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02. März 2018

In der Flaute

Sonne, Wind, Biomasse: Noch vor wenigen Jahren sah es so aus, als werde Spanien die europäischen 20-20-20-Klimaziele spielend erreichen. Dann kamen die Wirtschaftskrise und ein Machtwort von Mariano Rajoy: „Zu teuer“, beschied der Ministerpräsident salopp. Gelingt im Schlussspurt, was zuletzt vernachlässigt wurde?

„Der Boom ist zurück“, titelt im Juli des vergangenen Jahres die spanische Wirtschaftswebseite eleconomista.com begeistert. 2016 und 2017 versteigerte die konservative Regierung unter Mariano Rajoy Lizenzen für über 8737 Megawatt an neu zu errichtende Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien.

4607 Megawatt gingen an die Betreiber von Windenergie­anlagen, 4110 Megawat an die Photovoltaik und 20 an Anbauer von Biomasse. Die Selbstverpflichtung derer, die den Zuschlag erhielten: Die Anlagen werden bis zum Jahr 2020 in Betrieb gehen. Der Grund für die Eile: Spanien droht die europäischen Ziele für 2020 zu verpassen. Diese sehen unter anderem die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am primären Energieverbrauch auf 20 Prozent vor.

Bei der Elektrizität in Spanien stammen rund 40 Prozent aus erneuerbaren Quellen. Doch beim Primärenergieverbrauch sieht es bei weitem nicht so gut aus. 2015, dem letzten Jahr, über das Eurostat Zahlen veröffentlicht hat, produzierte Spanien 16,15 Prozent seines primären Energieverbrauchs aus erneuerbaren Quellen. Mit den Lizenzvergaben wird der Anteil laut Energieministerium auf 18 Prozent steigen. Damit fehlen noch immer 2 Prozent. Und die Zeit wird knapp.

Erneuerbar, aber zu teuer

Dabei sah es lange so aus, als würde das Land auf der Iberischen Halbinsel die für 2020 gesteckte Hürde spielend nehmen. Spanien lag in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre immer ganz vorn, wenn es um die Zuwachsraten umweltverträglicher Energieproduktion ging. Doch dann kam die Wirtschaftskrise und mit ihr eine neue konservative Regierung. Ministerpräsident Mariano Rajoy stoppte 2012 den Ausbau erneuerbarer Energien. „Zu teuer“, beschied der Konservative. Bis dahin hatte ­Spanien als eines der wichtigsten Länder in Sachen Erneuerbare gegolten. Einheimische Unternehmen sorgten für eine flächendeckende Industrialisierung, wie es sie im Süden Europas nie zuvor gegeben hatte. Hunderttausende von Arbeitsplätzen entstanden dank Wind und Sonne. Ausländische Investoren planten, bauten mit und errichteten gar eigene Fabriken für Windgeneratoren. Für die Einbindung der Produktion aus erneuerbaren Energiequellen ins Gesamtsystem Spaniens errichtete der Netzbetreiber, die Red Eléctrica, ein Kontrollzentrum, das einmalig in Europa ist.

Die Großen der spanischen Branche mischten weltweit führend mit. Zu Spitzenzeiten Ende der 2000er Jahre war einer von vier Windgeneratoren in den Vereinigten Staaten entweder aus spanischer Produktion oder in der Hand spanischer Betreiber. So besuchte zum Beispiel Barack Obama während seines Präsidentschaftswahlkampfs 2008 eine Fabrik für Windanlagen des spanischen Konzerns Gamesa in Pennsylvania. Nach dem Regierungswechsel 2012 wurde aus dem einstigen El Dorado binnen weniger Monate ein schwarzes Loch. In nur einem Jahr reformierte die Regierung Rajoy den Elektrizitätsmarkt fünf Mal. Betroffen von den Maßnahmen waren vor allem die erneuerbaren Energieformen. „Dekret für Dekret vernichtet die Regierung die Branche“, urteilte der Dachverband der Produzenten erneuerbarer Energien (APPA) damals. Er sollte leider recht behalten.

Am Anfang stand das so genannte Moratorium vom Jahresbeginn 2012. Darin wurde auf unbestimmte Zeit die Förderung von Neuanlagen ausgesetzt. Die Zielvorgaben aus dem Aktionsplan, wie er der EU vorgelegt wurde, um das Ziel 2020 zu erreichen, waren damit Geschichte. Doch auch Altanlagen wurden Opfer der neuen Energiepolitik. Durch mehrere Reformen in der Gestaltung der Einspeisevergütungen verlor die Branche allein 2013 rund 500 Millionen Euro, während die alteingesessenen Energieversorger für ihre Dienstleistungen wie Transport und Netzausbau besser vergütet wurden. Photovoltaikanlagen-Betreiber verloren je nach Regulierung zwischen 15 und 55 Prozent ihrer Einnahmen.

Unter anderem wurde die Anpassung der Vergütung an die Inflation gestrichen. Eine Sondersteuer belegte die Produktion aus erneuerbaren Quellen mit zusätzlichen Abgaben. Außerdem wurde für Altanlagen die Anzahl der Stunden begrenzt, in denen sie festgeschriebene Einspeisevergütungen erhalten. Die restlichen Stunden werden seither nach Börsenwert abgerechnet.

„All diese Maßnahmen haben die Bedingungen, die den Investitionen einst zugrunde lagen, verändert“, beschwerte sich der Erneuerbaren-Dachverband APPA. Kleinanleger, die sich auf die gültigen Einspeisevergütungen und damit auf eine festgeschriebene Rendite verlassen hatten, gingen pleite. Mehrere Investmentfonds klagten vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (­Icsid), das der Weltbankgruppe angehört, gegen Spanien wegen der rückwirkenden Gewinnkürzung. Sie bekamen recht. Die Regierung musste bisher Entschädigungen in dreistelliger Millionenhöhe bezahlen. Weitere Verfahren stehen noch aus. Zig Milliarden an Entschädigungen drohen.

Der Markt bricht zusammen

Spanien verlor den Anschluss. Während von 2013 bis 2015 die Windenergie in Europa um 20 Prozent, in Nordamerika um 24 Prozent und in Asien gar um 36 Prozent ausgebaut wurde, waren es in Spanien gerade einmal 0,7 Prozent. Bei der Photovoltaik sieht es nicht viel besser aus. In Europa wurden im selben Zeitraum zusätzliche 15 Prozent installiert, in Nordamerika 52 Prozent und in Asien 58 Prozent. In Spanien gingen gerade einmal zusätzliche 0,3 Prozent ans Netz.

Der heimische Markt für die spanischen Produzenten von Windanlagen und Solarpanels brach völlig zusammen. Es überlebte nur, wer bereits international aufgestellt war oder schleunigst auf Export umstellte. Zehntausende Arbeitsplätze gingen durch das Moratorium verloren. Während Sonne und Wind brachliegen, ist Spanien weiterhin von der Energieeinfuhr abhängig. 72 Prozent des Primärenergieverbrauchs werden importiert. Im EU-Schnitt sind es gerade einmal 53 Prozent.

Eigentlich sollten der Ausbaustopp erneuerbarer Energien und die Kürzung der Einspeisevergütungen den Strompreis drücken. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nirgends in der Europäischen Union ist der Strom für den Endverbraucher so teuer wie in Spanien. Vor allem seit vergangenem Sommer steigt der Strompreis unaufhörlich, denn die Produktion der Wasserkraftwerke ist drastisch zurückgegangen, seit der Mittelmeerraum von der größten Trockenheit der vergangenen zwei Jahrzehnte betroffen ist. Gaskraftwerke sprangen ein. Rajoy nutzt das, um Stimmung gegen die Erneuerbaren zu machen – auch wenn unabhängige Untersuchungen zeigen, dass die Erneuerbaren den Strompreis senken, während die herkömmlichen Energiequellen wie Öl und Gas ihn steigen lassen. „Obwohl wir weiterhin unter den rückwirkenden Kürzungen leiden, war 2017 das Jahr, in dem wir wieder aufgewacht sind“, erklärt ­APPA-Direktor José María Moya angesichts der ersten Lizenzvergaben seit dem Moratorium 2012. Die Versteigerungen machten der Branche Hoffnung, sagt er. Doch bleibt auch Kritik nicht aus.

„Leider korrigieren die Versteigerungen den Kurs nicht, der uns in den letzten Wagen des Zuges verbannt hat, dessen Lokomotive wir einst waren“, urteilt Sergio de Otto von der Stiftung Erneuerbare Energien. Für ihn „arbeitet die Regierung nur Vorgaben ab“. Es gehe einzig und allein um die Kosten der Stromerzeugung und nicht um eine nachhaltige Industriepolitik, lautet sein Urteil. Deshalb seien die Lizenzen nur an die Großen der Branche vergeben worden. Flächendeckende Entwicklung, nahe am Verbraucher, sei kein Kriterium gewesen, beschwert sich de Otto.

Der Professor an der spanischen Fernuniversität UNED Eduardo Collado sieht dies ähnlich. „Würde es nach mir gehen, würden bei der Photovoltaik keine neuen Großanlagen mehr gebaut“, erklärt der Ingenieur, der einst in der Solarbranche arbeitete. Die neuen Lizenzvergaben allein werden nicht ausreichen, um das Ziel 2020 zu erreichen, ist er sich sicher. „Es wird eine zusätzliche Anstrengung nötig sein“, mahnt Collado. Das Ziel 2020 könne nur erreicht werden, wenn die Produktion großflächig über das Land verteilt würde. Collado ist einer der glühendsten Verfechter der Förderung des Eigenverbrauchs, wie sie der Solarverband UNEF seit Jahren propagiert. Es geht darum, dass der Endverbraucher mittels Solarpanels zum Kleinproduzenten wird.

Die Regierung Rajoy behindert dies ständig. Sie führte eine Abgabe ein, die vom Volksmund schnell „Sonnensteuer“ getauft wurde. Die Gebühren betreffen all diejenigen, die zusätzlich zur eigenen Solarinstallation ans Netz angeschlossen sind, um die Versorgung an sonnenarmen Tagen oder nachts sicherzustellen. Sie zahlen nicht nur die Anschlussgebühren und das, was sie aus dem Netz konsumieren, sondern zusätzlich für jedes selbstproduzierte Kilowatt, für die „Unterstützung“ durch das System.

Während in anderen Ländern der aus dem Netz bezogene Strom gegen den von der Solaranlage ins Netz eingespeisten überschüssigen Strom aufgerechnet wird, sieht der spanische Gesetzentwurf keine vergleichbare Regelung vor. Der überschüssige Strom wird vom Netz abgenommen, aber nicht vergütet, es sei denn, der Kunde ist als Produzent gemeldet. Doch dann wird es richtig teuer. Denn er bezahlt auch noch eine Steuer für die installierte Gesamtleistung seiner Anlage. Selbst wer Batterien installiert, um seinen eigenen Solarstrom zu speichern, und gleichzeitig am Netz hängt, wird für den selbsterzeugten und -verbrauchten Strom zur Kasse gebeten.

Besonders hart trifft es die Ärmsten. Wer einen Vertrag für Kleinverbraucher hat – was bei 17 Millionen Haushalten der Fall ist – oder wer gar den Sozialtarif mit einem Nachlass von 25 Prozent erhält, verliert seine Preisvorteile, wenn er eine Solaranlage installiert. Er muss dann wie ein Großverbraucher den Strom direkt vom Markt beziehen. Die Regierung versprach vor mehr als einem Jahr eine neue Regulierung der Produktion zum Eigenverbrauch. Doch das Gesetzeswerk liegt in irgendwelchen Schubladen.

Während die Regierung einen verzweifelten Endspurt Richtung 2020 gestartet hat, denken Branche und Umweltverbände längst darüber hinaus. 2030 sollen die EU-Länder 35 Prozent ihres primären Energieverbrauchs mit ­Erneuerbaren decken. Und 2050 kommt dann das ganz große Ziel: die CO2-­arme Wirtschaft. Die EU soll ihre Treibhausgasemissionen um 80 bis 95 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 senken. Um das zu erreichen, muss die Stromerzeugung vollständig auf fossile Brennstoffe verzichten. Der Stromverbrauch wird steigen, da man bei vielem von dem, was bisher mit Öl betrieben wird, auf Elektrizität umstellen muss, etwa bei einem Großteil des Straßenverkehrs.

Feierliche Versprechungen

Für Spanien, das 2016 immer noch 14,4 Prozent des Stroms mit Kohle und über 20 Prozent mit Öl und Gas produziert, wird dies keine leichte Aufgabe, zumal bis dahin auch Atomkraftwerke an das Ende ihres Produktionszyklus gelangen. Sie stellen rund 23 Prozent des spanischen Stroms. Die jährlich notwendigen Investitionen, um den Verzicht auf fossile Brennstoffe und Atomenergie zu erreichen, werden auf zehn Milliarden Euro geschätzt. Die Regierung will einen Plan zum energiepolitischen Übergang ausarbeiten und ihn so breit wie möglich mit anderen Parteien und Verbänden abstimmen.

So zumindest die feierlichen Versprechen. Die Realität sieht anders aus. Seit Monaten streitet sich die Regierung um die Kohle. Ausgerechnet einer der größten Stromanbieter Spaniens, Iberdrola, möchte alle Kohlekraftwerke stilllegen. Bis 2030 will das Unternehmen weltweit seinen CO2-Ausstoß um mindestens 50 Prozent senken. Energieminister Alvaro Nadal plant, die Schließung der Kohlekraftwerke per Dekret zu verhindern. Sie seien „für die Wirtschaft notwendige Infrastruktur“, erklärt er. Eine Schließung würde den Strompreis um weitere 15 Prozent ansteigen lassen. Studien zeigen, dass genau das Gegenteil der Fall ist: je mehr Erneuerbare, umso billiger die Stromerzeugung. Denn die Techniken, die noch vor ein paar Jahren gesonderte Bedingungen brauchten, um gefördert zu werden, sind mittlerweile so ausgereift, dass sie tatsächlich wettbewerbsfähig sind.

Es muss also um etwas anderes gehen als um den Strompreis für den Endverbraucher und die Industrie. Es geht um die Arbeitsplätze im Bergbau im spanischen Norden. Das sind Wählerstimmen, um die sich sowohl die Konservativen als auch die sozialistische Opposition mit Versprechen streiten, die mittelfristig in einer CO2-armen Welt nicht einzuhalten sind. Iberdrola-Chef Ignacio Galán, dessen Unternehmen bei knapp 60 Prozent der installierten 48 000 Megawatt Gesamtleistung erneuerbare Quellen nutzt, mahnt die Politik anlässlich des COP23 in Bonn vergangenen Herbst: „Die Zeit zu reden ist abgelaufen, es ist der Moment des Handelns gekommen.“ 20 Länder sahen dies ebenso und einigten sich in Bonn darauf, bis 2030 bei der Stromerzeugung vollständig auf fossile Brennstoffe zu verzichten. Spanien ist nicht darunter.

Reiner Wandler berichtet u.a. für die taz, den Standard und die Zeitschrift Neue Energie aus ­Spanien, Portugal und ­Nordafrika.

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Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 1, März - Juni 2018, S. 53 - 57

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