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27. Jan. 2023

„Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt“

Um die „Zeitenwende“ in effektive Außenpolitik umzumünzen, muss Deutschland neue außenpolitische Strukturen schaffen, sagt der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen. Auch inhaltlich ist ein Umdenken notwendig: Es gilt unter anderem, dem Globalen Süden mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

 

Ein Interview mit Christoph Heusgen

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Christoph Heusgen, chairman of the Munich Security Conference
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IP: Herr Heusgen, eigentlich sollte zum Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz am 17. Februar Deutschlands neue Nationale Sicherheitsstrategie vorliegen. Nun gibt es Verzögerungen. Welches Signal sendet das aus?

Heusgen: Das Wichtigste ist nicht das Datum der Veröffentlichung, sondern die Substanz des Dokuments. Wenn die Nationale Sicherheitsstrategie nicht so schnell fertig wird, dann sehe ich das nicht unbedingt als Nachteil an. Für mich ist das ein Signal, dass die Bundesregierung den ganzen Prozess ernst nimmt und ein Dokument vorlegen will, das Hand und Fuß hat und das, vielleicht mit der Einbeziehung der Bundesländer, für die gesamte Bundesrepublik von Bedeutung ist.

Wenn der Kreis von Inputgebern dann so groß ist, was für eine Art von Dokument können wir erwarten?

Je mehr Beteiligte man hat, desto größer ist natürlich die Gefahr, dass das Dokument verwässert wird. Es ist richtig, dass das Auswärtige Amt hier federführend ist. Es muss die Schlussfolgerungen ziehen, die die Inhalte unserer Politik anbelangen. Außerdem muss das AA darauf bestehen, dass die Sicherheitsstrategie nicht nur beschreibende Ausführungen enthält, sondern auch strukturelle Fragen beantwortet.

Welche Rolle spielt das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt in diesem Prozess?

Die Strategie muss von der Bundesregierung insgesamt getragen werden. Das Kanzleramt, in dem ich selbst viele Jahre gearbeitet habe, ist personell nicht dafür aufgestellt, eine so umfassende Arbeit wie den Entwurf einer Nationalen Sicherheitsstrategie zu leisten. Dass die Nationale Sicherheitsstrategie vom Auswärtigen Amt betreut wird, ergibt aus meiner Sicht durchaus Sinn.

Sie waren zwölf Jahre lang Bundeskanzlerin Merkels außenpolitischer Berater. Auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrung: Was muss in so einem Dokument stehen?

Vor allem zweierlei: Es muss zum einen die Konsequenzen aus dem Zivilisationsbruch, den Russlands Präsident Wladimir Putin mit dem Überfall auf die Ukraine begangen hat – aus der Zeitenwende, die der Bundeskanzler festgestellt hat – beschreiben, vor allem im Hinblick auf unsere künftige Politik gegenüber Russland, China und dem Globalen Süden. Vor diesem Hintergrund muss die Strategie die Ziele und Prioritäten definieren, für die wir unsere Ressourcen einsetzen wollen. Zum anderen muss es sie die Frage beantworten: Wie stellen wir uns strukturell, organisatorisch auf? Da plädiere ich seit vielen Jahren für einen Nationalen Sicherheitsrat, den es in der Vergangenheit aus Ressortegoismen nicht gegeben hat. Ich plädiere auch für eine stärkere Verbindung der verschiedenen Instrumente der Außenpolitik, Handelspolitik, Entwicklungszusammenarbeit bis hin zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das muss ein Nationaler Sicherheitsrat leisten.

Wenn es darum geht, wo dieser Sicherheitsrat angesiedelt werden sollte, stellt sich dann wieder die gleiche Frage: Bundeskanzleramt oder Auswärtiges Amt?

Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Natürlich bestünde die einfachste Lösung darin, den bestehenden Bundessicherheitsrat zu einem Nationalen Sicherheitsrat auszubauen. Man kann aber auch eine neue Institution gründen, etwa nach amerikanischem Vorbild, wo der außenpolitische Berater des Präsidenten gleichzeitig der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats ist. Man kann es aber auch so machen wie in Großbritannien, wo der Nationale Sicherheitsrat eine unabhängige Institution ist, die irgendwo zwischen Downing Street, Verteidigungsministerium und Foreign Office angesiedelt ist und von einem Beamten des Außenministeriums geleitet wird.

Zusammen mit Ihrem Vorgänger als Vorsitzender der MSC, Wolfgang Ischinger, haben Sie vor der Regierungsbildung Ende 2021 die Zusammenlegung des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gefordert. Halten Sie daran fest?

Wir beobachten derzeit weltweit einen Trend, Instrumente der Außen-, Entwicklungs-, Wirtschafts- und Handelspolitik zusammenzuführen. In Kanada etwa sind alle drei Stränge in einem Haus zusammengelegt. Unsere Nachbarn in Belgien haben das Außen- und das Entwicklungsministerium zusammengeführt, Dänemark ebenfalls. Dort werden nun die außen- und entwicklungspolitischen Aspekte zusammengedacht. In Dänemark geschieht das mit zwei Ministern an der Spitze, um die Sorge zu entkräften, dass man in Mehrparteienkoalitionen nicht genug Ministerämter zu vergeben haben könnte. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wir müssen eben nur die so oft angeführte Zeitenwende in praktische Politik umsetzen. Wir können nicht sagen: Wir haben jetzt eine Zeitenwende, aber wir machen so weiter wie bisher.  In jedem Fall müssen wir die so oft angeführte Zeitenwende in ihren verschiedenen Dimensionen und vernetzt umsetzen.

Jenseits eines Mega-Ministeriums und eines Nationalen Sicherheitsrats:  Was muss sich noch ändern?

Wir müssen den Gedanken, dass wir in einem globalen Systemwettbewerb leben, verinnerlichen und die Frage beantworten, wie wir gegenüber einem Schurkenstaat wie Russland bestehen können, der ja nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Afrika sein Unwesen treibt. Wir müssen auch gegenüber einem Land wie China bestehen können, das weltweit hyperaktiv ist. Dafür müssen wir uns richtig aufstellen. Das muss in Berlin passieren; das muss aber auch im Ausland passieren. Es muss doch möglich sein, unsere Kräfte zu bündeln, um kohärenter und schlagkräftiger aufzutreten, indem wir etwa alle deutschen Vertreter, also Diplomaten, Entwicklungshelfer, Wirtschaftsvertreter und Finanzinvestoren unter dem Dach eines Deutschen Hauses zusammenführen.

Stichwort Zeitenwende: Heute ist Konsens, dass die hohe Energieabhängigkeit von Russland ein schwerer Fehler war. Aber so recht scheint sich kaum jemand dafür verantwortlich zu fühlen, dass es so gekommen ist. Wie sehen Sie das?

Im Rückblick ist es natürlich immer leicht, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Die deutsche Russland-Politik hat ja eine lange Geschichte; sie basiert auf den Erfahrungen, die wir als Deutschland mit Russland gemacht haben. Der Referenzpunkt war der Zweite Weltkrieg: Deutschland trägt die Verantwortung für den Tod von 20 Millionen Menschen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion. In der Phase der Ostpolitik gelang es, Vertrauen aufzubauen, was dann 1989/90 half, die deutsche Wiedervereinigung zu erlangen. Aus diesem Gefühl der Schuld und der Dankbarkeit heraus ist unsere Russland-Politik auch gestaltet worden.

Ich will damit nichts entschuldigen, sondern nur erklären. Als Bundeskanzlerin Merkel ins Amt kam, waren die Verträge für die Nord Stream 1-Pipeline schon unterschrieben. Als es später um Nord Stream 2 ging, hatte sich die Regierung nach dem Reaktorunglück von Fukushima dafür entschieden, dem Wunsch von gut 80 Prozent der Bevölkerung zu entsprechen und schneller aus der Atomenergie auszusteigen. Kohle war keine Alternative. Grüne Energie war nicht weit genug. Deswegen wurde Erdgas als Übergangsenergie gebraucht, und welches Gas nimmt man? Das billigste, das aus Russland bezogen werden konnte. Und angesichts einer politischen Konstellation, in der insbesondere der Wirtschaftsminister, die deutsche Industrie und das betroffene Bundesland dafür waren, kann man nachvollziehen, dass eine solche Entscheidung gefallen ist. Trotzdem war sie falsch.

Dabei ist die historische Schuld gegenüber Ländern wie der Ukraine, Belarus und Polen ja eher noch größer als gegenüber Russland, und das russische Gas nur vermeintlich billig …

Das ist richtig. Allerdings lassen sich die schwierigen Entscheidungen heute einfacher fällen, weil wir nach der ersten russischen Aggression 2014/15 den diplomatischen Weg gegangen sind und wirklich alles versucht haben, auf friedliche Weise zu einer Lösung zu kommen. Am 24. Februar 2022 hat Putin bewusst diesen Weg verlassen und seinen Aggressionskrieg begonnen. Und darauf mussten wir reagieren und die Ukraine nach Kräften unterstützen. Dazu verpflichten uns auch die Verbrechen der Nazizeit, vor allem das Massaker in Babyn Jar bei Kiew, wo an einem Wochenende 30 000 jüdische Ukrainerinnen und Ukrainer ermordet wurden.

Der Bundeskanzler wird teils hart dafür kritisiert, zu zögerlich zu agieren, auch von Ihnen. Können Sie verstehen, dass die Leute, die heute auf Ihrer Stelle im Kanzleramt sitzen, manchmal genervt reagieren?

Mich würde es überraschen, wenn diese Kritik an den Leuten im Kanzleramt spurlos vorbeiginge. Aber wenn Sie schon den Vergleich ziehen:  Nach der ersten russischen Aggression 2014 hat Deutschland zusammen mit Frankreich die Führung übernommen. Das Minsk-Abkommen ist unter deutsch-französischer Federführung erreicht worden. Zusammen mit den Ukrainern ist es seinerzeit gelungen, die russischen Truppen zu stoppen. Was die jetzige Krise anbelangt, hat die Bundesregierung nicht die Führung übernommen und die Zusammenarbeit mit Frankreich scheint auch nicht so reibungslos zu verlaufen wie vor acht Jahren. Zwar wird von der Bundesregierung immer wieder ein europäischer Führungsanspruch erhoben. Aber Führung übernimmt man nicht, wenn man immer nur als Letzter das Nötigste tut, wie wir zuletzt bei der Panzerentscheidung miterlebt haben.

Es ist im Übrigen großartig, wie sehr sich die amerikanische Regierung in Europa engagiert, gerade angesichts der vielen Herausforderungen, vor denen die Vereinigten Staaten etwa im Indo-Pazifik stehen. Aber wir wissen, dass künftig wieder US-Regierungen ins Amt kommen könnten, die nicht so proeuropäisch sind. Auch aus diesem Grund müssen wir wirklich mehr Führung in Europa übernehmen und nicht nur davon reden.

Das erfordert aber auch die oft zitierte „strategische Kultur“, an der es Deutschland mangelt …

Da hat sich aber schon einiges entwickelt. Mit der Münchner Sicherheitskonferenz organisieren wir seit dem Sommer eine Veranstaltungsserie „Zeitenwende on Tour“. Mit einigen Partnern tingeln wir sozusagen durch das Land – Stuttgart, Frankfurt, Mainz, Neuss, demnächst Leipzig. Wir gehen in Schulen und halten Townhall-Diskussionen mit den Bürgerinnen und Bürgern ab. Und wir stellen fest: Uns wird die Bude eingerannt, es gibt ein riesiges Interesse. Gleichzeitig – und da denke ich, dass die Bundesregierung die Bevölkerung unterschätzt – gibt es eine große Bereitschaft, die Folgerungen aus dieser Zeitenwende mitzutragen. Die Leute verstehen, dass da etwas Dramatisches passiert ist, und sind bereit, darauf zu reagieren. Sie wollen nur, dass es ihnen erklärt wird und ihre Fragen beantwortet werden. Das zeigt mir, dass wir in Deutschland schon eine Änderung in der strategischen Kultur haben.

Wir erwarten eine Trias von Strategiepapieren der Regierung: Nationale Sicherheitsstrategie, China-Strategie, Leitlinien für eine feministische Außenpolitik. Wird das die Diskussion weiter beflügeln, und wie passen diese Dokumente zusammen?

Das müssen Sie die Bundesregierung fragen. Aus meiner Sicht kann eine Sicherheitsstrategie ohne China nicht funktionieren. Das man das parallel macht, erschließt sich mir nicht. Leider habe ich bis heute auch nicht verstanden, was eine feministische Außenpolitik ist. Ich bin für eine Außenpolitik, die sich massiv für Frauen und für Geschlechtergerechtigkeit einsetzt. Als ich UN-Botschafter war, stand die Bekämpfung sexueller Gewalt in Konflikten ganz oben auf der Tagesordnung. Ich finde, das ist ein Teilbereich von Außenpolitik, deshalb tue ich mich mit dem Adjektiv schwer. Es kommt auf die Substanz an, nicht auf die Begrifflichkeiten.

Welche Themen werden die MSC bestimmen?

Eines liegt auf der Hand: der Einmarsch Russlands in der Ukraine, der ins zweite Jahr geht. Welche Aussichten bestehen, dass der Krieg und das Leiden der Menschen ein Ende haben? Ein anderes Thema wird Europa sein – wie stellen wir uns auf? Und das transatlantische Verhältnis steht bei jeder Münchner Sicherheitskonferenz ganz oben auf der Tagesordnung, wir erwarten eine hochrangige US-Delegation.

Darüber hinaus wollen wir Vertreterinnen und Vertreter des Globalen Südens stärker in den Mittelpunkt rücken. Viele haben sich bei der Frage, wie man mit der russischen Aggression umgeht, zurückgehalten. Sie tendieren zu den russischen und chinesischen Narrativen, wonach es sich um einen Ost-West-Konflikt, um einen zwischen den Vereinigten Staaten beziehungsweise der NATO und Russland handele und der Globale Süden Leidtragender sei. Dabei ist es mir als ehemaligem UN-Botschafter wichtig zu entgegnen: Es geht nicht um Ost-West, es geht um die Verteidigung der UN-Charta, um die Verteidigung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, um die Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung. Durch den russischen Angriff auf die Ukraine, für den es keine völkerrechtliche Grundlage gibt, steht die internationale Rechtsordnung massiv unter Druck. Wir müssen diese Auffassung mit den Ländern des Globalen Südens teilen, zugleich aber auch sehr viel stärker auf deren Anliegen eingehen. Wir müssen da sehr viel mehr zuhören und reden.

Das ist auch aus einem anderen Grund wichtig, den ich eingangs angedeutet habe: Unsere starke Fixierung auf China ist nicht gesund. China ist natürlich ein wichtiger Handelspartner, aber wir müssen verstehen, dass wir uns nicht zu abhängig machen, dass wir andere Märkte erschließen – und dazu sind Länder des Globalen Südens bereit.

Und was uns auch umtreibt, ist die Tatsache, dass es so vielen Diktatoren und Kriegsverbrechern gelingt, straffrei auszugehen. Wie setzen wir internationales Recht durch? Wie verhindern wir Straflosigkeit? Das ist auch deshalb wichtig, weil es langfristig dem Frieden dient.

Wie lauten Ihre Kriterien für eine erfolgreiche MSC?

Eine erfolgreiche Konferenz ist eine, bei der es bei den Themen, die ich angesprochen habe, eine Weiterentwicklung gibt; eine, bei der der transatlantische und europäische Zusammenhalt gestärkt wird. Und eine, bei der wir in einen engen Austausch mit dem Globalen Süden treten, der keine Eintagsfliege bleibt, sondern kontinuierlich intensiviert wird. Dazu wollen wir auch mit der MSC einen Beitrag leisten. 

 

Das Gespräch führten Henning Hoff, Joachim Staron und Nikita Divekar.

Bibliografische Angaben

IP Online Exklusiv, 27. Januar 2023

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