„Das wird nicht einfach verschwinden“
Der Politologe Sinan Ülgen über die Proteste in der Türkei
Es begann mit einem Großbauvorhaben und mündete in die heftigsten Proteste seit Jahrzehnten. Die Demonstrationen haben, so Sinan Ülgen im Gespräch mit der IP, ein neues Element in die politische Kultur der Türkei gebracht, das bleiben wird. Um künftig eine größere Teilhabe zu garantieren, wäre jetzt ein «Marsch durch die Institutionen» notwendig.
Internationale Politik: Nach 18 Tagen der Proteste im Istanbuler Gezipark und am Taksimplatz ließ der türkische Premier Recep Tayyib Erdogan das Demonstrantenlager brutal räumen. Wobei geht es bei den Auseinandersetzungen in der Türkei, ist es eine Art Kulturkampf zwischen Säkularen und Konservativ-Religiösen, Stadt und Land, Erdog˘an-Gegnern und Erdogan-Anhängern?
Sinan Ülgen: Unter den Demonstranten waren alle möglichen Gruppierungen vertreten, von ganz linken Splittergruppen bis hin zu Bürgern, die Erdogan gewählt hatten, aber über seinen Regierungsstil empört sind. Sie empfanden die Regierung als übergriffig und sind der Meinung, dass die Politik nicht das Recht hat, sich in das Privatleben der Bürger – einschließlich religiöse Angelegenheiten – einzumischen. Sie bestehen darauf, dass es in einer demokratischen Gesellschaft Raum für Dissens geben muss.
IP: Es geht also auch um die Freiheit gegenüber dem Staat?
Ülgen: Ja, es hat sich einige Frustration angestaut über dieses unerwünschte Hineinregieren des Staates und die Einschränkung der individuellen Freiheit. Nehmen wir das Alkoholverbot und die Art, wie es umgesetzt wurde: Ein Alkoholverbot war nicht Teil des Programms von Erdog˘ans „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP), aber innerhalb von nur zwei Wochen wurde es durchgepeitscht.
IP: Zu Tage trat auch, wie machthörig die türkischen Medien sind: Während der ersten Tage des Protests berichteten die Medien – nichts. Als der Platz geräumt wurde, strahlte der als staatsnah geltende Sender Habertürk eine Sendung über mexikanische Küche aus. Besteht hier nicht größter Bedarf für Reformen im demokratischen Gefüge der Türkei?
Ülgen: Die türkischen Medien haben Angst vor Repressalien durch den Staatsapparat. Das reicht bis zur Selbstzensur, und dahinter steckt ein strukturelles Problem: Zeitungen und Fernsehsender sind Teil großer Konglomerate, und die möchten natürlich auf gutem Fuß mit einer Regierung stehen, von deren Wohlwollen sie sich abhängig fühlen. Die Medien sind also gar nicht in der Lage, ihre Aufgaben wahrzunehmen und objektiv über die Verhältnisse zu informieren. Es stehen ihnen ganz klare Unternehmensinteressen im Weg. Um das zu beenden, bedarf es einer eindeutigen neuen Gesetzgebung.
IP: Warum sollte eine Regierung, die große Schwierigkeiten hat, die Anliegen der Demonstranten ernst zu nehmen, selbst für kritischere Medien sorgen?
Ülgen: Das werden wir sehen – bislang hat der Premier ja versucht, seinen eigenen Willen durchzusetzen. Zwar signalisierte er zwischenzeitlich Bereitschaft für Gespräche – aber dann sprach er ein Ultimatum aus und ließ die Demonstranten in der Nacht zum 16. Juni brutal vertreiben. Er hält Konzessionen für Schwäche und glaubt, er könne „gewinnen“, denn schließlich ist er der durch Wahlen legitimierte Machthaber. Präsident Abdullah Gül oder Vizepremier Bülent Arinc hingegen haben sich einsichtiger gezeigt. Gül sprach davon, dass Demokratie sich eben nicht in Wahlen erschöpfe, und Arinc hat sich für das harte Vorgehen der Polizei entschuldigt. Nicht, dass Erdog˘an sich davon beeindrucken ließe. Wer die Mehrheit hat, so glaubt er, hat auch das Recht, den anderen seinen Willen aufzudrängen. Bis zu den nächsten Wahlen will und wird er, so weit er kann, in diesem Stil weiterregieren.
IP: Kann Erdogan nach diesen Auseinandersetzungen tatsächlich weitermachen wie bisher?
Ülgen: Das ist genau der Punkt: Es hat sich etwas Fundamentales geändert. Demonstrationen wurden bislang von Institutionen organisiert, die eine eigene Klientel haben, wie Gewerkschaften oder Parteien. Erdogan wusste, wie man damit umgeht. Aber jetzt kommt der Protest aus der Zivilgesellschaft, er wurde von niemandem zentral organisiert. Das ist neu in der politischen Kultur der Türkei und ein wichtiges Element, das nicht einfach wieder verschwindet oder zu beseitigen ist.
IP: Sind nicht alle Demokratien mit dem Ruf nach „mehr Partizipation“ konfrontiert, der sich durch soziale Medien verstärkt hat?
Ülgen: In der Tat: Auch in diesen Protesten wurde eine Art „politische Ermächtigung des Individuums“ sichtbar; viele der Demonstranten sprachen genau davon. Und dieser Impuls ist so mächtig, dass Regierungen, die in der Politik einfach nur weiter ihren Willen diktieren wollen, ganz sicher mit weiteren Protesten konfrontiert sein werden. Auch in offenen Gesellschaften gilt: Die traditionellen Formen der Beteiligung allein durch Parteien oder ähnliches sind den Menschen nicht mehr genug, um ihre Unzufriedenheit, ihre Ideen oder ihre Interessen auszudrücken.
IP: Es war zuletzt geradezu ein Gemeinplatz, dass die Türkei ein Modell für arabische Transformationsstaaten sei. Aber kann sie das sein, solange sie diese neuen Formen der Teilhabe nicht versteht und zu respektieren versucht?
Ülgen: Das wäre eine optimistische Interpretation der Ereignisse in der Türkei. Das würde ja voraussetzen, dass Erdogan, der bisher gefeiert wurde, weil er als Führer einer islamischen Partei die Regeln der Demokratie respektierte, auch wirklich verstünde, dass Demokratie eben nicht nur auf Wahlen beruht. Demokratie bedeutet ein beständiges Austarieren von Interessen, sie bedeutet Respekt für die Freiheit des Individuums. Auch starke Regierungschefs müssen begreifen, dass sie für die gesamte Gesellschaft und nicht nur für die eigene Klientel verantwortlich sind. Verstünde Erdogan das, dann würde die türkische Demokratie im In- und Ausland wesentlich an Ansehen gewinnen, denn um diese Teilhabe ging es ja auch in den Aufständen in den arabischen Ländern. Dieser Entwicklungssprung muss aber erst noch geleistet werden.
IP: Wie optimistisch dürfen wir denn sein, dass dieser Sprung gelingt?
Ülgen: Nun ja, Erdogan scheint große Schwierigkeiten zu haben, das zu verstehen. Er glaubt, die Proteste seien dem heimtückischen Werk von Provokateuren geschuldet.
IP: Könnte die – zugegeben leise und schnell verstummte – Kritik von Präsident Gül auf Risse innerhalb der AKP verweisen?
Ülgen: Vergessen wir nicht: Erdogan war und ist für viele immer noch ein enorm erfolgreicher Premier. Er hat die Türkei nicht nur dominiert, er hat auch „geliefert“: wirtschaftlichen Erfolg, Friedensgespräche mit den Kurden, einen enormen Ansehensgewinn für das Land. Es dürfte dauern, bis wir einmal Auseinandersetzungen in der AKP selbst über Erdogan erleben. Wichtig ist aber auch: So sehr diese Proteste gegen Erdogan gerichtet sind, so haben sie aber auch mit dem kläglichen Versagen der Opposition zu tun. Die parlamentarische Opposition war gänzlich verschwunden; sie hat im Vorfeld nichts geleistet, um diese brodelnde Unzufriedenheit aufzugreifen.
IP: Es muss also erst noch zu einem Marsch der Demonstranten „durch die Institutionen“ kommen?
Ülgen: Ja, und das ist das Problem. Es ist weit und breit noch nichts zu sehen, was auf so einen Marsch hinweisen würde. Auch hier muss also noch ein ganz großer Sprung gemacht werden, wenn sich in der demokratischen Kultur der Türkei langfristig wirklich etwas ändern soll. Den Leuten ist das durchaus bewusst. Es war ja nicht das Ziel dieser höchst unterschiedlichen Gruppen von Demonstranten, eine neue Partei zu gründen. Doch wenn diese Spannungen in der Türkei weiter bestehen, ohne dass die etablierte Politik in der Lage wäre, sie zu entschärfen, dann wird man wohl versuchen, die Ansprüche der Demonstranten auch in die institutionalisierte Politik zu tragen. Wobei es eine Menge struktureller Barrieren gibt, nicht zuletzt bei der Finanzierung: Budgets werden nach der Anzahl der Stimmen vergeben, die eine Partei auf sich vereinigen konnte. Erdog˘ans AKP kann auf Millionen oder Milliarden zurückgreifen, eine neue Partei muss bei Null anfangen.
IP: Ein Wort zur Außenpolitik: Kann es sein, dass Erdogan auch auf diesem Feld die eigene Gestaltungskraft überschätzt hat und dass er erkennen muss, wie begrenzt seine Möglichkeiten und Ressourcen sind?
Ülgen: Das Hauptproblem der türkischen Außenpolitik ist, dass sie sich bei gewissen Problemen geradezu aufgedrängt hat. Traditionell war die Türkei praktisch „außen vor“ in der Region, sie bestand auch auf einer gewissen Distanz. Aber mit ihrer neuen Bestimmtheit, diesem neuen Selbstbewusstsein der AKP-Regierung gerade in jüngster Zeit, wurde sie Teil der zahlreichen Polarisierungen im Nahen und Mittleren Osten. Für eine Weile konnte sie wegen ihrer langen Tradition als säkularer Nationalstaat moderieren und ausgleichen. Sie trat als Vermittler zwischen Syrien und Israel auf, sie konnte mit Schiiten und Sunniten reden. Aber nicht zuletzt weil man glaubte, dass man in der Region mehr als bisher sein könnte – nämlich aktiver Gestalter –, wurde die Türkei selbst zur Partei. Und deshalb ist sie auch anfälliger für die Risiken, die das beinhaltet. Das sehen wir ja gerade im Zusammenhang mit Syrien, wo sich die Türkei recht früh gegen Staatschef Baschar al-Assad wendete, ohne aber wirklich zu einer Lösung des Problems beitragen zu können.
IP: Inwieweit spielt da der offensichtliche Glaube Erdogans eine Rolle, er könne wirklich alles in seinem Sinn gestalten?
Ülgen: Es gibt hier drei Elemente: Erdogan und sein Außenminister Achmed Davatoglu wollten eine viel aktivere türkische Außenpolitik. Und es lag schon im Interesse der Türkei, gute Beziehungen zu allen Nachbarn zu pflegen; dazu kommt eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, die der Türkei größere Ressourcen verschafft hat, um sie für Auslandshilfe oder Ähnliches einzusetzen. Und dann gibt es tatsächlich so etwas wie den Glauben an eine „historische Mission“, ähnlich wie das amerikanische „Manifest Destiny“: Man ist der Überzeugung, die Türkei habe diese Rolle geradezu schicksalshaft zu spielen.
Die Fragen stellte Sylke Tempel
Sinan Ülgen ist Gründungsmitglied von Istanbul Economics, Vorsitzender des Think Tanks „Center for Economics and Foreign Policy Studies“ (EPIN) in Istanbul und derzeit Visiting Scholar bei Carnegie Europe in Brüssel.
Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 78-81