Das universelle Problemlösungsfüllhorn
Schlusspunkt
Wird Lissabon ratifiziert, verlieren die Mitgliedsstaaten ihre Lieblingsausrede
Was, wenn man nach einem Alptraum aufwacht, aber es ist keine tröstliche Realität da, in die man erleichtert eintauchen kann? So ähnlich wird es sich wohl anfühlen, wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs nach der Ratifizierung des Lissabon-Vertrags auf ihre reformierte EU blicken und entdecken, dass sie Europa immer noch selbst machen müssen. Keiner der zweifellos vorhandenen Fortschritte, die der Vertrag bringt, ersetzt letztlich Mut, Führungswillen und Kreativität der politisch Verantwortlichen. Oder anders gesagt: Nur wo ein Wille ist, kann auch ein Weg draus werden. Diese politische Selbstverständlichkeit muss nun nicht mehr hinter das menetekelhafte „Ja, aber erst nach Lissabon“ zurücktreten.
Die Zeit nach Lissabon wird für die Staatenlenker Europas gnadenlos werden, denn es wird die Zeit des Sich-bekennen-müssens. Und die Erwartungen sind hoch. So können zum Beispiel diejenigen, die den Erweiterungsprozess der EU am liebsten auf Eis legen würden, nicht guten Gewissens weiter auf der Bremse stehen, denn sie haben jene gewünschte Vertiefung der EU und die Reform der Institutionen bekommen, die für sie stets Voraussetzung für weitere Beitritte war. Das Bremserkriterium der Aufnahmefähigkeit, beliebt besonders in der Türkei-Frage, verliert seine Wirksamkeit.
Und auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gibt es nach Lissabon nur noch wenige Ausflüchte, wenn die EU mal wieder nicht mit einer Stimme spricht. Sollten die Mitgliedsstaaten die neuen Ämter (Präsidentschaft, Außenbeauftragter) schwach besetzen, haben sie es sich selbst eingebrockt, und keiner muss mehr Einheitswillen heucheln, wenn er eigentlich spalten will. Werden sie (wider Erwarten) stark besetzt, müssen die Mitgliedsstaaten mitmachen, um sich nicht des perfiden Doppelspiels zeihen zu lassen.
Der Lissabon-Vertrag ist in acht langen Jahren zum universellen europapolitischen Problemlösungsfüllhorn gemacht worden. Das war immer verkehrt, aber diese schamlose Überhöhung führt nach der Ratifizierung dazu, dass nun jene, die sich nur zu gerne mit ihrem bloßen Bekenntnis zum Vertrag zu Supereuropäern machen wollten, nackt dastehen, wenn sie weiter bremsen oder durch nationale Alleingänge auffallen. Es ist diese moralische Bindekraft, die den Vertrag wertvoller macht als sein bloßer materieller Regelungsgehalt. Und es ist diese Bindekraft, die Europa dringend braucht, will es nicht weiter als träger Riese global an Boden verlieren.
Jan Techau leitet das Alfred von Oppenheim Zentrum für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der DGAP.
Internationale Politik 11/12, November/Dezember 2009, S. 144.