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01. Sep 2012

Das Ende der Union, wie wir sie kennen

… und der Anfang einer neuen: Die Debatte ist eröffnet

Die EU steht vor einer Art Neugründung, mit bis jetzt ungewissem Ausgang. Die Diskussion darüber, wie das Ergebnis aussehen wird, ist entfacht. Dass sie kontroverser als früher ausgetragen wird, ist im Grunde ein gutes Zeichen. Denn die neue Union wird in einer neuen Debattenkultur, in Wahlen und Abstimmungen entstehen – oder sie wird scheitern.

Fast das Beste an der Euro-Krise ist die Verwirrung. Und das ist durchaus nicht zynisch gemeint. Verwirrung ruft nach Debatte, nach einer Perspektive. Sie zwingt, die Gedanken zu sortieren. Dies sind gewiss keine Zeiten für träge oder verzagte Geister.

Warum aber Verwirrung, und vor allem: worüber? Innerhalb weniger Jahre hat die Euro-Krise das Verständnis von dem, was wir seit Maastricht Anfang der neunziger Jahre „Europäische Union“ nennen, aus den Angeln gehoben. Das europäische Versprechen ist brüchig geworden. Offenbar funktioniert die EU nicht so, wie man uns in der Europa-Rhetorik der vergangenen Jahrzehnte hat glauben machen wollen: Die EU als Friedensprojekt, als Wohlstandsbringerin für alle, als Garantie für Sicherheit in Freiheit, als Bollwerk gegen die dunklen Seiten der Globalisierung und als Flügel für ihre Chancen. Jetzt sind ihr Zusammenhalt und ihre Währung, sind der Wohlstand und der soziale Frieden ihrer Mitglieder in Gefahr – und damit auch das internationale Ansehen und Gewicht, das sich die Staaten Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erarbeitet haben. Wie konnte es so weit kommen? Für die EU-Länder und ihre Bürger war diese Erfahrung ein Schock.

Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis man diesen Schock in den Brüsseler Institutionen und in Europas Hauptstädten verdaut hatte und einander zugestehen konnte: So kann es nicht weitergehen. Inzwischen streiten die Euro-Länder nicht mehr lediglich um Ad-hoc-Maßnahmen, um die Verwundbarkeiten der Euro-Zone zu glätten. In den Hauptstädten der Euro-Länder wird inzwischen „groß“ gedacht: Der Weg, die Union als solche zu retten, führe über grundlegende Veränderungen und die Schaffung einer „echten“ Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die demokratisch untermauert werden müsse.

Eine Art Neugründung

Die EU steht damit vor einer Art Neugründung – mit bis jetzt ungewissem Ausgang. Wir wissen nur, dass am Ende des Prozesses eine neue Union stehen wird; doch wie sie aussehen wird, lässt sich bisher nur in Konturen erahnen.

So haben die Euro-Länder beispielsweise auf dem Gipfel Ende Juni 2012 eine Vorlage des EU-Ratspräsidenten sehr kontrovers diskutiert, den dieser in Abstimmung mit den Präsidenten der Kommission, der Euro-Gruppe und der Europäischen Zentralbank (EZB) vorgelegt hatte. Darin werden vier Bausteine für eine „echte“ Wirtschafts- und Währungsunion genannt: ein integrierter Finanz-, Haushalts- und wirtschaftspolitischer Rahmen sowie „mehr demokratische Legitimität und verstärkte Rechenschaftspflicht“.1

In eine ähnliche Richtung dürfte es wohl ungefähr gehen. Der Weg zur „neuen“ EU aber ist weit, und er ist vor allem politisch kaum zu kontrollieren. Mit voller Wucht könnte in den kommenden Monaten der Frust einer wachsenden Anzahl von Wählern über Europas Regierende hereinbrechen. Lassen sich mit dem Euro Wahlen gewinnen?

Für viele, denen die Hängepartie bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch in lebhafter Erinnerung ist, mag es wie ein Alptraum klingen: Eine neue Grundsatzdebatte zur EU in der Art, wie sie seinerzeit in Deutschland der Artikel 146 des Grundgesetzes aufgeworfen hatte, und damit die Frage, ob nicht die Bürger über die zu erwartende Vertiefung der Integration in einem Referendum abstimmen müssten.

Angesichts der ohnehin schon sehr schwierigen Gestaltungsaufgabe wünscht man sich die Bürger in vielen Hauptstädten derzeit vermutlich auf den Mond. Die Angst geht um vor einer neuen Stufe der europäischen Einigung, die in Europas Demokra­tien nicht ohne den Bürger, aber auch nicht so einfach mit ihm zu organisieren ist.

Die Europa-Debatte aber ist längst entfesselt und lässt sich nicht mehr stoppen. Und das ist gut so. Sie rollt, und das ganz ohne künstlich aufgesetzte Konsultationsprozesse (wie noch im Rahmen des Europa-Konvents zum Verfassungsentwurf 2002/03), ohne einen „Plan D“ (eine Initiative der EU-Kommission für mehr Dialog nach den negativen Verfassungsreferenden 2005) und ohne all die anderen künstlich daherkommenden und von oben organisierten Maßnahmen der vergangenen Jahre, mit deren Hilfe man den Bürger im Integrationsprozess „mitzunehmen“ trachtete.

Alles scheint möglich

Die Debatte über den Euro und die Zukunft der EU ist inzwischen vielgestaltiger als je zuvor. Sie zeigt erste transnationale Züge. Bundeskanzlerin Angela Merkel war im Februar 2012 im ersten gemeinsamen TV-Interview von ZDF und France 2 mit Noch-Präsident Nicolas Sarkozy zu sehen.2 SPD-Parteichef Sigmar Gabriel und der damalige Präsidentschaftskandidat François Hollande konterten mit einem gemeinsamen Zeitungs­interview von FAZ und Libé­ration.3

Die Debatte beschränkt sich aber nicht auf Regierungen, Parlamente und Verfassungsgerichte. Parteien und Verbände, Vertreter der Zivilgesellschaft, Wissenschaftler, Journalisten, Idealisten und Europhobe, Künstler und Denker streiten, polemisieren und polarisieren über Europa. Und auch fast jeder Normalbürger hat inzwischen eine Meinung zur EU. Die Debatte findet nicht mehr nur in den klassischen Medien, sondern auch in sozialen Netzwerken und über den Informationsdienst Twitter statt.

Die Rolle Deutschlands in der Euro-Krise wird in der ganzen EU diskutiert, nicht selten hochemotional.4 In Deutschland wird ein Buch zum Bestseller, das den Euro in Frage stellt. Die Grenzen der alten konsensualen Europa-Debatte werden überschritten. Auf einmal scheint alles möglich zu sein.  

Kein Wunder, sollte man meinen, völlig normal und im Grunde auch wünschenswert – bei einem Vorhaben von derartiger Tragweite für die Staaten und Bürger Europas. Der Grund dafür, dass alle diejenigen, die die EU weiterentwickeln wollen, jetzt ein mulmiges Gefühl beschleicht, hat auch damit zu tun, dass sich im Reden über die EU noch nicht eingependelt hat, was erlaubt ist und was nicht. Wann ist der Tabubruch erreicht? Wo endet die Meinungsfreiheit (etwa, wenn faktische Unwahrheiten verbreitet werden)? Wie de­finieren Politik und Gesellschaft in der EU für sich neu, wo die Grenzen liegen sollen?

Moralkeule gegen Detailfragen

Und überall bleibt immer auch ein Rest Verwirrung. Alte, lieb gewonnene Begrifflichkeiten, die bis vor kurzem die unübersichtliche Europäische Union, ihre Ziele und Werte, ihre In­stitutionen und Politiken vereinfacht umschrieben und so eine bindende Kraft entfalteten, haben im Zuge der Krise der vergangenen zweieinhalb Jahre ihre Ordnungs- und Bindungsfunktion verloren. „Solidarität“ – das ist für viele Bürger inzwischen Synonym für „mein Steuergeld an korrupte Politikerdynastien in Griechenland“. Oder „Die EU als Friedensprojekt“: Das klingt fast verdächtig; als schwinge die Politik die Moralkeule, um kritische Detailfragen gleich vom Tisch zu fegen.

Die alten Erklärungen der EU greifen heute immer weniger. Und den derzeitigen Zustand des Übergangs zu fassen, zu beschreiben und zu erklären fällt der Politik schwer. Das hat nicht ausschließlich mit der Komplexität der Sachverhalte zu tun, die sich zudem in hohem Tempo verändern. Es gründet sich auch auf die Tatsache, dass die Europa-Debatte lange Zeit auf Expertenzirkel begrenzt war, die sich ein­geübter Begriffe und einer Art „EU-­Geheimsprache“ bedienten. Diese Geheimsprache entnahmen wir Experten den europäischen Verträgen, deren Urheber (die Nationalstaaten) peinlich genau darauf achteten, eine Sprache für die Union zu entwickeln, die sich nicht an den nationalen Sprachgebrauch anlehnte. Die Union sollte eben kein Superstaat sein. In Expertenzirkeln funktionierte diese Sprache leidlich – für eine breite Öffentlichkeit aber taugte sie nie.

Die Politik steht jetzt vor der Herausforderung, dass sie den Bürgern erklären muss, wohin sie will mit der EU – während den Bürgern oft nicht einmal klar ist, wo sie denn herkommt. Ein doppeltes Erklärungsproblem für die Politik, das zeitraubend ist. Für Nachfragen ist aber eigentlich zu wenig Zeit. Unter anderem auch deshalb rettet sich die Politik weiter in Allgemeinplätze („mehr Europa“, „echte“ Währungsunion) und merkt erst langsam, dass diese Begriffe nicht mehr kritiklos angenommen werden.

Selbst Teilen der politischen und wissenschaftlichen Elite ist inzwischen die Orientierung in der Debatte verlorengegangen (von der Substanz der Politik mal ganz abgesehen). Ein Beispiel: Wann immer in den neunziger Jahren die Forderung nach „mehr Europa“ aufkam, war für Eingeweihte zumindest prozedural weitgehend umrissen, was dann folgen sollte – ein gemeinsamer Schritt der EU-Mitglieder hin zu mehr supranationaler In­tegration oder intergouvernementaler Zusammenarbeit, begleitet von Debatten darüber, ob die Regierungen und Völker Europas bereit sind für neue Integrationsschritte. Abgefedert wurde das durch das eine oder andere Zugeständnis von partiellen „opt-outs“ und beschlossen durch einstimmige Änderungen an den europäischen Grundlagenverträgen. Letzteres freilich war in der jüngeren Vergangenheit immer schwerer in nationalen parlamentarischen Ratifizierungen und durch Referenden durchzubringen. Die Folie, vor der sich dieses Verständnis geformt hatte, war die Entwicklung der europäischen Grundlagenverträge seit der Einheitlichen Europäischen Akte im Rahmen von Regierungskonferenzen, die sich im Laufe der neunziger Jahre mit Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon multipliziert hatten.

„Mehr Europa“ – was immer das ist

Wenn dagegen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Politiker in der gesamten EU heute von „mehr Europa“, „more Europe“ und „plus d’Europe“ reden, dann ist längst nicht mehr so klar, was sie meinen: eine neue Stufe der Integration auf der Grundlage der europäischen Verträge im oben beschriebenen Verfahren, mit einer starken Rolle der EU-Institutionen und der nationalen ­Parlamente?

Ein völkerrechtlicher Vertrag außerhalb der bestehenden Verträge, dessen Verhältnis zum geltenden EU-Recht wohlwollend formuliert auslegungsbedürftig bleibt – ein Vertrag, an dem sich unter Umständen nicht alle EU-Länder beteiligen und der vielleicht erneut im Schweinsgalopp durch die Parlamente gepeitscht wird, sodass die Abgeordneten nicht mit­entscheiden können, was „mehr Europa“ in der Substanz heißen soll? Eine lose, unter dem Druck der Finanzmärkte ad hoc von den „Großen“ (üblicherweise Deutschland und Frankreich, inzwischen erweitert um Italien und Spanien) gezimmerte Zusammenarbeit, die nicht nur die kleinen Mitgliedstaaten benachteiligt, sondern auch das Europäische Parlament ins Abseits bringt?

Angesichts der Tragweite der zu verhandelnden Entscheidungen auf dem Weg zu einer neuen Währungsunion kann die Begrifflichkeit eines „mehr Europa“ bei all denen, die sich potenziell als Verlierer in diesem Prozess sehen, nur als Kampfansage verstanden werden. Sie wird Misstrauen, Verzögerungen im Entscheidungsprozess oder gar Blockaden auslösen. Mal ganz abgesehen von der Ablehnung aus der wachsenden Gruppe derer, die auf keinen Fall „mehr Europa“ wollen. Das sind klassischerweise unter den EU-Ländern die Briten, die in den vergangenen Monaten auf beispiellose Distanz zur EU gegangen sind. Aber auch in anderen EU-Ländern wächst das Lager der Skeptiker, die nicht selten in Parteien des rechten Randes zu finden sind.

Und in Deutschland erscheint der positive Grundkonsens zur EU zwar solide. Aber es ist auch hierzulande inzwischen leicht, am Beispiel Griechenland Stimmung gegen die Union zu machen. Wer in der aktuellen Debatte „mehr Europa“ fordert, muss präzisieren, was gemeint ist – darauf zielte die Mahnung von Bundespräsident Joachim Gauck im ZDF-Sommer­interview ab. Und „mehr ­Europa“ kann zum jetzigen Zeitpunkt tatsächlich vieles heißen – was als Bereicherung für die Debatte und nicht als Bedrohung verstanden ­werden sollte.

Die EU auf eine neue Stufe heben

Die neue Union zu bauen bedeutet, das bereits jetzt hoch komplexe System der europäischen Währungsunion auf eine neue Stufe zu heben und diese demokratisch abzufedern – und das alles ohne Blaupause. Das verlangt allen Beteiligten in Brüssel und den Hauptstädten der Euro-Länder Großes ab.

Wenn, wie zu erwarten, nicht alle EU-Länder diesen Schritt mitgehen wollen oder können: Wie soll dann die demokratische Legitimation der neuen WWU organisiert werden? Müsste dann nicht letztlich eine Union in der Union mit eigenen Regeln parlamentarischer Beteiligung gegründet werden? Wäre das nicht auch das Ende der alten EU?

Sicher wird die alte EU in den kommenden Monaten und Jahren nicht völlig geschleift und dann auf dem Reißbrett neu entworfen. Dies wäre eine interessante Trockenübung, aber angesichts der Realitäten und Pfadabhängigkeiten wirklichkeitsfern. Dennoch dürfen die Architekten der neuen EU nicht den Fehler machen, sie zu stark in Kontinuitäten zu denken. Ein solcher Ansatz böte wenig Raum für kreatives Potenzial. Dieses Potenzial aber gilt es jetzt freizusetzen.

Dazu müssen auch die Grenzen der alten Europa-Debatte überwunden werden. Dabei ist die schematische Einordnung in „Proeuropäer“ und „Europa-Skeptiker/-Feinde“ ebenso wenig hilfreich wie das alte Freund-Feind-Denken, das deutsch-französischen Initiativen automatisch einen Vertrauensvorschuss gegenüber Debattenbeiträgen aus Großbritannien gibt.

Wo die Grenzen des Akzeptablen liegen, muss allerdings die Debatte selbst erweisen. Das nimmt vor allem diejenigen in die Pflicht, die sich lange auf den Allgemeinplätzen eines „pro Europa“ ausruhen konnten. Erst ohne die Schere im Kopf, die gerade in der stark normativen Europa-Debatte in Deutschland noch immer verbreitet ist, kann wieder eine Union entstehen, die breite Unterstützung findet und so ihr Versprechen von Frieden und Wohlstand einhalten kann. Die Union, wie wir sie heute kennen, entstand seit Maastricht in Hinterzimmern und durch Regierungsgesandte. Die neue Union wird in einer neuen Debattenkultur und in Wahlen und Abstimmungen entstehen – oder sie wird scheitern.

ALMUT MÖLLER ist Leiterin des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 52-57

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