Titelthema

27. Febr. 2023

Das Rüsten der anderen

Im Zuge der Zeitenwende investieren Europas Länder wieder deutlich mehr in ihre Streitkräfte. Doch von einer konsequenten Zusammenarbeit in der Rüstung ist man noch weit entfernt. Wie lassen sich Anreize dafür schaffen?

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Bild: Boris Pistorius in Tarnuniform vor einem Panzer
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Es scheint, als habe Russlands Invasion der Ukraine in der europäischen Verteidigungspolitik einen „Koste es, was es wolle“-Moment ausgelöst. EU-Mitgliedsländer kündigten erhebliche Erhöhungen ihrer Verteidigungshaushalte an, die in einigen Fällen sogar die berühmten 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigen. Nach Angaben der EU-Kommission versprachen europäische Länder allein bis Mai 2022 – also innerhalb von weniger als drei Monaten nach dem Einmarsch Russlands – eine Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben um rund 200 Milliarden Euro. Doch immer wenn neues Geld in die europäische Verteidigungspolitik fließt, stellt sich eine altbekannte Frage. Wird dieses Geld auch gemeinschaftlich und kooperativ ausgegeben? Und wie so oft lautet die Antwort: Nein, wird es nicht.



Flickenteppich aus nationalen Märkten

In Europa bilden nationale Top-Konzerne die rüstungsindustrielle Basis des Verteidigungssektors. Sie treten als Hüter von kritischem technischen Fachwissen auf, das über Generationen erworben wurde. Die Autonomie und die Wettbewerbsfähigkeit der Verteidigungsunternehmen werden vom Staat penibel geschützt. Bei Ausschreibungen werden in der Regel einheimische Firmen bevorzugt, und wenn eine länderübergreifende industrielle Zusammenarbeit erforderlich ist, führt das nicht selten zu politischen Auseinandersetzungen, bei denen jedes Land der eigenen Industrie Vorteile zu verschaffen sucht. Nicht zuletzt deshalb ist die europäische Verteidigungsindustrie nach wie vor ein Flickenteppich aus verschiedenen nationalen Märkten. Im Jahr 2020 wurden nur 11 Prozent der Investitionen kooperativ getätigt, obwohl die EU-Staaten im Rahmen der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) eigentlich einen Anteil von 35 Prozent vereinbart hatten. Das hat zu Defiziten bei den Verteidigungsfähigkeiten geführt, die Inter­operabilität zwischen den europäischen Streitkräften behindert und wirtschaftliche Verluste verursacht.



Die EU, von Hause aus eine Marktregu­liererin, versucht seit Langem, dieses Problem anzugehen, indem sie von einem Ansatz der regulatorischen „Peitsche“ zu einem Ansatz der finanziellen „Zuckerbrote“ übergegangen ist. Die Kommission hat nicht nur eine Aufstockung des Europäischen Verteidigungsfonds versprochen, sondern auch eine Reihe neuer Finanzinstrumente angekündigt. Diese würden die Beschaffung von Verteidigungsgütern erleichtern, und das nicht nur in der Forschungs- und Entwicklungsphase, auf die sich die bisherigen Finanzmaßnahmen konzentriert hatten.



Das erste dieser Instrumente ist das zur Stärkung der Europäischen Verteidigungsindustrie durch Gemeinsame Beschaffung (EDIRPA), ein Fonds in Höhe von 500 Millionen Euro, der den Erwerb von gemeinsam entwickelten Verteidigungsgütern durch die EU-Staaten im Zeitraum von 2023 bis 2024 fördern soll. Das zweite ist das Europäische Verteidigungsinvestitionsprogramm (EDIP), das ab 2024 als Anker für künftige gemeinsame Entwicklungs- und Beschaffungsprojekte dienen wird. Das EDIP soll die Mitgliedstaaten dazu er­mutigen, europäische Verteidigungskonsortien zu gründen, indem diejenigen, die sich an solchen Kooperationen beteiligen, von der Zahlung der Mehrwertsteuer befreit werden.



Wie die jüngsten Initiativen zeigen, ist das Leistungsversprechen der EU für die europäische Verteidigungsindustrie derzeit vor allem finanzieller Natur. Um die EU-Staaten zu einer regelmäßigeren Zusammenarbeit zu bewegen, reichen finanzielle Anreize jedoch im Zweifel nicht aus, insbesondere wenn sie vergleichs­weise begrenzt sind.



Kooperation und Konfrontation

Studien zeigen, dass wir in Europa verteidigungspolitisch eine janusköpfige Situation haben: Einer Politik, die auf nationale Souveränität pocht, stehen Rüstungs­unternehmen gegenüber, die bei großen Projekten zusammenarbeiten müssen, um dem ständigen Anstieg der Beschaffungskosten zu begegnen. So arbeiten nationale Regierungen hin und wieder bei gemeinsamen verteidigungspolitischen Aktivitäten zusammen, während sie es in anderen Fällen vorziehen, eine streng national ausgerichtete Sicherheitspolitik zu verfolgen oder Waffensysteme von außereuropäischen Lieferanten zu beziehen.



Wann europäische Länder mit anderen Partnern zusammenarbeiten, lässt sich aber nur schwer vorhersagen, da gemeinsame und gegensätzliche Interessen verflochten sind: Neben dem gemeinsamen Wunsch, die Ressourcen zu bündeln, um die Gewinne zu steigern, gibt es unterschiedliche Interessen, wenn es darum geht, wie die Erträge aus der Zusammenarbeit aufgeteilt werden. In früheren kooperativen Verteidigungsallianzen führte dieses Spannungsverhältnis zwischen Wettbewerb und Zusammenarbeit zu ausgesprochen komplexen Arbeitsteilungsvereinbarungen zwischen den Partnern, was wiederum zu willkürlichen Entscheidungen, ineffizienten Lieferkettenstrukturen und einer ständigen Neuverteilung der Arbeit führte. Das kann die Kosten schnell in die Höhe treiben.



Selbst wenn die Staaten sich zur Zusammenarbeit entschließen, bedeutet eine internationale Rüstungskooperation in der Regel nur, dass ein Problem geteilt, aber nicht unbedingt, dass es halbiert wird. Denn der Kuchen mag zwar größer werden; die Frage aber, wer das größte Stück bekommt, bleibt bestehen.



Ein auf finanziellen Anreizen basierender Ansatz sollte also nicht gänzlich verworfen werden; zumindest aber sollten parallel dazu Diskussionen über Steuerungs- und Regelungsstrukturen geführt werden, die sowohl den multinationalen Interessen als auch der Problematik des Wettbewerbs in der europäischen Verteidigungsindustrie gerecht werden.



Erstens sollten Verteidigungspartnerschaften stets die Kernkompetenzen der beteiligten Länder nutzen, und zwar entlang zweier Dimensionen: dem industriellen und technologischen Fachwissen sowie dem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Beim Eurofighter-Typhoon-Programm etwa besteht das Hauptproblem darin, dass es an einer echten Arbeitsteilung zwischen den Partnerländern mangelt. Die Beschaffung von Systemen und Teilsystemen wurde hier nicht anhand des komparativen Vorteils der jeweiligen nationalen Industrien organisiert, sondern schlichtweg gleichmäßig unter den Kooperationspartnern aufgeteilt.



Um sicherzustellen, dass die Arbeitsteilung nach Kriterien der Wettbewerbsfähigkeit und potenzieller Wettbewerbsvorteile erfolgt, bedarf es wirksamer Steuerungsstrukturen. Darüber hinaus müssen Rahmenregelungen für Regierungen und Unternehmen eingeführt werden, die eine Erbringung vertraglich vereinbarter Leistungen sicherstellen. Hier geht es darum, rechenschaftspflichtige Stellen zu ermächtigen, notwendige Kapazitäten schnell und mit minimalen bürokratischen Hürden bereitzustellen. Denn gerade die richtigen Führungs- und Umsetzungsstrukturen sind oft der Schlüssel zum Erfolg von Kooperationen.



Vorzeigeprogramme der Verteidigungsindustrie wie das Global Combat Air Programme (GCAP) zwischen Großbritannien, Italien und Japan experimentieren mit neuen Führungsstrukturen, um mehr Flexibilität und eine fairere Arbeitsteilung zu gewährleisten. Oft arbeitet hier ein einziges bevollmächtigtes Regierungsgremium mit einem einzigen Industrieunternehmen zusammen. Eine solche Struktur steht in krassem Gegensatz zum Eurofighter-Modell, bei dem weder die NATO-Managementagentur noch das Industrieunternehmen (Eurofighter GmbH) viel Mitspracherecht hatten, so dass sie die Klärung der entscheidenden Fragen zumeist Mitgliedstaaten und den Konzernzentralen überlassen mussten.



Schuss ins eigene Knie

Ein weiterer problematischer Aspekt des größtenteils auf finanziellen Anreizen beruhenden rüstungsindustriellen Verteidigungsansatzes der EU ist die Frage, inwieweit hierbei Drittländer einbezogen werden können. Bislang wurden die europäischen Verteidigungsinitiativen durch das Prinzip „play as you pay“ untermauert: Der Grad der Integration in den EU-Binnenmarkt entschied, wie stark Drittstaaten an den finanziellen Mitteln der EU teilhaben konnten. Gleichzeitig betont man in Brüssel, dass Kooperationen mit Dritten immer eine Ausnahme sind und für spezifische Projekte ad hoc erfolgen; man will eine klare Grenze zwischen Mitgliedstaaten und Nichtmitgliedstaaten ziehen.



Dieser Grundgedanke spiegelt sich auch in den PESCO- und EEF-Verordnungen und im neu angekündigten Instrument zur Stärkung der Europäischen Verteidigungsindustrie durch Gemeinsame Beschaffung (EDIRPA) wider. EDIRPA fördert nur Verteidigungsprojekte, bei denen mindestens 70 Prozent der Gesamtkosten auf Komponenten aus dem EU-Binnenmarkt entfallen. Dieser Passus ist für eine Stärkung der industriellen Basis der EU-Verteidigung sinnvoll. In Bezug auf ein anderes Ziel, nämlich die schnelle Lieferung von Rüstungsgütern, könnte er jedoch hinderlich wirken. Denn wenn Nicht-EU-Unternehmen ausgeschlossen werden, die in einigen Bereichen über größere technische Fähigkeiten und bessere Produkte verfügen als ihre europäischen Pendants, dann schießt sich die EU mit dieser Strategie womöglich selbst ins Knie.



Industrielle Rivalitäten sind in der europäischen Verteidigungslandschaft unausweichlich. Bestimmte nationale Rüstungskonzerne werden in europäischen Joint Ventures immer in direktem Wettbewerb stehen und können nicht nur konstruktiv koexistieren. Gerade deshalb könnte es sich jedoch lohnen, industrielle Synergien mit Partnern außerhalb der EU anzustreben, die die Fähigkeiten der europäischen Partner ergänzen. Supranationale Programme, die finanzielle Anreize schaffen, sollten auch einen solchen Ansatz verfolgen. Denn die strategische Autonomie kann im Kontext der europäischen Verteidigungsindustrie nicht komplett auf Autarkie ausgelegt sein. Vielmehr sollte sie auf zwei miteinander verbundene Ziele hinarbeiten: den Abbau asymmetrischer Abhängigkeiten von bestimmten Akteuren (etwa den USA) und die Gewährleistung einer schnelleren Handlungsfähigkeit durch diversifizierte Lieferketten.



Jede supranationale Lösung zur Förderung der Rüstungszusammenarbeit sollte deshalb offen und flexibel sein, damit sie sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln und neue Partner mit unterschiedlichen Anforderungen und industriellen Fähigkeiten aufnehmen kann. Zwar werden bereits heute Schritte unternommen, um EU-Programme für jene Nicht-EU-Partner offen zu halten, die die Werte und Interessen der Union teilen. Doch insgesamt bleiben die Regeln für die Teilhabe von Drittstaaten an Verteidigungsvorhaben der EU sehr restriktiv.



Das europäische Leistungsversprechen zur Stärkung der eigenen Verteidigungsindustrie kann nicht nur darin bestehen, auf nationaler und supranationaler Ebene mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Um einen durch Kooperation und Konflikt gekennzeichneten Rüstungsmarkt zu mehr Zusammenarbeit zu bewegen, braucht es die Schaffung neuer Steuerungsstrukturen und innovativer Verteidigungspartnerschaften, damit die neuen Geldtöpfe auch ihre Wirkung entfalten können.



Aus dem Englischen von Kai Schnier

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 02, März 2023, S. 38-41

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Isabella Antinozzi ist Analystin in der Defence, Industries and Society Research Group beim Royal United Services Institute (RUSI) in London.