finanziert werden, sollten verpflichtend über ­DREAM abgewickelt werden, um maximale ­Transparenz sicherzustellen.

Für die ukrainische Gesellschaft ist Korruption der größte „innere Feind“, den es zu bekämpfen gilt

Doch auch die größte Transparenz wird allein nicht ausreichen, um Korruption zu verhindern. Eine gründliche Haushaltskontrolle ist unverzichtbar. Deshalb muss der Rechnungshof der Ukraine als oberste Rechnungsprüfungsbehörde des Landes, betraut mit der Überwachung von Eingang und Verwendung staatlicher Gelder, erheblich gestärkt und mit mehr Mitteln ausgestattet werden. Nur so kann er eine entscheidende Rolle dabei spielen, alle staatlichen Ausgaben, einschließlich der Wiederaufbaufonds, zu überwachen.

Zur Korruptionsbekämpfung in einem weiteren Sinne ist es von größter Wichtigkeit, die Justizreform voranzutreiben. Die Reform besteht aus verschiedenen Komponenten und betrifft mehrere Gerichte, vom Obersten Gericht der Ukraine und dem Verfassungsgericht bis zum Oberverwaltungsgericht, aber auch die Selbstverwaltungsorgane der Justiz sowie die juristische Ausbildung und die Anwaltskammer. Das Ringen um den richtigen Aufbau der Gerichte und eine hinreichende Überprüfung der Richterinnen und Richter ist für dieses Vorhaben zentral. Während im Bericht der EU von 2023 von Fortschritten die Rede war, sehen Kritiker der Ukraine ein gemischtes Bild. Eine Justizreform in Kriegszeiten durchzuführen, ist besonders schwierig; doch hängt der Erfolg des Wiederaufbaus davon ab, ob die Gerichte effektiv und korruptionsfrei sind.

Während in der Justiz gewisse Fortschritte erzielt wurden, ist ein gänzliches Ausbleiben von Verbesserungen in den Sicherheitsbehörden zu konstatieren, vom vollständig unreformierten Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) zur Nationalen Polizei. Der SBU spielt eine Schlüsselrolle bei Spezialoperationen und wird daher kaum während des Krieges reformiert werden. Doch da alle kleineren Korruptionsvorwürfe zunächst bei der Nationalen Polizei gemeldet werden, braucht es bei dieser Behörde schon während des Krieges erste Reformschritte wie die Besetzung der Führung in kompetitiven Auswahl­prozessen.

Angesichts der gewaltigen für den Wiederaufbau erforderlichen Geldsummen sind private Investitionen ein entscheidender Faktor. Doch klagten in den vergangenen Monaten mehrere ukrainische Unternehmen über den wachsenden Druck von Sicherheitsbehörden und anderen Regierungsorganisationen. Die wichtigste Behörde, um dieses Problem anzugehen, ist das Büro für Wirtschaftliche Sicherheit der Ukraine (ESB), das erst 2021 gegründet wurde. Bedauerlicherweise ist das ESB selbst in eine Reihe von Skandalen verwickelt und steht daher vor einer ­Generalüberholung. 


(Re-)Oligarchisierung verhindern

Seit den 1990er Jahren haben Oligarchen durch ihre Unternehmen, insbesondere in vom Sowjeterbe geprägten Sektoren wie der industriellen Energie- oder Metallurgiebranche, und durch ihre Medien erheblichen politischen Einfluss ausgeübt. In den vergangenen zehn Jahren, vor allem aber nach der großangelegten russischen Invasion hat die Kontrolle der Oligarchen über die ukrainische Wirtschaft nachgelassen; viele haben durch die Zerstörung ihrer Fabriken Milliardenverluste erlitten. Außerdem hat die Regierung ihre kriegsrechtlichen Befugnisse genutzt, um den oligarchischen Einfluss zu brechen. Die Zusammenlegung aller Fernsehkanäle zu einem einzigen, quasistaatlichen Fernsehsender hat die Oligarchen weiter geschwächt – zugleich aber auch Fragen nach der redaktionellen Unabhängigkeit aufgeworfen. 

In den vergangenen zehn Jahren, insbesondere aber seit der russischen Invasion im Februar 2022, hat der Einfluss von Oligarchen nachgelassen

In der heutigen Wirtschaft der Ukraine verfügen Multimillionäre in schnell wachsenden neuen Sektoren wie der IT-Branche nicht mehr über Monopole für die Lieferung und Verteilung von kritischen Ressourcen. Das verringert ihre Möglichkeiten, ihren Reichtum in politischen Einfluss zu übersetzen. Gleichwohl bedarf das Anti-Monopol-Komitee der Ukraine einer Überholung, um den verbleibenden oligarchischen Einfluss und die künftige Ent­stehung von Monopolen effektiv bekämpfen zu können. 

Erste Schritte wurden Ende 2023 gegangen, doch müssen weitere folgen: Milliardenschwere Verträge als Teil des Wiederaufbaus der Ukraine lassen das Entstehen einer neuen Klasse „politisch gut vernetzter“ Unternehmen befürchten.


Erforderliche Veränderungen

Auch wenn der Fortschritt der Ukraine in den vergangenen zehn Jahren beeindruckend ist, braucht es vor dem Hintergrund der enormen Aufgabe des Wiederaufbaus einen stärker institutionalisierten Ansatz der Korruptionsvermeidung. Viele der notwendigen Veränderungen, etwa die Justizreform, sind bereits unterwegs und werden durch den EU-Beitrittsprozess verstärkt. Viele andere erhalten jedoch nicht die notwendige Aufmerksamkeit. 

Reformprozesse beim Büro für Wirtschaftliche Sicherheit oder der Nationalen Polizei werden Zeit brauchen, können aber von den Erfahrungen der neuen ­Institutionen profitieren

Erforderlich sind die Überwachung staatlicher und internationaler Wiederaufbaufonds durch die DREAM-Plattform, die Stärkung des Rechnungshofs der Ukrai­ne und des Anti-Monopol-Komitees sowie Reformen des Büros für Wirtschaftliche Sicherheit und der Nationalen Polizei. Diese Prozesse werden Zeit brauchen, doch die Erfahrungen aus der Einführung der Anti-Korruptions-Institutionen gegen politische Korruption zeigen, dass Veränderung möglich ist. Zentrale Lernerfahrungen zeigen bereits ihre Früchte bei der Justizreform; es geht darum, einen offenen, kompetitiven Auswahlprozess für die Führung von Institutionen zu etablieren und den Fokus auf Erfahrung, fachliche Qualifikation, aber auch auf Integrität zu legen.

Die gute Nachricht lautet also: Die Ukrai­ne und ihre Zivilgesellschaft schreiten bei den Reformen zur Korruptionsbekämpfung voran. Es ist höchste Zeit, dass die internationalen Partner der Ukraine die wichtigen Reformbereiche identifizieren, sich mit Nachdruck für die Umsetzung dieser Reformen einsetzen und das Land bei der Umsetzung unterstützen. Der EU-Beitritt und die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland geben diesen Akteuren die Hebel an die Hand, solch schwierige, aber dringend erforderliche Veränderungen voranzutreiben.

Aus dem Englischen von Matthias Hempert  

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2024, S. 70-74

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Mattia Nelles ist Mitgründer und CEO des Deutsch-Ukrainischen Büros (DUB), eines Beratungsunternehmens mit einem Schwerpunkt auf Analyse und strategischer Beratung zur Verbesserung der deutsch-ukrainischen Beziehungen auf zivilgesellschaftlicher, wirtschaftlicher und staatlicher Ebene.