Titelthema

18. Nov. 2022

Das TikTok- Dilemma

Die Herausforderung chinesischer Innovation

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Bild: Zeichnung eines Handys mit dem Startbildschirm von TikTok
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Am 24. Oktober 2019 veröffentlichte TikTok ein Statement auf seiner offiziellen Website. Der Kontext war eine hitzige Debatte darüber, ob die Social-Media-App in privatwirtschaft­licher chinesischer Hand ein Risiko für die nationale Sicherheit der USA und den Rest der westlichen Welt darstellt.

„In den vergangenen Wochen war TikTok Gegenstand öffentlicher Äußerungen von Mitgliedern des US-Kongresses und anderer, die sich um Fragen der Zensur und des Datenschutzes drehten“, heißt es dort. „Bei TikTok nehmen wir diese Fragen ebenfalls sehr ernst. Uns sind Transparenz und Verantwortung im Umgang mit unseren Nutzern in den Vereinigten Staaten und weltweit sehr wichtig.“ Im Rest des Statements geht es darum, warum die erhobenen Vorwürfe haltlos sind – Vorwürfe, die Präsident Trump dazu brachten, TikTok in den USA per Dekret zu verbieten.



Das Unternehmen erklärte daraufhin, alle in den USA gesammelten Daten würden auch in den Vereinigten Staaten gespeichert und ein zweites Mal zwecks Back-ups auf Servern in Singapur. Darüber hinaus betonte das Unternehmen, keinerlei Zensur bei Inhalten, die dem chinesischen Regime ein Dorn im Auge sein könnten, durchzuführen. „TikTok führt aktuell keinerlei Geschäfte in China durch und beabsichtigt auch nicht, damit zukünftig zu beginnen“, endet das Statement.



Das beruhigte wohl in ausreichendem Umfang. Während andere Tech-Giganten immer wieder bei Unwahrheiten erwischt wurden, wie etwa Facebook, zeigte sich TikTok in der Lage, mit ähnlichen Anschuldigungen direkter umzugehen. Es sah so aus, als hätte TikTok die notwendige Mauer zwischen China und dem Unternehmen endlich erfolgreich errichtet, obwohl die Plattform mittlerweile zu Bytedance gehört, einem chinesischen Unternehmen, das mehrere bekannte Plattformen in China betreibt. Dazu gehört auch Douyin, die chinesische Version von TikTok. Während Bytedance innerhalb der chinesischen Grenzen einem strengen Zensur- und Propagandaregime unterworfen ist, wurde TikTok global zu einem Phänomen, insbesondere bei Generation-Z-Usern. Die Zahlen machen schwindelig: 59,8 Prozent Wachstum im Jahr 2020, dann noch einmal 40,8 Prozent im Folgejahr. Heute ist TikTok das drittbeliebteste Social-Media-Netzwerk der Welt, nach Facebook und Instagram, die beide zu Meta gehören.



Und dann, am 17. Juni 2022, ließ Buzzfeed News eine Bombe platzen: In internen Unterlagen, die der Website vorlagen, gaben TikTok-Mitarbeiter zu, dass auch chinesische Ingenieure Zugang zu den Daten von US-Nutzern erhalten. „In China sehen sie alles“, war auf einer Aufnahme vom September 2021 zu hören. Die Enthüllung hatte schnell eine gigantische Wirkung und immer mehr Rufe wurden laut, TikTok müsse seine Datenspeicherpraktiken dringend ändern.



In Zeiten immer stärker eskalierender Spannungen zwischen den USA und China müssen viele Nationalstaaten sich fragen, wie sie eine Strategie entwickeln, die ihnen helfen kann, zwischen den beiden Supermächten nicht unter die Räder zu kommen. Dabei ist ein wichtiges Thema immer wieder auch die Frage: Wie mit Chinas boomender Hightech-Industrie umgehen, die Erfolgsgeschichten wie TikTok produziert?



Kleine, aber blühende Volkswirtschaften wie Israel können die Möglichkeiten, die chinesische Aufmerksamkeit bietet, nicht übersehen. Zudem will das Land China nicht herausfordern. Auf der anderen Seite kann Israel auch nicht so tun, als existierten die Berichte über die Kontrolle privater Unternehmen durch das chinesische Regime nicht. Anders gesagt: Israel möchte seinen Bürgern die Nutzung TikToks nicht verwehren, die Gefahren aber auch nicht ignorieren. Diese Zwickmühle nennen wir das „TikTok-Dilemma“, das sich genauso für jede andere chinesische Plattform darstellt, die im Westen operiert. Dieses Dilemma umfasst eine Menge sicherheitspolitischer, justizieller, diplomatischer und ökonomischer Fragen.



Zudem ist das TikTok-Dilemma Teil einer größeren Diskussion, die sich um den Charakter dieser neuen Welt drehen muss, die zugleich mutig und angstgetrieben ist. In diesem Text werde ich zunächst versuchen, eine neue Definition dieses Dilemmas im israelischen Kontext zu geben und anschließend einige erste Schritte aufzeigen, wie ihm begegnet werden könnte.



Laut Datareportal.com gibt es in Israel derzeit etwa 2,5 Millionen TikTok-User ab 18 Jahren. Die tatsächliche Zahl dürfte aufgrund der Popularität der Plattform unter jüngeren Israelis weit höher liegen. Die Bedeutung TikToks in Israel ist jüngst durch unglückliche Umstände noch einmal vor Augen geführt worden: Im Frühling 2021 gingen viele Videos viral, über die Medien unter dem Titel „TikTok-Terror“ berichteten und die palästinensische Gewalt gegen jüdische Menschen, insbesondere in Ost-Jerusalem dokumentierten. Es stellte sich heraus: Nachdem lange Zeit Facebook als Plattform für Hetze im Fokus der Regierung stand, musste nun auch TikTok mehr Aufmerksamkeit zuteil werden.



Eine regulatorische Grauzone

Facebook und TikTok bewegen sich, wie der Rest der sozialen Medien, allerdings in einer gesetzgeberischen Grauzone. Der Staat Israel hat keine kohärente Cyberpolitik, was dazu führt, dass Gerichte entscheiden müssen, ob sie in wichtigen Grundsatzfragen eingreifen sollen. Dazu zählen Redefreiheit, Datenerfassung und sogar Standards für den Kundenservice. „Derzeit reguliert der Staat Israel, wie die meisten Länder der Welt, die Internetwelt nicht“, sagt der israelische Kommunikationsminister Yoaz Hendel im Interview. „Daher lautet die grundsätzliche Frage, ob der Staat das Internet stärker unter Kontrolle bringen sollte. Meine Antwort ist ja. Deshalb arbeiten wir aktuell an passender Gesetzgebung. Das ist eines der Ziele meines Ministeriums.“



Minister Hendels Ansatz zur Regulierung der Online-Welt, einschließlich der sozialen Medien, unterscheidet nicht zwischen „amerikanischen“ oder „chinesischen“ Apps und Diensten. Was beispielsweise die Frage der Datenerfassung betrifft, so ist die Beziehung zwischen TikTok und dem chinesischen Regime nicht mehr oder weniger relevant als die anhaltenden Spannungen zwischen Facebook und der US-Regierung oder der Europäischen Union. In beiden Fällen sollte der Staat bei einer Reihe von Fragen ein Mitspracherecht haben, wie zum Beispiel bei Verleumdungsfällen und der transparenten Kommunikation mit den Nutzern, ganz so als wären die Tech-Unternehmen klassische Telefongesellschaften.



Und doch ist der Fall China anders gelagert, da die Beziehungen zwischen Staat und Privatwirtschaft hier nicht ausbalanciert sind. Auch wenn TikTok außerhalb Chinas operiert und privatwirtschaftlich orientiert ist, könnten Assets wie Big Data und leistungsstarke Algorithmen attraktiv sein, um chinesische Interessen im Westen durchzusetzen. „Das Problem ist, dass wir einfach keine Ahnung haben, wo die Daten gespeichert sind“, sagt Luwei Rose Luqiu, Expertin für Massenkommunikation von der Hong Kong Baptist University, im Gespräch. „Das ist beunruhigend. Für Menschen, die in hochsensiblen Bereichen, wie etwa der nationalen Sicherheit, tätig sind, ist es sogar äußerst besorgniserregend.“



Dr. Luqiu betont, dass es derzeit keinen Beweis dafür gibt, dass das chinesische Regime TikTok für seine Interessen manipuliert. Sie weist zudem darauf hin, dass der chinesische Zensurmechanismus nicht daran interessiert sei, was in den TikTok-Posts inhaltlich vor sich geht, da die Inhalte für chinesische Nutzer ohnehin gesperrt sind. „Mit internationalen Nutzern, die China kritisieren, haben sie kein Problem, weil es die chinesischen Nutzer nicht erreicht. Erst kürzlich stellte sich in einer Studie zu palästinensischen Videos heraus, dass TikTok weniger zensierte als Facebook oder Twitter.“



Hochrangige Quellen im Ministerium für Kommunikation kommen zu ähnlichen Aussagen. Ihnen zufolge zeigte sich TikTok bei der Bekämpfung von Hass und Hetze kooperativer als andere Social-Media-Plattformen. „Die Kommunikation mit der Regulierungsbehörde war eine Initiative TikToks“, so die Quellen.



Die Bekämpfung von Hetze, so wichtig sie auch ist, schafft jedoch nicht alle Bedenken aus der Welt, wenn es um die potenzielle Verletzung der Privatsphäre durch ein autoritäres Regime geht, das bekanntlich eine dominierende Rolle in der Welt anstrebt. So hat die US Army beispielsweise bereits ihre Soldaten angewiesen, TikTok nicht zu nutzen. Es sieht so aus, als würde die chinesische Tech-Industrie der gleiche Ansatz treffen wie chinesische Infrastrukturunternehmen und wichtige Lieferanten: Missmut, Misstrauen und mögliche Sanktionen, wie sie Donald Trump gegen TikTok zu verhängen versucht hat.



Dies ist ein weltweites Problem, aber Israel stellt es noch vor eine weitere Herausforderung: Als engster Verbündeter der USA in der Region sollte das Land an der Seite der USA gegen die chinesische Expansion ankämpfen. Andererseits erfreut sich TikTok auf der ganzen Welt überwältigender Beliebtheit, eine Einschränkung oder vollständige Sperrung würde in jedem Fall nicht ohne rechtliche und diplomatische Auseinandersetzungen ablaufen. Das erneuert die schon weiter oben genannte Frage: Warum stellt TikTok ein größeres Problem dar als Facebook? Wie sollte mit einer russischen App wie Telegram umgegangen werden?



„Das Problem ist nicht chinesisch oder amerikanisch, es ist die Privatsphäre insgesamt“, sagt Minister Hendel. „Die gesamte Cyberwelt hat Probleme mit dem Datenschutz, und wenn ich ehrlich bin, sehe ich nicht, dass die Welt als Ganzes dort vorankommt.“



Recht und Unordnung

Die Besorgnis über Chinas Kontrolle über den Technologiesektor hat in den vergangenen Jahren zugenommen, während der chinesische Markt seinen Schwerpunkt immer mehr auf boomende Start-ups und das Bereitstellen von Risikokapital verlagerte. Im Juni 2017 führte China beispielsweise ein neues Cybergesetz ein, das den Ansatz des Staates bei der Datenerfassung im Internet neu definiert. Einer der umstrittensten Artikel des Gesetzes besagt, dass alle persönlichen Daten, die in China erfasst werden, auch in China gespeichert werden müssen, was einen Zugriff des chinesischen Staates nicht ausschließt.



Nach Artikel 28 dürfen die Sicherheitsbehörden Netzbetreiber um Unterstützung bitten, die diese auch gewähren müssen. Artikel 50 besagt, dass Behörden zudem die Löschung von Informationen verlangen dürfen, wenn diese als illegal oder gefährlich eingestuft werden. „Das Gesetz zeigt, dass sich die chinesische Regierung des zunehmenden Potenzials von Internetanwendungen für Wirtschaft und Staat bewusst ist und weiß, wie sie zur Anhäufung wirtschaftlicher Macht innerhalb und außerhalb Chinas sowie zur politischen Einflussnahme genutzt werden können“, schreiben Israel Kanner und Doron Ella vom Institute for National Security Studies, einem der renommiertesten Thinktanks Israels in Fragen der Strategie und nationalen Sicherheit.



„Anhand des chinesischen Cybergesetzes lässt sich viel über Chinas Umgang mit Daten lernen, und daraus kann man ableiten, welche Art von Informationen andere Nationen besonders schützen sollten“, sagt Tamar Groswald Ozery, Expertin für Chinas Volkswirtschaft und Recht an der Hebräischen Universität in Jerusalem, im Gespräch. „Wenn China Cybersicherheit in seiner nationalen Gesetzgebung durch Elemente wie logistische Anpassungen definiert, können daraus auch Schlüsse gezogen werden, wie es in die andere Richtung funktionieren kann.“



Außerdem ist zu berücksichtigen, wie hart die chinesische Regierung jüngst im Hightech-Sektor durchgegriffen hat. Im Jahr 2021 haben neue Gesetze und Vorschriften Druck auf chinesische Tech-Giganten wie die Handelsriesen Alibaba und Tencent ausgeübt. Die Politik von Präsident Xi sig­nalisiert den globalen Märkten, dass es keinen Sektor gibt, der sich dem Zugriff der Regierung entziehen kann. Der westliche Glaube, genug Geld würde ein autoritäres Regime auf die Dauer schon in die Schranken weisen, hat sich als falsch herausgestellt. Daher wird jeder Versuch, zwischen privaten Unternehmen innerhalb und außerhalb Chinas zu unterscheiden, oberflächlicher Natur bleiben. Oder wie Ozery es ausdrückt: „Es ist praktikabel, bis es nicht mehr praktikabel ist.“



Andererseits steckt hinter dem harten Durchgreifen gegen Hightech-Unternehmen mehr, als man im Westen wohl zunächst dachte. „Ein Großteil der Maßnahmen zielt darauf ab, die monopolistische Macht der großen Unternehmen zu brechen“, sagt Ozery. „Chinesische Verbraucher haben zahlreiche Beschwerden über bestimmte Unternehmen und Leistungen geäußert. Die Regierung sorgt sich zudem wegen der wirtschaftlichen Ungleichheit und der Tatsache, dass viele Haushalte ihre Ersparnisse für Aktivitäten vergeudet haben, die die Regierung als unproduktiv, spekulativ und somit riskant ansieht, wie beispielsweise die Glücksspielindustrie – ein Bereich, in dem auch Unternehmen aus der Tech-Branche tätig sind. Schaut man sich die Reaktion des chinesischen Marktes nach dem ­ersten Einbruch an, dann scheinen Investoren und Verbraucher das zu verstehen.“



„Es ist auch wichtig zu erwähnen“, fügt sie hinzu, „dass viele der jüngsten Schritte, die die Tech-Industrie einschränken könnten, zunächst nur in einem regulatorischen Rahmen festgelegt sind. Sie müssen erst noch in praktische Vorschriften umgesetzt werden. In China haben die verschiedenen Ministerien und Provinzen oft einen großen Ermessensspielraum, wenn es um die Umsetzung solcher Regularien geht. Das hat viel zu Chinas Wachstum beigetragen. Aus diesem Grund wissen wir aber trotz der Aufregung im Westen nicht wirklich, wie die neuen Gesetze und Vorschriften sich auf die Praxis in der Tech-Industrie auswirken werden. Dennoch sollte jedes nicht­chinesische Unternehmen, das in China operiert, und jedes Land, in dem ein chinesisches Unternehmen tätig ist, wissen: Es ist nur ein schmaler Grat zwischen der Nichteinmischung der Regierung und dem Moment, an dem ein Unternehmen so viel Macht erlangt, dass der Einparteienstaat beschließt, es aus welchen Gründen auch immer ins Visier zu nehmen.“ Die chinesische Regierung verfügt dafür über die notwendigen Fähigkeiten und Mittel – mögen diese innerhalb der geltenden Gesetze liegen oder nicht.



Der Zukunft ins Auge sehen

Im Jahr 2017 erhielt ein BBC-Korrespondent Zugang zu einem der modernsten Projekte Chinas. Man schickte ihn auf einen Spaziergang durch die Stadt Guiyang, in der fast sechs Millionen Menschen leben, während die Behörden sein Bild verfolgten. Ziel war es, herauszufinden, wie lange es dauern würde, ihn mit Hilfe der Überwachungs- und Gesichtserkennungstechnologie ausfindig zu machen. Das Ergebnis verblüffte: sieben Minuten.



Aber das war noch relativ simpel: Die Identität des Reporters war bekannt, bevor die Verfolgungsjagd begonnen hatte. Genau hier kommt ein weiteres chinesisches Projekt ins Spiel: die fortschrittlichste Industrie der Welt im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) zu werden. Damit Maschinen ihre Lernfähigkeit verbessern können, müssen sie mit Daten gefüttert werden. Wenn es zum Beispiel um Gesichtserkennung geht, wird es künftig nicht ausreichen, sich mit der einheimischen Bevölkerung oder einem neugierigen BBC-Reporter zufriedenzugeben.



Hier liegt eine mögliche Antwort auf die Frage, die im Westen immer wieder gestellt wird: Was geschieht mit all den Daten, die zur Verfügung gestellt wurden? Und was kann passieren, wenn die Behörden auf diese Daten zugreifen?



Im Jahr 2018 veröffentlichte Fo­reign Policy einen Artikel, der sich um Chinas Engagement in Afrika drehte. Es stellte sich heraus, dass sich im Rahmen der Bemühungen Chinas, in Afrika durch den Bau von Infrastrukturprojekten wie Häfen und Kommunikationssystemen mehr Einfluss zu gewinnen, auch Unternehmen eingeschaltet hatten, die ihre KI-Fähigkeiten verbessern wollten. In Simbabwe etwa unterzeichnete die Regierung ein Abkommen mit dem chinesischen Unternehmen CloudWalk, das der Regierung modernste Überwachungstechnologie sichert. Im Gegenzug erhielt CloudWalk Daten, die der Gesichtserkennungssoftware helfen, mehr über People of Colour zu lernen. „Wenn China außer Wirtschaftswachstum und Einflusssteigerung ein Interesse im Nahen Osten hat, dann ist es dieses“, sagt Galia Lavi, China-Forscherin am Institute for National Security Studies, im Gespräch. „China schert sich nicht um Einzelpersonen, vielleicht um ein paar wenige, aber nicht um Sie und mich. Aber China ist die führende Kraft im KI-Bereich, und westliche Dilemmata wie das des Datenschutzes kümmern das Regime wenig.“



Chinas Wunsch, eine KI-Supermacht zu werden, liefert das fehlende Glied im TikTok-Dilemma: Wenn die von TikTok gesammelten Daten potenziell chinesischen Behörden zur Verfügung stehen, können diese sie für ihre eigenen Zwecke nutzen, die nicht Teil der Absprachen zwischen TikTok und seinen Nutzern waren. Und das, ohne den offensichtlichen potenziellen Wert der Daten zu erwähnen, der zum Beispiel in der Vorhersage wirtschaftlicher Trends liegt. „Chinas Art“, sagt Lavi, „ist nicht, mit scharfen Waffen auf dich loszugehen. Sie gehen die Dinge viel ruhiger und behutsamer an.“



Wie geht es weiter?

Während Regierungen auf der ganzen Welt darum ringen, wie eine kohärente Vision für die Beziehung zwischen Staat und Technologie­unternehmen aussehen kann, tritt die Notwendigkeit eines neuen Paradigmas immer klarer zutage. Ein kleines, aber hochentwickeltes Land wie Israel könnte hier mit gutem Beispiel vorangehen, insbesondere was den Schutz personenbezogener Daten angeht. Obwohl sich das Land in einem tiefgreifenden politischen Umbruch befindet, erscheint die Ausarbeitung einer solchen Agenda nicht als unlösbare Aufgabe. Das gilt vor allem, wenn die USA zusätzlichen Druck von außen ausüben.



Israels Datenschutzgesetz wurde zuletzt im Jahr 2017 überarbeitet. Die neuen Vorschriften, die vom Justizministerium erlassen wurden, sind eine deutliche Verbesserung. Sie schreiben hohe Sicherheitsstandards für gesammelte Daten vor. Doch wie der Reporter bei seinem Experiment in Echtzeit feststellte, bieten sie noch keine ausreichende Regulierung der Nutzung von Daten durch die sie erhebenden Unternehmen selbst.



Der nächste Schritt wäre daher, das Spielfeld der Datenerfassung neu zu gestalten, unabhängig davon, woher das Unternehmen kommt, das Daten sammeln möchte. Die Ministerien für Justiz und Kommunikation sollten gemeinsam einen neuen staatlichen Ansatz für den Schutz der Daten nicht nur vor Hacking oder Leaks, sondern auch vor den Datensammlern selbst entwickeln. Das Team sollte sich auch von Experten aus den Bereichen ­Cyber, Technologie und Ethik beraten lassen.



Als Nebenprodukt dieses Teams könnte es ein neues Cyber- und Datenerfassungsgesetz geben, das die Beziehungen zwischen Staat, der daten­erfassenden Stelle und der Öffentlichkeit neu regelt. So sollte das Gesetz beispielsweise die Definition von personenbezogenen Daten an die neuen technologischen und kulturellen Gegebenheiten anpassen und sich dabei ein Beispiel an anderen Ländern nehmen.



Um Fragen rund um den Umgang mit China Rechnung zu tragen, sollte das Gesetz außerdem eine Art Schranke einziehen, die es jedem Unternehmen unmöglich macht, personenbezogene Daten an einen Staat weiterzugeben. Wenn das chinesische Gesetz die Möglichkeit vorsieht, Unternehmen zur Weitergabe von Daten zu zwingen, sollte das israelische Gesetz jede Einrichtung, die Daten an eine Regierung weitergibt, zur Rechenschaft ziehen, bewehrt mit finanziellen Sanktionen oder der Möglichkeit zur Zivilklage.



Die Bedeutung breiteren Datenschutzes

Im Rahmen dieser Gesetzgebung sollte auch ein neuer Ansatz für die Durchsetzung des Gesetzes erarbeitet werden. Gegenwärtig ist die zuständige Behörde Teil der Cyberabteilung des Justizministeriums und heißt „Abteilung zum Schutz der Privatsphäre“. Doch wie schon bei der letzten Aktualisierung der Datenschutzgesetzgebung geht es ihr in erster Linie darum, die Bedeutung des Datenschutzes aufrechtzuerhalten und Verstöße gegen das Datenschutzrecht zu untersuchen. Die Datenerhebung an sich, insbesondere wenn sie mit Zustimmung des Nutzers erfolgt, wird somit nicht als Problem angesehen – weder für die Nutzer selbst noch für die nationale Sicherheit.



Deshalb muss der Ansatz dringend verbreitert werden und Datenmissbrauch durch Unternehmen umfassen. Dazu könnte es beispielsweise hilfreich sein, eine spezielle Arbeitsgruppe unter Aufsicht des Nationalen Sicherheitsrats zu bilden. Die Taskforce, die sich aus Experten verschiedener Disziplinen (Justiz, Militär, Cybersicherheit, Privatsektor usw.) zusammensetzen könnte, könnte sich freiwillig mit Fragen der Datenerhebung befassen. Sie könnte so alle Aspekte der Datenerhebung durch große Organisationen oder Unternehmen analysieren und Alarm schlagen, sobald ein Aspekt entdeckt wird, dem weitere staatliche Behörden Aufmerksamkeit schenken sollten.



Zu guter Letzt liegt es auch im Interesse der Öffentlichkeit, ihren Teil beizutragen. Wir leben nicht mehr in einem Zeitalter, in dem wir uns noch der Illusion einer gutwilligen und verantwortlich handelnden Tech-Industrie hingeben können. Wir werden durch den Ausbau unseres digitalen Lebens immer mehr nicht nur zu bloßen Nutzern der Digitalindustrie, sondern auch zu ihrem Produkt. Dem wird nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Speziell in Israel wird auf das chinesische Regime oft viel freundlicher geblickt als in anderen Staaten: Eine kürzlich durchgeführte weltweite Umfrage belegt das eindrucksvoll. Solange China nicht in Taiwan einmarschiert oder ein Ereignis einer ähnlich radikalen Tragweite eintritt, dürften sich die Zahlen auch nicht allzu schnell ändern.



Aus diesem Grund werden Gesetze und Vorschriften nicht ausreichen. Es liegt auch in der Verantwortung der Öffentlichkeit und der führenden Politiker, eine tiefgehende Debatte über die Möglichkeiten und Bedrohungen in dieser beispiellosen Zeit zu führen. Ob es um die Risiken der TikTok-Nutzung oder einen neuen Deal zwischen User und Plattform geht, unsere Generation muss verstehen, dass Daten das neue Öl sind und wir sie produzieren – am laufenden Band. China, wie auch Facebook und Google, hat das verinnerlicht. Die Frage ist, ob wir das endlich auch tun.



Aus dem Englischen von John-William Boer

Bibliografische Angaben

IP Special 07, November 2022, S. 22-29

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Einav Schiff arbeitet als Journalist für Yediot Ahronot, Israels führendes Medienunternehmen. Sein Hauptaugenmerk gilt der Kultur und ihren Verbindungen zu anderen Bereichen wie Politik, Wirtschaft und Technologie. Als leitender Fernsehkritiker für Yediot Ahronot reflektiert er täglich über die Content-­Revolutionen des 21. Jahrhunderts; er verfasst Meinungsbeiträge und hat eine wöchentliche Kolumne, in der er digitale Trends analysiert. Einav hat einen Master-Abschluss in Organisationsberatung. 2018 arbeitete er als Ernst Cramer & Teddy Kollek-Stipendiat beim deutschen Medienunternehmen Tagesspiegel. Er lebt in London.