Der Euro
Die europäische Gemeinschaftswährung ist das bisher ehrgeizigste Projekt der Europäischen Union – und hat zugleich die meisten Probleme mit sich gebracht. Aber mit einer Rückabwicklung der Währungsunion würde alles nur noch schlimmer. Vielmehr sollten die Europäer lernen, mit dem Euro richtig umzugehen – sechs Thesen und ihr Realitätsgehalt.
„Europa braucht den Euro nicht“
Kommt darauf an, wie die These gemeint ist. Sie kann bedeuten, dass Europa den Euro am besten gar nicht eingeführt hätte. Oder dass wir ihn wieder abschaffen sollten. Um mit der zweiten Frage zu beginnen: Eine Auflösung der Währungsunion würde eine Menge Probleme nach sich ziehen, zunächst rein finanzieller und technischer Art. Exportstarke Länder wie Deutschland dürften eine Aufwertung ihrer wieder neu eingeführten nationalen Währungen erleben. Das macht im Auslandsurlaub Spaß, wenn man billig einkaufen kann. Aber dadurch wären Arbeitsplätze gefährdet. In Deutschland wird unterschätzt, wie sehr der heimische Wirtschaftsboom davon angetrieben wird, dass der Euro niedriger bewertet wird, als bei einer rein deutschen Währung zu erwarten wäre. Umgekehrt dürften Länder mit schwächeren Finanzen eine Abwertung ihrer neuen Währung erleben – und damit den Verlust von angesparten Vermögen für die Altersvorsorge. Als in Argentinien zur Jahrtausendwende der Peso von der Bindung an den Dollar gelöst wurde, setzte eine ähnliche Entwicklung ein – und viele Rentner brachten sich aus Verzweiflung um.
Es gibt aber auch politische Gründe, die gegen eine Abschaffung des Euro sprechen. Ein solcher Schritt wäre ein starkes Signal dafür, dass Europa nicht mehr zusammenwächst, sondern sich allmählich wieder in seine Bestandteile auflöst. Ohnehin gibt es schon Tendenzen in diese Richtung, wie der geplante EU-Austritt der Briten und das Erstarken nationalistischer Parteien zeigen. Auch wenn man einräumt, dass die europäischen Institutionen alles andere als perfekt sind, darf man einen Punkt nicht übersehen: Viele kleine europäische Staaten stünden mächtigen Ländern dieser Welt noch hilfloser gegenüber, als es die EU heute tut. Wenn das gemeinsame Europa zerfällt, schwächt das auch jeden einzelnen Nationalstaat. Deswegen ist es kein Widerspruch, national zu denken und sich zugleich für die europäische Einheit einzusetzen.
Eine andere Frage ist, ob es sinnvoller gewesen wäre, den Euro gar nicht erst einzuführen. Hier ist die Antwort weniger eindeutig. Europa hat auch vor der Währungsunion ganz gut funktioniert. Und heute sind Staaten wie Dänemark, Schweden, die Schweiz und immer stärker auch die osteuropäischen Staaten Beispiele dafür, dass wirtschaftliche Integration nicht unbedingt eine einheitliche Währung voraussetzt. Zugleich fällt aber auf, dass selbst nach der Euro-Krise die baltischen Staaten den Euro neu eingeführt haben. Der Reiz, Teil des größten Währungsraums der Welt zu werden, ist also noch nicht erloschen.
Das Urteil über den Euro dürfte sich immer wieder ändern. In den ersten zehn Jahren nach seiner Einführung brachte er den Beteiligten vor allem Vorteile. Beim Ausbruch der Euro-Krise zeigte sich, dass die Einheitswährung wirtschaftliche Ungleichgewichte verschleiert hatte, die dann sehr plötzlich sichtbar wurden. Angesichts eines wirtschaftlichen Einbruchs von rund einem Viertel in Griechenland, der mit großem menschlichen Leid verbunden war, stellte sich die Frage nach dem Wert einer europäischen Einheitswährung neu. Aber vielleicht werden einige Länder später auch urteilen, dass der Euro sie zu Reformen gezwungen hat, die sie sonst nicht angepackt hätten.
„Einzelne Länder müssten austreten dürfen“
Keine gute Idee. Damit die Gemeinschaftswährung gut funktioniert, müssen Bürger und Investoren sicher sein, dass ein Euro ein Euro bleibt – und zwar überall und ohne Ausnahme. Würde man einzelnen Staaten den Austritt erlauben, wäre das nicht mehr gewährleistet. Anleger würden, wenn ein Staat in die Krise gerät, auf einen Austritt spekulieren und im Endeffekt womöglich diesen Austritt erzwingen. Daher ist es wichtig, dass Staaten, die einmal zur Währungsunion gehören, dabeibleiben.
Richtig ist leider: Auch heute schon kann es passieren, dass Gerüchte oder Befürchtungen über den Ausstieg einzelner Länder die Runde machen. Denn letztlich kann niemand ein Land abhalten, wieder eine eigene nationale Währung einzuführen, wenn es das möchte. Aber eine offizielle Ausstiegsklausel würde solche Entwicklungen nur beschleunigen. Ähnlich problematisch wäre, wie zum Teil von deutscher Seite gefordert, ein Insolvenzverfahren für Staaten. Damit würde der Spekulation gegen die Anleihen einzelner Staaten die Tür geöffnet. Und wenn die Märkte einen Euro-Staat in die Insolvenz treiben können, ist es damit auch leicht möglich, dass es zu einem Austritt aus der Euro-Zone kommt. Wenn der Euro seine Glaubwürdigkeit in der Welt behalten soll, darf man keine Sollbruchstellen vereinbaren. Auch hier gilt freilich: Selbst ohne ein offizielles Insolvenzrecht ist ein Schuldenschnitt möglich, wie das Beispiel Griechenland gezeigt hat. Aber es bleibt ein Unterschied, ob man ein solches Verfahren offiziell vorsieht oder allenfalls in extremen Ausnahmefällen in Betracht zieht.
Letztlich leidet die Euro-Zone unter einem strukturellen Widerspruch. Damit die Währung erhalten bleibt und funktionieren kann, dürfen die beteiligten Länder eigentlich keinen der Staaten fallen lassen. Auf der anderen Seite kann das dazu führen, dass einzelne Länder unverantwortliche Finanzpolitik betreiben und sich dabei auf die Solidarität der anderen verlassen.
Um diesen Widerspruch zu entschärfen, sind neue Institutionen geschaffen worden, allen voran der Europäische Rettungsfonds. Er stellt die Solidarität in Form von Krediten bereit, die letztlich von allen Staaten gemeinsam verbürgt werden. Zugleich kann er seine Hilfen aber von der Erfüllung bestimmter Auflagen abhängig machen, um verantwortungsloses Fehlverhalten zu verhindern. Das ist keine perfekte Lösung, aber wahrscheinlich die beste, die sich finden lässt. Untergräbt man dagegen den Zusammenhalt der Euro-Zone, schafft man eine Situation, deren Risiken keinem der beteiligten Länder recht sein können.
„Eine gemeinsame Finanzpolitik ist nötig“
Nein, das würde nicht funktionieren. Häufig wird dieser Vorschlag so diskutiert, als seien Finanzen ein Teilbereich der Politik neben anderen wie Gesundheit, Soziales oder Verteidigung. Tatsächlich aber hat die gesamte Politik einer Regierung mit Finanzen zu tun. Eine gemeinsame Finanzpolitik zu machen, würde daher heißen, eine gemeinsame Politik zu machen. Das ginge aber nur in einer politischen Union mit einer zentralen Regierung. Davon sind wir meilenweit entfernt. Die Deutschen wollen nicht von Italienern regiert werden und die Italiener nicht von Deutschen – und das gilt in ähnlicher Weise für alle anderen Staaten auch.
Man kann die Forderung auch so verstehen, dass die nationale Finanzpolitik bestimmten europäischen Regeln unterworfen wird und europäische Instanzen deren Einhaltung kontrollieren. Aber diesen Zustand haben wir bereits heute schon. Er führt nicht dazu, dass sich alle Regierungen an bestehende Regeln halten – zum Teil auch, weil sie dazu gar nicht in der Lage sind. Übersehen wird aber manchmal, dass diese Regeln – die Obergrenze von 60 Prozent für die Staatsverschuldung und von 3 Prozent für das jährliche Defizit, jeweils gemessen am Bruttoinlandsprodukt – eine Menge politischer Diskussionen auslösen und wahrscheinlich schon allein dadurch einen Effekt haben.
Die Idee einer gemeinsamen Finanzpolitik wird häufig von amerikanischen Ökonomen vertreten, die zu sehr dazu neigen, die EU mit den Vereinigten Staaten zu vergleichen, also einen Staatenbund mit einem Bundesstaat. Außerdem gehen sie davon aus, dass Geldpolitik und Finanzpolitik eng zusammengehören und bis zu einem gewissen Grad aufeinander abgestimmt werden sollten; dass also die Notenbanken, die Europäische Zentralbank (EZB) in Europa und die Federal Reserve in den USA, ein Auge darauf haben sollten, was die Finanzminister tun – und umgekehrt.
Richtig an dieser Einstellung ist, dass sich beide Bereiche gegenseitig beeinflussen. Die Niedrigzinsen der EZB erleichtern den Staaten zum Beispiel, eigene Zinsen für ihre Schulden zu zahlen. Falsch ist aber, daraus die Forderung nach einer Vergemeinschaftung der Finanzpolitik abzuleiten. Dadurch würde das Problem nur verschoben und dabei noch erheblich größer. Die Reibung zwischen Geldpolitik und Finanzpolitik würde vielleicht vermindert, dafür aber eine Spannung zwischen einem Euro-Finanzminister und den nationalen Regierungen geschaffen.
„Der Euro verhindert Wachstum“
Das ist zu kurz gegriffen. Zwar stimmt es, dass die gemeinschaftliche Währung einzelne Staaten zwingt, ihre Defizite im Staatshaushalt in Grenzen zu halten, so dass sie auf diesem Weg die Wirtschaft nicht weiter ankurbeln können. Aber längerfristig nützen eine stabile Währung und robuste Staatsfinanzen dem Wachstum.
In den ersten zehn Jahren nach Einführung des Euro dürfte das Wachstum höher gewesen sein, als es mit den alten, nationalen Währungen der Fall gewesen wäre. Leider beruhte dieses Wachstum aber zum Teil auf Pump. Die Kapitalmärkte haben zunächst keinen Unterschied mehr zwischen einzelnen Ländern gemacht. Die Zinsen für Staatsanleihen und andere Kredite glichen sich untereinander stark an, was für Länder mit zuvor weichen Währungen einen ungewohnten Zustrom an billigem Geld mit sich brachte. In der Euro-Krise kam es dann zur Korrektur.
Aber war wirklich der Euro die Ursache für diese Einbrüche und die Krisenjahre? Richtiger wäre zu sagen, dass der falsche Umgang mit der Währung das Problem war und hier und da vielleicht noch ist. Die Kapitalmärkte haben den Fehler gemacht, die unterschiedlichen Risiken der einzelnen Länder auszublenden und damit das kreditfinanzierte Wachstum erst ermöglicht. Das ist aber vorbei. Heute und sehr wahrscheinlich auch in Zukunft beobachten die Investoren genau, was in den einzelnen Ländern vorgeht. Zurzeit zeigt sich das vor allem daran, wie nervös die Renditen italienischer Anleihen auf die Politik in Rom reagieren.
Falsch war auch lange Zeit die Politik in den Ländern, die an eine weiche Währung gewohnt waren. Dort sind Preise und Löhne zu schnell gestiegen. Während das vorher durch eine höhere Inflation und Abwertung gegenüber anderen Währungen immer wieder aufgefangen werden konnte, war das mit dem Euro nicht mehr möglich. Diese Entwicklung hat die Euro-Krise entstehen lassen. Deutschland und ähnlich strukturierte Länder wie die Niederlande und Österreich hatten dieses Umstellungsproblem nicht. Denn anders als vielfach gerade in Deutschland befürchtet, ist der Euro eine harte Währung geworden, wie die D-Mark. Hierzulande musste sich deswegen niemand umstellen, die Deutschen haben praktisch dieselbe Währung behalten, nur etwas ausgeweitet und anders verpackt.
Falsch war zum Teil auch der Umgang mit Krisenländern wie etwa Griechenland. Vor allem in Deutschland ist die Vorstellung weit verbreitet, ein Land könne sich aus einer tiefen wirtschaftlichen Krise heraussparen. Das gilt aber allenfalls für exportstarke Länder, weil der Export durch staatliche Sparprogramme nicht berührt wird. Die Volkswirtschaften von Staaten, die mehr vom Konsum und von den Staatsausgaben getrieben werden, wie die griechische, schrumpfen dagegen sehr deutlich, wenn sie zu viel sparen müssen. Damit geraten sie in eine Abwärtsspirale, ohne dass sich die relative Verschuldung, also Staatsschulden in Prozent der Wirtschaftsleistung, verbessert.
Wenn alle Beteiligten besser lernen, mit dem Euro umzugehen, sollten seine Vorzüge – Stabilität und Druck zur Konsolidierung der Staatshaushalte – stärker zur Geltung kommen und keineswegs Wachstum verhindern.
„Der Euro nützt nur den Deutschen“
Das ist falsch. Der Euro hat zu einem größeren, besser integrierten Wirtschaftsraum beigetragen. Davon profitieren wahrscheinlich sogar Staaten wie die Schweiz oder die skandinavischen Länder, die der Gemeinschaftswährung gar nicht beigetreten sind. Es ist sicher auch kein Zufall, dass die baltischen Staaten auch noch nach der Euro-Krise beigetreten sind, weil sie sich wirtschaftliche Vorteile erhoffen.
Richtig ist aber, dass Deutschland sogar von der Euro-Krise profitiert hat, während andere Länder darunter gelitten haben. Und das gleich mehrfach. Einmal ist die Währung mit ziemlicher Sicherheit billiger, als es eine rein deutsche Variante wäre. Davon profitiert unter anderem die deutsche Exportindustrie stark. Hinzu kommt, dass die Zinsen für den Staat besonders niedrig sind, wodurch Deutschland die öffentliche Verschuldung abbauen kann. Zugleich können sich auch deutsche Konzerne billiger als Konkurrenten in Nachbarländern verschulden.
Denn wegen der latenten Krise strömt besonders viel Geld nach Deutschland, weil das Land als relativ sicher angesehen wird. Das drückt die Zinssätze. Dabei übersehen die Investoren möglicherweise einige Probleme, vor allem die schwache Bevölkerungsentwicklung, die nur durch starke Zuwanderung ausgeglichen werden kann, und die ungedeckten Schulden im Renten- und Beamtenpensions-System. Frankreich und die Niederlande haben im Vergleich eine gesündere Bevölkerungsentwicklung vorzuweisen, die Niederlande obendrein noch ein besser finanziertes System der Altersvorsorge.
Falsch ist auch die verbreitete Vorstellung, Deutschland habe hohe Zahlungen an Krisenstaaten geleistet. Richtig ist vielmehr, dass die deutsche Kreditwürdigkeit bei der Bekämpfung der Krise zum Einsatz kam. Zusammen mit den Bürgschaften anderer Länder ermöglicht das dem Rettungsfonds, billig Geld an den Kapitalmärkten aufzunehmen und diesen Zinsvorteil an Krisenländer weiterzuleiten. Kurz gesagt: Deutschland hat Risiken übernommen, dafür aber indirekt durch die Krise eine Menge Geld eingenommen.
„Der Euro zwingt zu echten Reformen“
Richtig mit Einschränkungen. Es gibt Griechen, die auch deswegen am Euro festhalten wollen, weil er die eigene Regierung zu Reformen zwingt. Tatsächlich hat das Land in der Krise angefangen, Steuern einzutreiben, Subventionen zu streichen, Subventionsbetrug zu verhindern und ein Grundstückskataster aufzubauen. Alles das passiert, von außen betrachtet, vielleicht nicht schnell und nicht gründlich genug, aber es bewegt sich etwas.
Reformen hat es auch in zahlreichen anderen Staaten gegeben. Fairerweise müsste man vielleicht sagen: Vielfach hat nicht der Euro die Reformen erzwungen, sondern erst die Euro-Krise. Der Schuss kann aber auch nach hinten losgehen. In Italien hat die neue Regierung versprochen, Reformen, etwa bei der Altersvorsorge, wieder zurückzudrehen. Dass diese Regierung ins Amt kam, hat sicher auch mit der Euro-Krise zu tun. Wobei man nicht übersehen darf, dass Populismus innerhalb der Euro-Zone nicht häufiger ist als außerhalb. Auch bei diesem Thema gilt: Es kommt auf den richtigen Umgang mit dem Euro und mit den Problemen an. Wenn der Eindruck entsteht, Reformen seien allein von außen aufgezwungen, und wenn die Entbehrungen für die jeweilige Bevölkerung zu groß werden, droht eine politische Gegenreaktion, die alle Fortschritte zunichtemachen kann. Ökonomen und einseitig von heimischen Vorstellungen geprägte Politiker neigen dazu, diesen Punkt zu übersehen.
Letztlich war der Euro nicht allein ein ökonomisches, sondern mindestens genauso ein politisches Projekt. Deswegen ist es gefährlich, die politischen Strukturen auszublenden, wenn Probleme auftauchen.
Frank Wiebe ist beim Handelsblatt für das Thema „Geldpolitik“ zuständig.
Internationale Politik 6, November-Dezember 2018, S. 64-69