Titelthema

26. Juni 2023

Das neue Risikobewusstsein

Russlands Angriffskrieg hat einen Meinungsumschwung in der deutschen Öffentlichkeit bewirkt. Insgesamt zeigen die Umfragezahlen, dass die öffentliche Meinung kein Bremsklotz bei außen- und sicherheitspolitischen Veränderungen ist.

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Bild: Friedensdemonstration zu Beginn des Ukraine-Krieges in Berlin
Mit Beginn der russischen Invasion verschoben sich die Meinungen. Eine Mehrheit war nun dafür, dem Opfer des Krieges auch mit Waffenlieferungen zu helfen: Großdemonstration in Berlin am 27. Februar 2022.
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Bundeskanzler Olaf Scholz hatte seine historische Rede noch gar nicht gehalten. Aber eine gute Woche vor Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 war die Zeitenwende in meinem Berliner Corona-Testzentrum schon angekommen. Ich war dort, um für die unter Pandemiebedingungen stattfindende Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) noch einen PCR-Test machen zu lassen. Dass der drohende Krieg das bestimmende Thema in München sein würde, war offensichtlich. Dass das auch für das Testzentrum galt, überraschte mich. Aber der Mitarbeiter, der die Tests durchführte, fragte tatsächlich jede Person, die durch die Tür kam, ob sie glaube, dass Russland die Ukraine angreifen werde.



Wenige Tage später waren Fragen von Krieg und Frieden auf einmal so präsent in der Gesellschaft, dass Eltern auf einmal ihren Kitakindern vermitteln mussten, warum ein gewisser Putin einen Krieg gegen die Ukraine führt und was das alles bedeutet. Seither sind die Zeitungen, Radiosendungen und Talkshows nahezu dominiert von außen- und sicherheitspolitischen Themen. Und das Interesse scheint anzuhalten.



Aber was genau hat sich seit dem Fe­bruar 2022 verändert? Gibt es auch so etwas wie eine Zeitenwende in der deutschen öffentlichen Meinung? Für eine definitive Antwort ist es noch zu früh. Wie verschiedene Meinungsumfragen aber nahelegen, hat die russische Invasion von 2022 – anders als frühere außenpolitische Weckrufe – zumindest zu einer veränderten Wahrnehmung von Risiken geführt.



Daten aus dem Munich Security Index, den die MSC jedes Jahr mit einem Team von Umfrage­experten der Kommunikationsagentur Kekst CNC erstellt, zeigen, wie stark sich die Risikowahrnehmungen der Deutschen unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs verschoben haben. Der neueste repräsentative Index unterscheidet sich deutlich von den Ausgaben früherer Jahre. Er basiert auf Daten, die im Oktober und November 2022 erhoben und im Munich Security Report 2023 veröffentlicht wurden.



Die Befragten nehmen Russland als größtes Risiko wahr – mit einem Indexwert von 78 auf einer Skala von 1 bis 100. Dieser Wert ist seit November 2021 um 25 Punkte gestiegen; im November 2020 lag Russland mit einem Wert von 53 noch auf Platz 18 der Risiken. Gemeinsam mit dem Indexwert für das Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen durch einen Aggressor ist dies die größte Steigerung unter den 32 abgefragten Risiken. Auch die Indexwerte für die Risiken eines Einsatzes biologischer (+20) und chemischer (+20) Waffen durch einen Aggressor, einer Wirtschafts- und Finanzkrise im eigenen Land (+18) oder einer Nahrungsmittelknappheit (+18) verzeichnen außergewöhnlich hohe Steigerungen – allesamt nachvollziehbare Reaktionen auf die Nachrichtenlage.



Gleichzeitig gibt es nur wenige Risiken, deren Bewertung deutlich gesunken ist. Mit Ausnahme der Corona-Pandemie (-29) bleiben die meisten Risiken auf einem ähnlichen Niveau wie in den Vorjahren. Da die in den vergangenen Jahren dominierenden Umwelt- und Klimarisiken nur unwesentlich geringer eingeschätzt werden, spiegelt der neue Index das neue Risikoempfinden der Bevölkerung wider, die sich weiterhin massiven nichttraditionellen Sicherheitsrisiken gegenübersieht, nun aber auch mit der Rückkehr klassischer militärischer Bedrohungen zu kämpfen hat. Auch das erscheint angesichts der klimapolitischen Herausforderungen, die sich bereits heute täglich in Nachrichtenmeldungen niederschlagen, nur allzu nachvollziehbar.

Angesichts der vorherrschenden, deutlich erhöhten Risikowahrnehmung ist es nicht überraschend, dass nur 12 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen, dass die Welt in einem Jahrzehnt sicherer sein wird; eine Mehrheit (55 Prozent) widerspricht. Damit sind die Deutschen auch im internationalen Vergleich pessimistisch.



Zwei Drittel sehen eine Zeitenwende

Die Zeitenwende schlägt sich also deutlich in veränderten Risikowahrnehmungen der Bevölkerung nieder. Fragt man direkt nach der Bedeutung der russischen Invasion, stimmen etwa zwei Drittel der Deutschen der Aussage zu, dass die russische Invasion der Ukraine eine Zeitenwende für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik markiert. Weniger als ein Zehntel der Befragten widerspricht.



Zwar wird der russische Angriffskrieg auch in anderen Ländern als weltpolitischer Wendepunkt begriffen. In Deutschland aber geht die Erschütterung besonders tief, hatte man es sich doch besonders gut in den Bedingungen der „Post-Cold War Era“ eingerichtet. Diese durch viele sehr positive Entwicklungen geprägte Epoche ist vermutlich besser als eine weltpolitische Ausnahmephase zu verstehen.



Umso krasser ist die Wahrnehmung eines echten Epochenbruchs in Deutschland. Oder wie es Bundeskanzler Scholz im Bundestag formulierte: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Interessanterweise besteht auch über die Parteigrenzen hinweg weitgehende Einigkeit, dass sich derzeit grundsätzliche Rahmenbedingungen verschieben. Nur bei den Anhängerinnen und Anhängern der AfD ist immerhin etwa ein Fünftel (19 Prozent) der Auffassung, dass der russische Einmarsch keine Zeitenwende für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet.



Was aber folgt aus diesem weitgehenden Konsens, dass die Welt nach der russischen Aggression eine andere ist? Dass die Bevölkerung eine Zeitenwende wahrnimmt, muss schließlich nicht unbedingt heißen, dass eine Mehrheit nun auch bereit ist, über die Anpassung der finanziellen Mittel oder der außenpolitischen Instrumente nachzudenken. In der Vergangenheit haben führende Politikerinnen und Politiker immer wieder darauf verwiesen, dass die Bevölkerung gewisse Entscheidungen nicht mittragen werde. So seien deutliche Steigerungen im Verteidigungshaushalt nicht vermittelbar. Die Deutschen seien generell pazifistisch und wollten am liebsten in Ruhe gelassen werden.



Diese Behauptungen waren schon lange fragwürdig. Aber die vergangenen anderthalb Jahre haben nun bewiesen, dass die Bevölkerung durchaus bereit ist, auch deutliche Veränderungen in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik mitzutragen, wenn die Entscheidungen von der Politik erklärt und begründet werden. Viele der seit Kriegsbeginn getroffenen Entscheidungen wären noch 2021 als vollkommen unrealistisch abgetan worden.



Vorher Undenkbares ist nun möglich

Nehmen wir nur die weitreichende, wenn auch nicht grenzenlose Unterstützung für Waffenlieferungen an die Ukraine. Noch wenige Wochen vor Kriegsbeginn zeigte sich die Bevölkerung in Umfragen sehr zurückhaltend – genau wie die politische Elite. Führende Politikerinnen und Politiker verstiegen sich in absurden Rechtfertigungen, die deutsche Geschichte stehe Waffenlieferungen entgegen. Ein Ergebnis waren die bald zum Symbol für eine aus der Zeit gefallene Sicherheitspolitik ge­wordenen 5000 Schutzhelme, die man der ukrainischen Armee überlassen wollte.



Doch kurz nach Kriegsbeginn hatten sich die Zahlen umgedreht, und die deutsche Bevölkerung war nun mehrheitlich der Auffassung, es sei richtig, das Opfer des Krieges auch mit Waffen zu unterstützen. Heute gehört Deutschland zu den wichtigsten militärischen Unterstützern der Ukraine – weit hinter den USA, aber auch mit weitem Abstand vor den meisten anderen europäischen Ländern. Wenngleich eine kleine und laute Minderheit immer wieder ihren Protest kundtut, wird diese Politik von einem breiten Konsens in der Gesellschaft getragen.



Die Bereitschaft, frühere Positionen infrage zu stellen, zeigte sich vor allem bei den besonders heiklen Debatten. So legten die Umfragedaten schon lange vor der Entscheidung der Bundesregierung nahe, dass die Bevölkerung eine Lieferung deutscher Leopard-Panzer zumindest nicht grundsätzlich ablehnte. Unterstützer und Gegner hielten sich, mit leichten Verschiebungen je nach Datum und Fragestellung der Umfrage, doch meist die Waage – und das, obwohl die Bundesregierung sich überwiegend ablehnend zeigte und vor allem über die drohenden Risiken einer Lieferung sprach. Sobald Bundeskanzler Scholz nach Verhandlungen mit US-Präsident Joe Biden aber seine Entscheidung verkündet hatte, zeigte sich auch in den Umfragen eine klare Mehrheit für die Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart. Selbst die seit Jahren umstrittene Beschaffung eines Nachfolgers für die Tornado-Kampfjets ging nahezu geräuschlos über die Bühne – sogar mit dem Kauf des modernsten Flugzeugs für diese Aufgabe, der amerikanischen F-35, die auf Dauer Deutschlands Beitrag zur nuklearen Teilhabe der NATO sichern soll. Die Bevölkerung scheint also nicht der Bremsblock der deutschen Sicherheitspolitik zu sein, zu dem sie bis heute manchmal erklärt wird.



Wie weitreichend ist der Wandel?

Gleichwohl heißt das nicht, dass sich die generellen Einstellungen zur Außenpolitik deutlich und dauerhaft verändern und die Deutschen auf einmal so „ticken“ wie Amerikaner, Briten, Franzosen oder auch Deutschlands Nachbarn in Mittel- und Osteuropa. Zwar hat sich die deutsche öffentliche Meinung in Bezug auf den Umgang mit Russland deutlich verschoben und unterscheidet sich nun kaum noch von anderen G7-Staaten. Während sich die Deutschen noch 2021 deutlich zurückhaltender zeigten, sind sie heute – ähnlich wie die Befragten in den anderen G7-Staaten – stärker bereit, sich ökonomisch und militärisch gegen Russland zu wenden. In der Debatte ist das lange vorherrschende Mantra, dass es Sicherheit in Europa nur mit Russland und nicht gegen Russland geben könne, der Aussage gewichen, dass es Deutschland und Europa heute „nicht um Sicherheit mit Putins Russland, sondern um Sicherheit vor Putins Russland“ gehen müsse, wie es Außenministerin Annalena Baerbock formuliert hat. Weniger als ein Fünftel (19 Prozent) der Befragten widerspricht der Aussage, dass Sicherheit in Europa nicht (mehr) mit, sondern nur gegen Russland geschaffen werden kann. Das heißt allerdings nicht, dass sich eine deutliche Mehrheit der Deutschen mit der Aussage wohlfühlen würde. Zwar stimmen 47 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Sicherheit nur gegen Russland geschaffen werden könne. Ein Drittel aber mag weder zustimmen noch widersprechen.



Mit Blick auf China zeigt sich, dass die Deutschen zwar kritischer geworden sind, beim Umgang mit Peking aber (wie auch die Franzosen und Italiener) weiterhin deutlich zurückhaltender als die Befragten in den anderen G7-Staaten sind. Allerdings geben viele an, dass sie seit Russlands Krieg auch anders auf China schauen. Hier ist einiges in Bewegung geraten, und bei vielen grundsätzlichen Fragen scheint die Bevölkerung noch auf der Suche nach der richtigen Antwort zu sein. Bei einigen Fragen scheuen viele eine klare Antwort, entscheiden sich stattdessen für „weiß nicht“ oder allenfalls dafür, dass sie „eher“ für dies oder jenes seien. Wer wollte es den Befragten verdenken? Der Politik geht es schließlich nicht anders.



Die außenpolitische Debatte nach dem Ende der alten Gewissheiten, die die deutsche Außenpolitik nach der Wiedervereinigung prägten, hat jedenfalls erst begonnen. Sie ist nötig, weil wir uns bislang in erster Linie mit den Symptomen der neuen Zeit, weniger mit ihren Ursachen beschäftigt haben. Die Zeitenwende hält aber sehr grundsätzliche Herausforderungen bereit. Dass Außenpolitik heutzutage alle angeht und fast alles betrifft, ist eine Binsenweisheit – aber eine, deren Bedeutung gerade erst wirklich verstanden wird. Das Interesse, sich stärker als zuvor mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen auseinanderzusetzen, wie es sich auch im Rahmen der „Zeitenwende on tour“ zeigt, scheint jedenfalls in der Bevölkerung zugenommen zu haben. Das ist eine gute Voraussetzung für eine aufgeklärte Debatte – und für die notwendigen Anpassungen an eine veränderte sicherheitspolitische Lage, die Deutschland noch einiges abverlangen werden.



Es mag sich erweisen, dass die durch den russischen Krieg ausgelösten Veränderungen als Reaktion auf ein spezifisches Ereignis eher von kurzer Dauer sind. Die bislang sichtbaren Verschiebungen in der öffentlichen Meinung suggerieren aber zumindest, dass sich die deutsche Politik in der Vergangenheit manchmal zu sehr hinter dem Argument versteckt hat, gewisse Entscheidungen seien der Bevölkerung grundsätzlich nicht vermittelbar. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die größten Widerstände gegen eine Neuausrichtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik eher im politischen ­Establishment zu finden sind.



Mitunter mag die Bevölkerung für bestimmte Entwicklungen sogar einen besseren Riecher haben als die Berliner Politikszene. Im Covid-Testzentrum war die Meinung eine Woche vor Kriegsbeginn jedenfalls geteilt. Der Mitarbeiter sagte mir zwar, die Menschen seien in den Tagen zuvor wieder etwas optimistischer geworden, aber etwa die Hälfte sei ziemlich durchgängig der Meinung, Putin werde den Befehl zum Angriff geben. Zumindest diese Hälfte war vielen in der deutschen Politik deutlich voraus.

 

Die im Artikel genannten Zahlen entstammen einer repräsentativen Umfrage für den Munich Security Index, die Kekst CNC im Oktober und November 2022 durchgeführt hat. Weiter­e Informationen unter: www.securityconference.org

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 15-19

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Dr. Tobias Bunde ist Director of Research and Policy der Münchner Sicherheitskonferenz.