Essay

26. Juni 2023

Das postimperiale Imperium­­

Der Krieg in der Ukraine verändert Europa von Grund auf. In der Folge bietet sich für den Kontinent auch eine riesige Chance: Der Zusammenschluss eines mächtigen, liberalen Verbunds kann nicht nur das Comeback eines untergehenden russischen Imperiums verhindern. Es geht um noch sehr viel mehr.

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Bild: Fahnen vor dem EU-Parlament
Bereits heute weist die Europäische Union bestimmende Merkmale eines Imperiums auf, etwa supranationale Autorität, Recht und Staatsgewalt. Das mächtige Gebäude des Berlaymont in Brüssel ist der Sitz der Exekutive der EU, der Kommission.
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Die Geschichte hat ein Faible für unbeabsichtigte Folgen, und das jüngste Beispiel ist besonders ironisch: Wladimir Putins Versuch, das russische Imperium durch die Rekolonisierung der Ukraine wiederherzustellen, hat den Weg für ein postimperiales Europa geebnet; ein Europa, in dem es keine Imperien mehr gibt, die von einem einzigen Volk oder einer einzigen Nation beherrscht weden, weder zu Land noch auf See.

In solch einer Situation hat sich der Kontinent noch nie befunden. Um diese postimperiale Zukunft zu sichern und die russische Aggression abzuwehren, muss die EU jedoch paradoxerweise selbst einige Merkmale eines Imperiums annehmen. Sie muss über ein ausreichendes Maß an Einheit, zentraler Autorität und effektiver Entscheidungsfindung verfügen, um die gemeinsamen Interessen und Werte der Europäer zu verteidigen. Denn wenn jeder Mitgliedstaat bei wichtigen Entscheidungen ein Veto einlegen kann, wird die Union sowohl im Innern als auch von außen bröckeln.

Die Europäer sind es zwar nicht gewohnt, sich selbst durch die Linse eines Imperiums zu betrachten, diese Perspektive kann aber erhellende und beunruhigende Erkenntnisse zutage fördern. Tatsächlich hat die EU selbst eine koloniale Vergangenheit. Wie die schwedischen Wissenschaftler Peo Hansen und Stefan Jonsson dokumentiert haben, betrachteten die Architekten der späteren EU die afrikanischen Kolonien der Mitgliedstaaten in den 1950er Jahren als integralen Bestandteil des europäischen Projekts. Und selbst als die europäischen Länder brutale Kriege führten, um ihre Kolonien zu verteidigen, sprachen Beamte noch in höchsten Tönen von „Eurafrika“ und betrachteten die Besitztümer, die Länder wie Frankreich in Übersee angehäuft hatten, als Teil der neuen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Portugal kämpfte bis in die frühen 1970er Jahre hinein um die Kontrolle über Angola und Mosambik.

Noch aufschlussreicher ist eine imperiale Perspektive, um auf den großen Teil Europas zu blicken, der während des Kalten Krieges hinter dem Eisernen Vorhang unter so­w­jetischer oder jugoslawischer kommunistischer Herrschaft stand. Denn die Sowjetunion war zweifelsohne eine Fortsetzung des russischen Imperiums, auch wenn viele ihrer Führer keine ethnischen Russen waren. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg verleibte sie sich Länder und Gebiete (einschließlich der baltischen Staaten und der Westukraine) ein, die vor 1939 nicht Teil der Sowjetunion gewesen waren. Gleichzeitig dehnte sie ihr effektives Imperium bis ins Zentrum Europas aus, einschließlich eines Großteils des historischen Mitteldeutschlands, aus dem schließlich Ostdeutschland wurde.

Es gab, mit anderen Worten, ein inneres und ein äußeres russisches Imperium. Der Schlüssel, um Osteuropa und die Sowjetunion in den 1980er Jahren zu verstehen, war die Erkenntnis, dass man es hier tatsächlich mit einem Imperium zu tun hatte – und zwar einem im Zerfall. Die Dekolonialisierung des äußeren Imperiums erfolgte 1989 und 1990 auf einzigartig schnelle und friedliche Weise. Noch bemerkenswerter war jedoch der Zerfall des inneren Imperiums im Jahr 1991, der – wie so oft – durch Unruhen im imperialen Zentrum ausgelöst wurde; noch viel ungewöhnlicher war es, dass der endgültige Todesstoß von der imperialen Kernnation ausging: Russland. Und doch ist es eben dieses Russland, das sich heute darum bemüht, die Kontrolle über einige der aufgegebenen Länder wiederzuerlangen und einmal mehr an die östlichen Grenzen des Westens vorzustoßen.

Jeder, der sich mit der Geschichte von Imperien beschäftigt hat, hätte wissen müssen, dass der Zusammenbruch der Sow­jetunion nicht das Ende der Geschichte sein würde. Imperien geben in der Regel nicht kampflos auf. Das haben bereits die Briten, die Franzosen, die Portugiesen und die „Eurafrikanisten“ nach 1945 bewiesen. Und auch das russische Imperium schlug zumindest in einer kleinen Ecke der Welt ziemlich schnell zurück. Im Jahr 1992 ­setzte General Alexander Lebed Russlands 14. Gardearmee ein, um einen Krieg zwischen Separatisten aus dem östlich des Flusses Dnister gelegenen Gebiet der neuen unabhängigen Republik Moldau und legitimen moldauischen Streitkräften zu beenden. Das Ergebnis war der bis heute existierende, illegitime Parastaat Transnistrien am östlichen Ende der Republik Moldau, in kritischer Lage an der Grenze zur Ukraine. In den 1990er Jahren führte Russland außerdem zwei brutale Kriege, um die Kontrolle über Tschetschenien zu behalten, und unterstützte aktiv Separatisten in Georgiens Regionen Abchasien und Südossetien.

Doch während Moskau versuchte, einige verlorene Kolonialgebiete zurückzuerobern, war die EU gerade in zwei Fällen mit der für den Kontinent typischen Abwicklung vom Imperium zum Staat beschäftigt. Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens und die friedliche Trennung der Tschecho­slowakei in zwei Teile lenkten die Aufmerksamkeit einmal mehr auf das Erbe des Osmanischen beziehungsweise des Österreichisch-Ungarischen Reiches, die am Ende des Ersten Weltkriegs formell aufgelöst worden waren. Der Zerfall der Tschechoslowakei und Jugoslawiens im 20. Jahrhundert war jedoch nicht unvermeidlich: Postimperiale multinationale Staaten müssen nicht zwangsweise in Nationalstaaten zerfallen; das ist auch nicht unbedingt das Beste für die Menschen, die dort leben. Trotzdem konnte man eine derartige Progression in der jüngeren europäischen Geschichte öfter beobachten. So gibt es heute in Europa östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs (und nördlich von Griechenland und der Türkei) ein kompliziertes Geflecht von 24 Einzelstaaten, während man hier im Jahr 1989 gerade einmal neun vorfand.

Russlands größerer neokolonialer Vorstoß begann damit, dass Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 einen Konfrontationskurs mit dem Westen einschlug und die von den USA geführte unipolare Weltordnung anprangerte. Es folgte die bewaffnete Rückeroberung Abchasiens und Südossetiens von Georgien im Jahr 2008. Mit der Annexion der Krim und dem Einmarsch in die Ostukraine im Jahr 2014 begann der russisch-ukrainische Krieg, der, wie die Ukrainer den Westen derzeit immer wieder erinnern, bereits seit neun Jahren andauert. In Anlehnung an eine treffende Formulierung des Historikers Alan J. P. Taylor war 2014 der Wendepunkt, an dem es dem Westen nicht gelang zu wenden. Man kann heute nicht wissen, was passiert wäre, wenn der Westen energischer reagiert und seine Energieabhängigkeit von Russland verringert, den Fluss des schmutzigen russischen Geldes gestoppt, mehr Waffen an die Ukraine geliefert und eine deutlichere Botschaft an Moskau gesendet hätte. Es besteht jedoch kaum ein Zweifel, dass dies sowohl die Ukraine als auch den Westen im Jahr 2022 in eine andere und bessere Position gebracht hätte.

Im Jahr 2008 kündigte sich eine Pause in der bemerkenswerten 35-jährigen Geschichte der Erweiterung des geopolitischen Westens an. 1972 hatte die EWG, Vorgängerin der EU, gerade einmal sechs Mitglieder, und die NATO nur 15. Im Jahr 2008 zählte die EU bereits 27 Mitgliedstaaten und die NATO 26. Das Gebiet beider Organisationen erstreckte sich bis tief nach Mittel- und Osteuropa und umfasste auch die baltischen Staaten, bis 1991 Teil des sowjetisch-russischen Binnenimperiums. Obwohl Putin diese doppelte Erweiterung des Westens damals widerwillig akzeptierte, ärgerte er sich mit der Zeit mehr und mehr über diesen Schritt, und fürchtete zusehends dessen Konsequenzen.

Auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest wollte die Regierung von US-Präsident ­George W. Bush ernsthafte Vorbereitungen für den Beitritt Georgiens und der Ukraine treffen, aber große europäische Staaten wie Frankreich und vor allem Deutschland waren strikt dagegen. Als Kompromiss hielt das Abschlusskommuniqué fest, dass Georgien und die Ukraine „in der Zukunft Mitglieder der NATO werden“. Konkrete Schritte wurden jedoch nicht genannt. Mit diesem Mittelweg schnitt sich die NATO gleich doppelt ins eigene Fleisch. Einerseits verstärkte sie Putins Gefühl, dass das russische Imperium von einer US-geführten Allianz bedroht werde, andererseits bot man weder der Ukraine noch Georgien mehr Sicherheit. Nur vier Monate später rollten Putins Panzer in Abchasien und Südossetien ein. Im Zuge der nachfolgenden NATO-Erweiterungen kamen die kleinen südosteuropäischen Staaten Albanien, Kroatien, Montenegro und Nordmazedonien zu dem Verteidigungsbündnis hinzu, sodass die NATO insgesamt 30 Mitglieder zählte. Dieser Schritt veränderte das Kräfteverhältnis in Osteuropa jedoch kaum.

Gleichzeitig geriet die EU-Erweiterung ins Stocken, aber nicht etwa wegen des russischen Widerstands, sondern wegen der Erweiterungsmüdigkeit, die sich nach der Aufnahme neuer mittel- und osteuropäischer Mitglieder in den Jahren 2004 und 2007 in Europa einstellte. Hinzu kamen die Auswirkungen anderer großer Herausforderungen für die EU: Die globale Finanzkrise von 2008 mündete ab 2010 in eine lang anhaltende Krise der Eurozone, gefolgt von der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16, dem Brexit und der Wahl von US-Präsident Donald Trump 2016, dem Aufkommen antiliberaler populistischer Bewegungen in Ländern wie Frankreich und Italien und der Covid-19-Pandemie. Kroatien wurde 2013 in die EU aufgenommen, aber Nordmazedonien, 2005 als Beitrittskandidat akzeptiert, wartet darauf bis heute. Das Verhalten der EU gegenüber den westlichen Balkanstaaten erinnert für die vergangenen zwei Jahrzehnte an eine Karikatur des New Yorker, in der ein Geschäftsmann einen offenbar unliebsamen Anrufer mit den Worten abkanzelt: „Wie wäre es mit nie? Würde Ihnen nie gut passen?“

Der größte Krieg in Europa seit 1945 verdeutlicht einmal mehr die Weisheit des Philosophen Heraklit: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“ Er hat die Erweiterungsprozesse wieder in Gang gesetzt und den Weg für eine weitere große Ost­erweiterung des Westens geebnet. Noch im Februar 2022, am Vorabend der russischen Invasion in der Ukraine, äußerte der französische Präsident Emmanuel Macron Vorbehalte gegen eine Erweiterung der EU um den Westlichen Balkan. Bundeskanzler Olaf Scholz befürwortete diesen Schritt, wollte danach aber einen Schlussstrich ziehen.

Als sich die Ukraine dann so mutig wie unerwartet dem Versuch Russlands widersetzte, das gesamte Land zu unterjochen, brachte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die EU in Zugzwang. Die ukrainische Meinung hatte sich durch die katalytisch wirkende Orangene Revolution im Jahr 2004 und die Euromaidan-­Proteste im Jahr 2014 weiterentwickelt, und Selenskyj hatte bereits zu Beginn seiner Präsidentschaft einen starken Europa-Fokus. Also forderte er wiederholt nicht nur Waffen und Sanktionen, sondern auch die EU-Mitgliedschaft für die Ukraine.

Im Juni 2022 standen Macron und ­Scholz dann zusammen mit Selenskyj in Kiew, ebenso wie der italienische Ministerpräsident Mario Draghi und der rumänische Präsident Klaus Johannis. Alle vier erklärten ihre Unterstützung für die Aufnahme der Ukraine als EU-Beitrittskandidat. Im selben Monat übernahm auch die EU diese offizielle Haltung, akzeptierte auch die Republik Moldau als Beitrittskandidaten (vorbehaltlich einiger grundlegender ­Vorbedingungen für beide Länder) und sandte ermutigende Signale Richtung Georgien, das sich fortan ebenfalls Hoffnungen auf diesen Status machen durfte.

Die NATO hat der Ukraine derweil keine vergleichbare förmliche Zusage gemacht. Angesichts des Ausmaßes der Unterstützung der NATO-Mitgliedstaaten für die Verteidigung der Ukraine, die durch den Besuch von US-Präsident Joe Biden in Kiew zu Jahresbeginn noch einmal dramatisch unterstrichen wurde, ist es jedoch schwer vorstellbar, dass der Krieg ohne eine faktische, wenn nicht gar rechtliche Sicherheitsgarantie der USA und anderer NATO-Mitglieder beendet werden könnte.

In der Zwischenzeit hat der Krieg Finnland und Schweden dazu veranlasst, der NATO beizutreten (obwohl türkische Einwände diesen Prozess verzögerten). Er hat auch dazu geführt, dass EU und NATO – sozusagen die beiden starken Arme des Westens – eine klarer artikulierte Partnerschaft eingegangen sind. Langfristig wäre die NATO-Mitgliedschaft für Georgien, Moldau und die Ukraine die logische Ergänzung zur EU-Mitgliedschaft und die einzige dauerhafte Sicherheitsgarantie vis-à-vis eines erneuten russischen Revanchismus. Auf der Jahrestagung des Weltwirtschafts­forums im Januar in Davos schloss sich kein Geringerer als Ex-US-Außenminister Henry Kissinger dieser Sichtweise an: Der Krieg, der durch die Nichtmitgliedschaft der Ukraine in der NATO verhindert werden sollte, sei bereits ausgebrochen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar sprachen sich gleich mehrere westliche Führungspersönlichkeiten ausdrücklich für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine aus.

Das Projekt, den Rest Osteuropas, abgesehen von Russland, in die beiden wichtigsten Organisationen des geopolitischen Westens aufzunehmen, wird viele Jahre in Anspruch nehmen. Die erste doppelte Osterweiterung des Westens dauerte etwa 17 Jahre, wenn man den Zeitraum von 1990 bis 2007 betrachtet, dem EU-Beitrittsjahr Bulgariens und Rumäniens.

Eine der vielen offensichtlichen Schwierigkeiten dieses Prozesses ist die Tatsache, dass russische Streitkräfte derzeit Teile Georgiens, der Republik Moldau und der Ukraine besetzen. Während es für die EU einen Präzedenzfall für dieses Szenario gibt – immerhin wird auch ein Teil des Territoriums des EU-Mitglieds Zypern von einem anderen Staat kontrolliert –, kann die NATO auf keine derartige Blaupause zurückgreifen. Im Idealfall würden künftige Erweiterungsrunden der NATO im Rahmen eines umfassenderen Dialogs über die europäische Sicherheit mit Russland erfolgen, wie dies bei den NATO-Ost­erweiterungsrunden von 1999 und 2004 der Fall war, wobei bei der Letzteren sogar die widerstrebende Zustimmung Putins erreicht wurde. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass dies geschieht – bis ein ganz anderer Präsident im Kreml sitzt.

Tatsächlich könnte eine solche doppelte Erweiterung bis in die 2030er Jahre hinein dauern. Doch wenn sie einmal abgeschlossen wäre, würde sie zweifelsohne einen weiteren riesigen Schritt in Richtung jenes Zieles darstellen, das US-Präsident George H. W. Bush im Jahr 1989 formulierte: der Schaffung eines freien und ungeteilten Europas („Europe whole and free“). Europa endet jedoch nicht an einer klaren Linie, sondern zieht sich über Eurasien, das Mittelmeer und in gewissem Sinne sogar über den Atlantik hin (Kanada wäre das perfekte EU-Mitglied). Doch mit der Vollendung dieser Osterweiterung würde mehr vom geografischen, historischen und kulturellen Europa vereint als jemals zuvor­ in einem einzigen Zusammenschluss von politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Gemeinschaften.

Darüber hinaus stellt sich die Frage nach einem demokratischen Weißrussland nach Lukaschenko, wenn es sich denn aus dem Griff Russlands befreien kann. Eine nächste Phase, die möglicherweise auch Armenien, Aserbaidschan und die Türkei (seit 1952 NATO-Mitglied und seit 1999 anerkannter EU-Beitrittskandidat) einschließt, könnte schließlich zu einer weiteren geostrategischen Stärkung des Westens in einer zunehmend postwestlichen Welt beitragen. Eine solch langfristige Vision einer erweiterten EU in strategischer Partnerschaft mit der NATO wirft zwei große Fragen auf. Was ist mit Russland? Und wie kann eine EU mit 36 oder perspektivisch 40 Mitgliedstaaten auf Dauer bestehen? Es ist schwierig, die erste Frage zu beantworten, ohne zu wissen, wie ein Russland nach Putin aussehen wird. Ein erheblicher Teil der Antwort hängt jedoch vom geopolitischen Umfeld westlich und südlich von Russland ab.

Die politisch wichtigste Rede zu diesem Thema hat Bundeskanzler Scholz im August 2022 in Prag gehalten. Dabei bekräftigte er sein neues Engagement für eine große Ost­erweiterung der EU – einschließlich des Westlichen Balkans, Moldaus, der Ukraine und längerfristig Georgiens – und betonte, auch diese Erweiterungsrunde erfordere eine erneute Vertiefung der Union. Andernfalls könne eine EU mit 36 Mitgliedstaaten nicht mehr als kohärente und effiziente politische Gemeinschaft tätig werden. Konkret sprach sich Scholz für mehr „qualifizierte Mehrheitsentscheidungen“ aus. Dieses Verfahren würde sicherstellen, dass ein einzelner Mitgliedstaat, wie Viktor Orbáns Ungarn, nicht mehr damit drohen könnte, sein Veto gegen Russland-Sanktionen oder andere Maßnahmen einzulegen, die von den meisten anderen EU-Staaten als notwendig erachtet werden. Die zentrale Entscheidungsgewalt der EU müsse also stärker werden, um eine so große und vielfältige politische Gemeinschaft zusammenzuhalten, wenn auch mit demokratischen Kontrollen und ohne einen einzigen nationalen Hegemon.

Scholz’ Analyse ist nachweislich richtig, und sie ist doppelt wichtig, weil sie vom Regierungschef der europäischen Zentralmacht kommt. Aber ist nicht auch das schon wieder eine imperiale Perspektive für Europa? Die meisten Europäer schrecken vor dem Begriff „Imperium“ zurück, weil sie ihn für etwas halten, das einer dunklen Vergangenheit angehört und von Natur aus schlecht, undemokratisch und illiberal ist. Dazu kommt, dass von Imperium heute mehr gesprochen wird, wegen der aufkommenden Protestbewegungen, die die europäischen Ex-Kolonialmächte auffordern, die von ihnen zur Kolonialzeit begangenen Übel anzuerkennen, zuzugeben und wiedergutzumachen. Deswegen  bevorzugen die Europäer die Sprache der Integration, der Union und des Regierens auf mehreren Ebenen. In „Der Weg in die Unfreiheit“ charakterisiert Timothy Snyder den Wettstreit zwischen der EU und Putins Russland mit der Formel „Integration oder Imperium“. Dabei beschreibt das Wort „Integration“ einen Prozess und keinen Endzustand. Die beiden Begriffe einander gegenüberzustellen ist in etwa so, als würde man von „Bahnfahrt versus Stadt“ sprechen. Der eine Begriff beschreibt eher Transportmittel, der andere ein Ziel.

Wenn man unter „Imperium“ die direkte Kontrolle von Land und Menschen durch einen einzelnen Kolonialstaat versteht, ist die EU natürlich kein Imperium. Aber wie der Historiker Odd Arne Westad argumentiert, ist dies eine zu enge Definition des Wortes. Wenn zu den bestimmenden Merkmalen eines Imperiums supranationale Autorität, Recht und Staatsgewalt gehören, weist die EU bereits wichtige Charakteristika auf. In der Tat hat europäisches Recht in vielen Bereichen Vorrang vor nationalem Recht – ein Umstand, über den sich britische Euroskeptiker besonders gerne aufregen. Beim Handel verhandelt die EU zudem im Namen aller Mitgliedstaaten. Die Rechtswissenschaftlerin Anu Bradford hat die globale Reichweite der „einseitigen Regulierungsbefugnisse der EU in allen Bereichen, von Produktstandards, Datenschutz und Hassrede im Internet bis hin zu Verbrauchergesundheit, Sicherheit und Umweltschutz“ dokumentiert. Ihr Buch trägt den aufschlussreichen, wenn auch etwas überspitzten Untertitel „Wie die EU die Welt regiert“.

Darüber hinaus war das Heilige Römische Reich, das am längsten bestehende Reich der europäischen Geschichte, selbst Beispiel für ein komplexes, mehrstufiges Regierungssystem, in dem es keine einzelne Nation oder einen einzelnen Staat als Hegemon gab. Der Vergleich mit dem Heiligen Römischen Reich wurde bereits 2006 von dem Politikwissenschaftler Jan Zielonka angestellt, als ein „neo-mittelalterliches Paradigma“ zur Beschreibung der erweiterten EU.

Unterstützung für dieses Denken kommt aus einer besonders einschlägigen Quelle. Dmytro Kuleba, Außenminister der Ukraine, hat die EU als „den ersten Versuch, ein liberales Imperium aufzubauen“ bezeichnet und stellte ihr Putins Versuch gegenüber, das russische Kolonialreich durch militärische Eroberung wiederherzustellen. Als ich Kuleba im Februar 2023 im schwer befestigten Außenministerium in Kiew sprach, erklärte er mir, das Hauptmerkmal eines liberalen Imperiums sei das Zusammenhalten verschiedener Nationen und ethnischer Gruppen „nicht durch Gewalt, sondern durch die Herrschaft des Rechts“. Von Kiew aus gesehen, ist ein liberales, demokratisches Imperium notwendig, um ein illiberales, anti­demokratisches zu besiegen.

Einige der Hindernisse, die dem entgegenstehen, hängen jedoch auch mit der imperialen Geschichte Europas zusammen. So argumentiert die deutsche Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse, dass Deutschland seinen Blick auf Osteuropa „dekolonialisieren“ müsse. Dies ist eine ungewöhnliche Version der Dekolonisierung. Denn wenn man etwa davon spricht, dass das Vereinigte Königreich oder Frankreich ihre Sicht auf Afrika dekolonialisieren müssen, meint man für gewöhnlich, dass diese Länder aufhören sollten, Indien oder Afrika (bewusst oder unbewusst) durch die Linse ihrer eigenen früheren Kolonialgeschichte zu sehen. Sasse schlägt vor, dass Deutschland mit seiner langen historischen Faszination für Russland aufhören muss, Länder wie die Ukraine und Moldau durch die koloniale Brille eines anderen Landes zu sehen: durch die Perspektive Russlands.

Das imperiale Erbe und die Erinnerungen westeuropäischer Ex-Kolonialmächte behindern das kollektive europäische Handeln auch auf andere Weise, siehe Vereinigtes Königreich. Sein Austritt aus der EU hatte viele Ursachen, aber eine davon war die Besessenheit von der eigenen ­juristischen Souveränität, die bis zu einem Gesetz aus dem Jahr 1532 zurückreicht, mit dem König Heinrich VIII. den Bruch mit der römisch-katholischen Kirche vollzog: „Dieses Königreich England ist ein Imperium.“ Das Wort „Imperium“ wurde hier in einem älteren Sinn verwendet und bezog sich auf die oberste souveräne Autorität.

Die Erinnerung an das britische Reich, „in dem die Sonne niemals unterging“, trug auch zu dem Irrglauben bei, dass das Vereinigte Königreich gut alleine zurechtkommen würde. „Wir haben früher das größte Imperium verwaltet, das die Welt jemals gesehen hat, und das mit einer viel kleineren einheimischen Bevölkerung und einem relativ kleinen öffentlichen Dienst“, schrieb Boris Johnson, der einflussreichste Anführer der Leave-Kampagne, vor dem Brexit-Referendum 2016. „Sind wir wirklich nicht in der Lage, Handelsabkommen zu schließen?“ Im Falle Frankreichs führt die Erinnerung an seine frühere imperiale Größe derweil zu einer anderen Verzerrung, die nicht etwa in der Ablehnung der EU mündet, sondern in der Tendenz, Europa als Frankreich im Großen zu betrachten. Hinzu kommt die Wahrnehmung Europas in Ländern, die einst europäische Kolonien waren oder, wie China, die negativen Auswirkungen des europäischen Imperialismus zu spüren bekommen haben. Chinesischen Schulkindern wird beigebracht, über ein „Jahrhundert der Demütigung“ durch westliche Imperialisten nachzudenken und sich darüber zu echauffieren. Gleichzeitig verweist Präsident Xi Jinping stolz auf historische Kontinuitäten, von Chinas früheren zivilisatorischen Imperien bis zum heutigen „chinesischen Traum“ der nationalen Verjüngung.

Wenn Europa seine Argumente gegenüber großen postkolonialen Ländern wie Indien und Südafrika wirksamer vortragen will, muss es sich dieser kolonialen Vergangenheit stärker bewusst werden. Wenn europäische Staats- und Regierungschefs heute um den Globus reisen und die EU als die einzig wahre Inkarnation postkolonialer Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Frieden und Menschenwürde präsentieren, scheinen sie oft Europas lange und recht junge Kolonialgeschichte vergessen zu haben. Der Rest der Welt allerdings erinnert sich gut. Das ist ein Grund, warum sich postkoloniale Staaten wie Indien und Südafrika in Bezug auf den Krieg in der Ukraine nicht auf die Seite des Westens geschlagen haben.

Ende 2022 und Anfang 2023 wurden im Auftrag des European Council on Foreign Relations in Zusammenarbeit mit meinem Forschungsprojekt „Europe in a Changing World“ (Universität Oxford) Umfragen in China, Indien und der Türkei vorgenommen. Sie zeigen, wie weit man dort davon entfernt ist, die Geschehnisse in der Ukraine als einen ukrainischen Unabhängigkeitskampf oder als den russischen Versuch einer Rekolonialisierung zu verstehen. Hinzu kommt, dass Europa, wie der Krieg in der Ukraine einmal mehr deutlich gemacht hat, für seine Sicherheit immer noch auf die USA angewiesen ist. Macron und Scholz sprechen zwar oft von der Notwendigkeit „europäischer Souveränität“. Doch wenn es um militärische Unterstützung für die Ukraine geht, war Scholz nicht bereit, auch nur eine einzige bedeutende Waffenart zu liefern, die nicht auch von den USA abgesegnet wurde. Das ist eine seltsame Version von Souveränität.

Trotzdem hat der Krieg das europäische Denken und Handeln in Verteidigungsfragen sicherlich beflügelt. Scholz hat der englischen Sprache mit der „Zeitenwende“ ein neues deutsches Wort geschenkt und sich zu einer nachhaltigen Erhöhung der deutschen Verteidigungsausgaben und einer verbesserten militärischen Bereitschaft verpflichtet. Sollte die Bundesrepublik diese Versprechen einlösen, wäre das in der modernen europäischen Geschichte mehr als nur eine Randnotiz. Polen plant den Aufbau der größten Armee in der EU, und eine siegreiche Ukraine würde über die größten und kampferprobtesten Streitkräfte in Europa außerhalb Russlands verfügen. Derweil betreibt die EU die Europäische Friedensfazilität, die im ersten Jahr des Krieges in der Ukraine etwa 3,8 Milliarden Dollar für die Kofinanzierung von Waffenlieferungen der Mitgliedstaaten an die Ukraine aufgebracht hat. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat nun dafür gesorgt, dass diese Friedensfazilität direkt Munition und Waffen für die Ukraine bestellt, und vergleicht diesen Plan mit der Beschaffung von Impfstoffen durch die EU während der Covid-19-Pandemie. Damit verfügt die EU auch über die sehr bescheidenen Anfänge einer militärischen Dimension, die traditionell zu einer imperialen Macht dazugehört. Sollten all die genannten Punkte eintreffen, dürfte der europäische Pfeiler des transatlantischen Bündnisses erheblich gestärkt werden. Dies würde wiederum mehr US-amerikanische militärische Ressourcen freisetzen, die Washington nutzen könnte, um der Bedrohung durch China im indopazifischen Raum zu begegnen. Dennoch bleibt es unwahrscheinlich, dass Europa sich allein gegen eine größere Bedrohung von außen verteidigen kann.

Obwohl sich die USA als antikoloniale Macht verstehen, verfügen sie mit der NATO über ein „Imperium auf Einladung“, wie es der Historiker Geir Lundestad ausdrückt. Zur Erläuterung seiner Verwendung des Begriffs „Imperium“ zitiert er den ehemaligen Nationalen Sicherheitsberater der USA Zbigniew Brzezinski, der dem Wort eher eine deskriptive als normative Rolle zuschreibt. Das antiimperiale amerikanische Imperium ist hegemonialer veranlagt als das europäische, aber dennoch weitaus weniger hegemonial als früher. Wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wiederholt demonstriert hat – und auch Scholz auf seine Weise –, können die USA anderen NATO-Mitgliedern nicht einfach sagen, was sie zu tun haben. Damit hat auch das westliche Bündnis einen glaubwürdigen Anspruch darauf, als eine Art konsensbasiertes Imperium zu fungieren.

Man kann es mit der Sprache des Imperiums natürlich übertreiben. Vergleicht man EU und NATO mit früheren Imperien, zeigen sich Unterschiede, die so markant und interessant sind wie die Gemeinsamkeiten. Politisch gesehen werden sich weder die EU noch die USA jemals als Imperium präsentieren – und wären damit auch nicht gut beraten. Aus analytischer Sicht lohnt jedoch die Feststellung, dass es in der Welt des 21. Jahrhunderts noch immer Imperien gibt, und dass die Welt neue Arten von Imperien braucht, um ihnen die Stirn zu bieten. Ob es Europa gelingt, ein liberales Imperium zu schaffen, das stark genug ist, die europäischen Interessen und Werte zu verteidigen, wird – wie so oft in der Geschichte – abhängen von den Umständen der Zeit, von Glück, kollektivem Willen und Führungspersönlichkeiten.

Hier kommt also die überraschende Zukunftsperspektive, die uns der Krieg in der Ukraine offenbart: eine EU als postimperiales Imperium, das in strategischer Partnerschaft mit einem amerikanischen postimperialen Imperium in der Lage sein soll, das Comeback eines untergehenden russischen Imperiums zu verhindern und ein aufstrebendes chinesisches Imperium in Schach zu halten.



Aus dem Englischen von Kai Schnier

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 98-105

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Themen und Regionen

Timothy Garton Ash ist Professor für Europastudien in Oxford und Senior Fellow der Hoover Institution an der Stanford University. Dieser Essay, der in der Mai/Juni-Ausgabe von Foreign Affairs erschien, stützt sich auf sein Buch „Europa. Eine persönliche Geschichte“.

 

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