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01. Aug. 2005

Das Ende der Übertreibungen

Deutschland braucht eine Außenpolitik des Ausgleichs

Die rot-grüne Außenpolitik ist seit 2002 auf Abwege geraten und nun vollends gescheitert. Der Blick für das Machbare ist ihr abhanden gekommen. Anbiederung an Frankreich, maßlose Amerika-Kritik, die Überdehnung der EU, der Absturz des zur Verfassung hochstilisierten neuen europäischen Vertrags und schließlich der Streit um den Sicherheitsratssitz – unprofessioneller geht kaum. Das Geheimnis erfolgreicher deutscher Außenpolitik heißt Ausgleich, Mäßigung und Vermittlung.

Vier Jahre hindurch, von 1998 bis in den Juli 2002, hat die Regierung Gerhard Schröders eine alles in allem maßvolle Außen- und Europa-Politik betrieben. Einige Akzente waren neu. Dennoch dominierte die Kontinuität.

Das änderte sich schlagartig im Juli und August 2002. Damals entdeckte Rot-Grün in den Nöten eines flatternden Wahlkampfs das große Wählerpotenzial pazifistischer Amerika-Kritik. So begann für drei Jahre die Phase der Übertreibungen: übertriebene, lange Zeit zu schrille Kritik an der Bush-Administration bei gleichzeitig übertriebener Satellitenrolle gegenüber Frankreich. Es gab noch eine weitere Übertreibung: Die auch bisher schon ziemlich uferlose Erweiterungspolitik wurde durch die Forcierung der Verhandlungen mit der Türkei über den Beitritt zur EU vollends überdreht. Schließlich ließ das Debakel des Verfassungsvertrags für Europa bei den Wählern in Frankreich und in den Niederlanden auch noch eine vierte Übertreibung erkennen: die forcierte Vertiefung der EU. Bundesaußenminister Fischer war einer der Chef-Architekten des ziemlich hybriden Versuchs gewesen, eine Vertragsänderung der EU zur Verfassung Europas emporzustilisieren.

Drei Jahre der Übertreibung sind keine allzu lange Zeit. Sollte die heutige Opposition tatsächlich im September 2005 ein Mandat zum Regieren erhalten, so würden sich die Übertreibungen der Amerika-Politik und der Frankreich-Politik ohne allzu großen Aufwand korrigieren lassen. Amerika ist vorerst kein großes Thema mehr und die deutsch-französische Kumpanei hat in die Sackgasse geführt.

Aller Voraussicht nach wird die im Frühjahr 2005 urplötzlich über die EU hereingebrochene Krise die Aufmerksamkeit einer neuen Bundesregierung, so sie denn kommt, vorrangig in Anspruch nehmen. Viele beklagen zwar den Ausgang der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden als eine große Tragödie. Paradoxerweise könnte aber eben dieses Debakel die ohnehin gebotene Kurskorrektur durch eine neue Bundesregierung erleichtern – auch in der Erweiterungs- und Vertiefungspolitik, wo überparteiliche Fehleinschätzungen viel zu lange den Blick für das Machbare getrübt haben.

Fassen wir also zuerst die weitreichenden Konsequenzen ins Auge, die sich aus dem Scheitern der Ratifikation des Verfassungsvertrags in den beiden Gründerstaaten der Sechsergemeinschaft ergeben. Anschließend ist zu skizzieren, welche Ansätze zur Neuorientierung sich bei der Opposition bereits abzeichnen und worauf vorrangig zu achten wäre.

Die unangenehmen Tatsachen

In Brüssel ist eine „Denkpause“ ausgerufen worden. Was lehrt also das Debakel des trotz massiver Regierungspropaganda von großen Wählermehrheiten in Frankreich und in den Niederlanden verworfenen Verfassungsvertrags für Europa, gefolgt vom Scheitern des EU-Krisengipfels? Die politische Klasse in Deutschland, und nicht nur hier, hat allerhand zu verdauen. Wer nicht von vornherein zur Selbsttäuschung entschlossen ist, macht eine Reihe recht unangenehmer Beobachtungen. Skizzieren wir die wichtigsten.

1. Das Institut des Konvents ist entzaubert. Dieses Gremium, das von Föderalisten aus dem Europäischen Parlament und aus den Mitgliedstaaten dominiert wurde, hat ein ganz beispielloses Exempel fehlenden Augenmaßes an den Tag gelegt. Der Areopag der 25 Regierungen ist ihm dabei gefolgt. Er hat einige Übertreibungen des großspurig als Verfassung präsentierten Vertrags zurechtgestutzt (besonders auf den Feldern der Sozialpolitik und der Außenpolitik), im Übrigen aber das hybride Produkt fehlenden Augenmaßes doch weitgehend passieren lassen. Die mit zu vielen Vorschusslorbeeren bedachte Konventsmethode und deren Betreiber sind stark diskreditiert, wahrscheinlich auf Dauer.

2. Ad absurdum geführt wurde auch die These, eine erhebliche Stärkung des Europäischen Parlaments würde von den Wählern als großer Fortschritt zur Demokratisierung des Projekts Europa begriffen werden. Keine Rede davon. Zwei Zahlen illustrieren diesen Sachverhalt. Im angeblich gut europäischen Frankreich haben sich im Jahr 2004 ganze 43 Prozent der Wähler an den Wahlen zum Europäischen Parlament beteiligt, in den Niederlanden sogar nur 39 Prozent. Demgegenüber brachten die Referenden über den Verfassungsvertrag in Frankreich fast 70 Prozent an die Urnen und in den Niederlanden 63 Prozent. Was immer auch die Motive für das Nein gewesen sein mögen – sicher ist, dass die Wähler ihren demokratischen Willen in erster Linie im eigenen Verfassungssystem artikulieren wollen. Mehr Macht für das Europäische Parlament vermittelt keinen Mehrwert an demokratischer Legitimität.

3. Zu den schönen Leichen der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden gehört auch das Konzept „Kerneuropa“. Deutschland, Italien und Belgien sagen Ja zum Verfassungsvertrag, Frankreich und die Niederlande sagen Nein, obschon ihre Regierungen nichts unversucht gelassen haben, die zornigen Wähler zu überzeugen. Offensichtlich ist die Heterogenität der national verfassten Demokratien nicht einmal in der alten Sechsergemeinschaft zu überwinden, die von 1950 bis 1972 in der Tat den Kern des Projekts Eu-ropa gebildet hat. Tempi passati …

4. Alle Umfragen beweisen, dass der kavaliersmäßige Leichtsinn aller Regierungen, der Brüsseler Bürokratien und des Europäischen Parlaments zur uferlosen Erweiterung der EU einen maßgeblichen Einfluß auf das Nein hatte. In einem Haus Europa, wo Tag und Nacht alle Türen offen stehen sollen, fühlen sich die Wähler nicht mehr wohl. Das ganz unbelehrbare Drängen zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei war gewissermaßen der Sargdeckel auf dem Verfassungsvertrag. Die lange Zeit tabuisierte Idee, Europa müsse und könne gleichzeitig erweitert und vertieft werden, hat sich als ein Konzept enthüllt, das den Bürgern nicht vermittelbar ist.

5. Im Europa der 25 Länder ist aber auch keine nennenswerte Vertiefung mehr möglich. Sollten die Regierungen die Lehren der beiden Referenden nicht verinnerlichen und einen neuen Vertrag riskieren, so würden sich auch in Zukunft immer wieder die Wähler in zwei oder drei Ländern finden, die aus guten oder weniger guten Gründen Nein sagen. Damit hat sich aber auch die zutiefst undemokratische Praxis erledigt, Wähler, wie seinerzeit die Dänen oder die Iren, die bereits einmal Nein gesagt haben, zur nochmaligen Abstimmung zu nötigen. Nachdem es niemand wagen kann und will, etwa Frankreich oder die Niederlande zur Wiederholung der Referenden oder zum Verlassen des Clubs aufzufordern, wird das künftig auch kleineren Club-Mitgliedern gegenüber unmöglich sein. Kleine institutionelle Verbesserungen der EU-Maschinerie ohne Vertragsnovellierungen sind nicht unmöglich. Große institutionelle Würfe sind nicht mehr drin.

6. Die EU wird also auf längere Zeit auf dem nicht übermäßig idealen Vertrag von Nizza festsitzen. Darunter müsste aber die weitere Ausgestaltung des europäischen Binnenmarkts nicht leiden. Auch für die Finanzen der EU wird sich früher oder später eine Lösung finden, sobald Frankreich in der Agrarpolitik und Großbritannien in der Rabattfrage zur Vernunft kommen. Der Vertrag von Nizza ist auch mit dem Europäischen Währungssystem kompatibel. Wenn der große Sünder Deutschland wieder zur Stabilitätspolitik zurückfindet, werden irgendwann auch Frankreich und Italien nachfolgen müssen, so dass auch der Euro mittelfristig nicht gefährdet ist.

7. Die Erwartungen, der Verfassungsvertrag werde einen großen Schritt vorwärts zur Gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik markieren, waren höchstwahrscheinlich überzogen. Diesem Irrtum zugrunde lag das von Rot-Grün im Gefolge von Chirac propagierte Konzept einer Weltmacht Europa (Europe puissance) – ein Phantasiegebilde französischen und deutschen Größenwahns. Die Vorstellung, hätte Europa nur einen eigenen Außenminister, dann könne es auch mit einer Stimme sprechen, ist reine Illusion. Dieser Kunstfigur bliebe auch künftig nichts anderes übrig, als dem Staatspräsidenten Frankreichs und dem britischen Premierminister hinterher zu fliegen. Größtmögliche außenpolitische Koordination der EU ist zwar weiterhin geboten, erscheint unter dem Vertrag von Nizza aber auch möglich. Dasselbe gilt für die Vorbereitung gemeinsamer Verteidigung für den aus heutiger Sicht unwahrscheinlichen Fall, dass die Legionen Amerikas nach Hause zurückkehren. Im Übrigen hätte man sich auch bei Annahme des Verfassungsvertrags darauf einstellen müssen, dass die größeren oder weniger großen EU-Länder in sehr kritischen Situationen ihre jeweils eigene Außen- und Sicherheitspolitik betreiben – Paradebeispiel ist die Irak-Politik der EU-Regierungen in den Jahren 2002 bis 2005.

8. Der Vertrag von Nizza steht aber auch den gebotenen Reformen des EU-Systems nicht im Wege. Eine Reduktion der atavistischen Agrarpolitik, die gegenwärtig 46 Prozent des EU-Budgets verschlingt, wäre nicht ausgeschlossen. Dasselbe gilt für das mittelfristige Umsteuern der Strukturpolitik, auf die weitere etwa 33 Prozent entfallen. Die heute gültige Vertragsbasis würde auch eine Beschränkung der Regelungswut der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments erlauben, die den Mitgliedsländern bisher 80 000 Seiten Papier beschert hat (der Acquis communautaire).

9. Die Rebellion der Wähler in Frankreich und in den Niederlanden hat es überdeutlich an den Tag gebracht: Die Staatsvölker der EU möchten das, was sie für wichtig halten, in erster Linie in den eigenen Demokratien entscheiden. Ob dies den EU-Regierungen, der EU-Kommission oder dem Europäischen Parlament gefällt oder nicht – das muss wohl oder übel akzeptiert werden, sonst bricht die EU auseinander. Diese ist zwar unentbehrlich, sie ist auch weiterhin lebensfähig – und sie ist schon längst über eine „Freihandelszone plus“ hinausgewachsen. Wer im Namen der „politischen Union“ einen Gegensatz zu einer „Freihandelszone plus“ konstruiert, schlägt auf einen Popanz ein. Die EU mit ihrer weitreichenden Politik- und Wirtschaftsverflechtung ist bereits im Vollsinn eine auf absehbare Zeit ziemlich irreversible politische Union. Wahr bleibt aber auch: Für die gewachsenen Staaten Europas und deren Staatsvölker kommt sie erst an zweiter Stelle. Unfreiwillig haben das übrigens sogar die EU-Regierungen auf dem von Nationalegoismen bestimmten Krisengipfel von Mitte Juni 2005 deutlich gemacht. Der Begriff „europäische Identität“ ist zwar schön, aber genauso unverbindlich und genauso schwammig wie der Begriff „Weltinnenpolitik“. Darauf lassen sich keine tragbaren Institutionen bauen, und Demokratien, in denen der Wähler etwas zu vermelden hat, schon gar nicht.

10. Wenn Europa vom Atlantik bis zum Ural und von Island bis zu den griechischen Inseln historisch einmalig ist, so dank der großen Vielfalt seiner Staaten und Völker. Der Versuch, diese Vielfalt in einem Quasi-Superstaat zu zentralisieren, ist genauso zum Scheitern verurteilt wie die einstigen hegemonialen Großmachtimperialismen Spaniens, Frankreichs und zuletzt Deutschlands. Die EU hat nur Zukunft, wenn sie sich wieder vernünftig dezentralisiert.

Das alles sind Beobachtungen, die den deutschen politischen Eliten im Grunde ärgerlich erscheinen. Erfahrungsgemäß dauert es seine Zeit, bis sich „altes Denken“ an die neuen Wirklichkeiten anpasst. Unnötig zu sagen, dass eine künftige Bundesregierung derartige Erkenntnisse, so sie sich denn dazu durchringt, nicht ins Regierungsprogramm schreiben wird. Doch wenn sie klug ist, wird sie diese einkalkulieren.

In der Mitte Europas: Wie kann es weitergehen? Wie soll es weitergehen?

In welchen Punkten sich eine neue Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP von der bisherigen Außen- und Europa-Politik absetzen würde, hat sich bereits seit 2002 gezeigt. Zuvor hatte die Bundesrepublik wieder einmal eine lange Phase überparteilicher Außen- und Europa-Politik erlebt. Dieser grundlegende außenpolitische Konsens ist während des Irak-Kriegs aus zwei Gründen partiell zerbrochen: wegen der einseitigen Anlehnung an das prononciert Amerika-kritische Frankreich und wegen der damit Hand in Hand gehenden überzogenen Abwendung von den USA. Die gemeinsame Europa-Politik – gleichzeitige Erweiterung und Vertiefung – hat diese Kontroversen zuerst überdauert. Die von Rot-Grün-Argumenten durchgeboxte Entscheidung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei hat dann bei der Opposition die Bereitschaft zur uferlosen Erweiterung beendet. Angela Merkels Konzept einer „privilegierten Partnerschaft“ ist auch von der FDP übernommen worden. Gegenwärtig zwingt das Debakel des europäischen Verfassungsvertrags dazu, auch die bisher gültige Grundlinie der Erweiterung zu überprüfen, ohne dass sich schon klare Vorstellungen erkennen lassen. Immerhin zeichnen sich bereits die Konturen einer neuen Außen- und Europa-Politik ab.

In der Beitrittsfrage hat sich die Opposition bereits festgelegt: keine Vollmitgliedschaft der Türkei. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ist wohl nicht mehr zu stoppen, wenn die bisherige Opposition tatsächlich ein Wählermandat erhält. Wieweit eine Regierung aus Union und FDP in entsprechenden Festlegungen in Bezug auf die „privilegierte Partnerschaft“ gehen kann und will, wird wohl auch davon abhängen, wie prominent die Thematik „Türkei-Beitritt“ im Wahlkampf figuriert.

Als Folge des Referendumdebakels sind auf den schon im Prinzip beschlossenen, aber terminlich konditionierten Beitritt Rumäniens und Bulgariens lange Schatten des Zweifels gefallen. Dieser wird sich um ein, zwei oder drei Jahre hinauszögern lassen. Aber die Konstruktion einer Endlosschleife verbietet sich.

Eine neue Bundesregierung würde also in gründliche Überlegungen über eine vertragliche Alternative zur uferlosen Erweiterungspolitik einzutreten haben. Die am 1. Mai 2004 vollzogene Erweiterung auf eine EU von 25 Mitgliedstaaten lehrt inzwischen, dass es geraume Zeit dauern wird, bis die große Osterweiterungsrunde der EU verkraftet sein wird – wirtschaftlich, institutionell, psychologisch, auch in puncto Außenpolitik der EU-Staaten. Für die Bürger ist eine EU mit 35 oder 40 Vollmitgliedern schon lange ein Albtraum; jetzt werden auch die Regierungen nachdenklich. Und selbst wenn die Regierungen auch künftig so kurzsichtig wie bisher wären, die EU als eine Art Vielfraß zu konstruieren, würden das die Wähler nicht länger tolerieren.

Es empfiehlt sich somit, die immer noch maßgebliche Kopenhagener Erklärung des Europäischen Rates vom 21./22. Juni 1993 etwas sorgfältiger als bisher zu studieren. Nach Auflistung der inzwischen hinlänglich bekannten Beitrittskriterien findet sich dort ein gravierender Vorbehalt: „Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Integration zu erhalten, stellt ebenfalls einen sowohl für die Union als auch für die Beitrittskandidaten wichtigen Gesichtspunkt dar.“ Selbst in diesem Dokument, auf das sich die Befürworter einer uferlosen Beitrittspolitik unablässig berufen, ist somit eine Beitrittsbremse eingebaut. Man müsste sich ihrer nur bedienen.

Bisher hat es die EU versäumt, für europäische Demokratien in assoziiertem Status, die beitreten möchten, ein Modell zu entwickeln, das mehr ist als der Assoziationsstatus und mehr als eine Zollunion, aber weniger als die Vollmitgliedschaft. Auch die CDU hat es bisher vermieden, ihr Modell der „privilegierten Partnerschaft“ zu substantiieren. Eine neue Bundesregierung käme also nicht umhin, ein entsprechendes Vertragsmodell zu entwickeln und dafür im Kreis der EU-Partner um Zustimmung zu werben.

Auch die außenpolitische Leitlinie einer neuen Bundesregierung, so es denn dazu kommt, zeichnet sich bereits ab. Sie wird gegenwärtig mit Stichworten wie Rolle eines „ehrlichen Maklers“, „Brückenfunktion Deutschlands“ oder „Außen- und Europa-Politik des Ausgleichs“ umschrieben. Gemeint ist eine Rückkehr zur geradezu klassischen Grundlinie des Ausgleichs, die seinerzeit von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, aber auch von vielen ihrer Vorgänger praktiziert wurde – dies nicht als Doktrin, sondern eher instinktiv. Also Ausgleich zwischen den schwer zu bündelnden Tendenzen in der EU, besonders zwischen Paris und London, Ausgleich auch zwischen den wohlhabenden Altmitgliedern der EU und den neuen Demokratien (erst im Rahmen der Süderweiterung, dann der Ost-erweiterung), Ausgleich aber auch mit Russland, Ausgleich auch zwischen den immer etwas hochmütigen Großen in der EU, Frankreich und Großbritannien zuvörderst, und den mittleren und kleinen Mitgliedern. Geostrategisch, wirtschaftsgeographisch, auch historisch liegt Deutschland nun einmal in der Mitte Europas. Eine Außen- und Integra-tionspolitik des allseitigen Ausgleichs ist diesem Land aufgegeben.

Eine Europa-Politik des Ausgleichs entspräche aber auch den Gegebenheiten in der EU der 25. Zwar steht hierzulande der Begriff Gleichgewichtspolitik unter Großmachtverdacht. Tatsächlich aber funktioniert die EU mit ihren rechtlich hochkomplizierten Regelwerken eben doch als ein sehr modernes Gleichgewichtssystem, in dem sich je nach den Regelungstatbeständen häufig andere Koalitionen bilden.

Weniger Chirac, mehr Blair und vor allem kein Übereifer

Wenn eine neue Bundesregierung gut beraten wäre, würde sie die Ablehnung des Verfassungsvertrags für Europa nicht allzu sehr bedauern. Sie kann das gescheiterte Projekt ohne Prestigeverlust abbuchen. Natürlich ist das Vertragswerk tot. Die Umfragen zeigen, dass auch das Herz der deutschen Wähler nicht an dem verunglückten Projekt hängt. Wenn sich der Staub gelegt hat, wird sich manches Vernünftige ohne großen Lärm durch Regierungsvereinbarungen regeln lassen. Ob wirklich Bedarf besteht, Javier Solana oder einen seiner Nachfolger mit dem Titel Außenminister zu schmücken, was wohl durch bloße Regierungsvereinbarung möglich wäre, ist indessen zu fragen. Und dass der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes nicht durch ein EU-Grundrechtssystem überlagert wurde, ist nur zu begrüßen.

Auch das Scheitern der Verhandlungen über das EU-Budget 2007 bis 2013 ist alles andere als eine Tragödie. Seit Errichtung der EWG, also immerhin schon seit bald 50 Jahren, weiß man, dass sich die Kämpfer in Brüssel irgendwann und irgendwie einigen. Die Einigung wird allerdings dadurch erschwert, dass die Bundesrepublik nicht mehr in den Spendierhosen herumlaufen kann. Das wird auch für die neue Bundesregierung gelten. Berlin ergeht es heute wie den Briten Mitte der achtziger Jahre, als Frau Thatcher ihren berühmten Rabatt errungen hat. Nun wollen und müssen die Deutschen von überzogenen Verpflichtungen herunterkommen. 1988 lag die Bundesrepublik mit ihrem Pro-Kopf-Einkommen an der Spitze der EG-Länder, 1995 war sie bereits auf Platz 6 abgerutscht, 2003 lag sie hinter Irland, Großbritannien, Österreich, Finnland und Frankreich knapp auf Platz 11. Doch auch die gebotene deutsche Sparsamkeit wird die EU nicht verderben lassen.

Wie des Öfteren schon in der über ein halbes Jahrhundert andauernden Geschichte der europäischen Integration ist Frankreich gegenwärtig ein Hauptproblem für eine Politik des geduldigen Ausgleichs. Abrupte und kränkende Kurswechsel verbieten sich zwar von selbst. Doch eine gewisse Distanzierung ist geboten und hat schon begonnen. In der Türkei-Frage, in der sich Staatspräsident Chirac zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler zu beider Schaden über die Maßen engagiert hat, sind CDU/CSU und FDP schon seit längerem auf Gegenkurs gegangen. Kürzlich hat die Kanzlerkandidatin der CDU signalisiert, dass sie auch für das hartnäckige Festhalten von Paris an der Agrarfinanzierung wenig Verständnis hat.

Aller Voraussicht nach sind die Tage des Präsidenten Chirac gezählt. Er steht für eine verfehlte Europa-Politik, an die sich Deutschland unüberlegt angehängt hat: arrogant gegenüber den ostmitteleuropäischen Beitrittsländern, auf das veraltete Konzept eines informellen französisch-deutschen Direktoriums in der EU fixiert, nationalegoistisch auf verschiedensten Feldern der Wirtschafts- und Währungspolitik, ganz besonders in Bezug auf den Euro, von Großmachtphantasien getrieben, wobei die EU nur als Vehikel unerfüllbarer französischer Weltmachtansprüche dienen soll, und mit einem ganz erstaunlichen Mangel an Fingerspitzengefühl in der Frage des EU-Verfassungsvertrags geschlagen. Selten hat sich ein deutscher Bundeskanzler einen problematischeren Kompagnon ausgesucht. Das Konzept des Tandems Paris-Berlin, auf dem Chirac lenkt, während der Bundeskanzler hinterherstrampelt, ist durch Übertreibung disqualifiziert, jedenfalls vorerst. Wie sich die französische Innenpolitik der kommenden beiden Jahre entwickeln wird, weiß niemand. Mag sein, dass mit einem Nachfolger Chiracs wieder eine weniger belastende Zusammenarbeit möglich sein wird.

Wer die unkritische Intimität Schröders mit Chirac kritisch vermerkt hat, wird allerdings nicht zum alsbaldigen Partnertausch mit Tony Blair raten. Ob ein Brückenschlag nach London möglich ist, wird von dessen Geschick und Führungskraft in der kommenden Ratspräsidentschaft abhängen. Die Umstrukturierung des EU-Haushalts hin zu den Wachstumssektoren und weg von der Agrarsubventionierung ist tatsächlich überfällig. Doch dann kann es auch nicht beim britischen Rabatt bleiben. Talleyrand hat seinen Diplomaten gelegentlich den Rat gegeben: „Et surtout pas trop de zèle“ – nur keinen Übereifer. Das könnten sich auch die deutschen Europapolitiker in der gegenwärtig so kritischen Lage gesagt sein lassen. Manches spricht vorerst auch Großbritannien gegenüber für einen Kurs des Abwartens.

Immerhin würden sich zwischen der Wirtschafts- und Haushaltspolitik einer neuen Bundesregierung und der nun für eine Reihe von Jahren im Amt bestätigten britischen Regierung größere Schnittmengen ergeben als mit der französischen Regierung. Sollte die jetzige Opposition ihre Ankündigungen wahr machen, dann wird sie stärker als die Regierung Schröder auf die Marktkräfte setzen, die Stabilitätskriterien des Euro wieder zu beachten versuchen und dem Euro-Dirigismus einigen Widerstand entgegensetzen. Eine Annäherung an die britische Politik wäre somit wahrscheinlich.

Eine Göttin mit Stil und auch Substanz?

Überhaupt sollte sich eine neue Bundesregierung daran erinnern, dass gute Außenpolitik sich nicht nur durch politische Substanz, sondern auch durch seriösen Stil auszeichnet. Die eigenartige Mischung von Sprunghaftigkeit, Streitsucht, Rechthaberei, Emotionalisierung und Kumpelhaftigkeit im Umgang mit ausländischen Staatsmännern hat nicht nur der Regierung Schröder geschadet, sondern auch den deutschen Interessen. Mehr Stetigkeit, professionelle Verbindlichkeit, Nüchternheit und würdiges Auftreten wären wünschenswert. Ob die Gesetze des Medienzeitalters dies zulassen werden, bleibt abzuwarten.

Indirekt würde die Distanzierung von den unruhigen, allzeit zur Amerika-Kritik disponierten Neogaullisten in Paris auch einer Verbesserung der europäisch-amerikanischen Beziehungen zugute kommen, somit auch dem deutsch-amerikanischen Verhältnis. Eine neue Bundesregierung hätte darin Glück, dass sie zu einem Zeitpunkt ihr Mandat erhielte, da sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen beruhigt haben. Rot-Grün ist zwar in Washington ziemlich abgemeldet, wie sich unlängst in der Frage eines ständigen Sitzes Deutschlands im UN-Sicherheitsrat erneut gezeigt hat. Eine Bundeskanzlerin Angela Merkel hätte es leichter. Sie würde den bereits in Gang befindlichen Normalisierungskurs fortsetzen und könnte dabei von dem Kapital zehren, das sie in der Stunde der Krise in Washington angesammelt hat – auf Kosten zeitweiliger Unpopularität bei vielen deutschen Wählern.

Im Übrigen könnte aber auch eine neue Bundesregierung nicht vergessen, dass bei den deutschen Wählern ein in kritischen Stunden jederzeit abrufbares Potenzial an Amerika-Kritik gewissermaßen unter dünner Decke liegt. Sollten die Parteien der gegenwärtigen Regierungskoalition, wie im Moment zu erwarten, in die Opposition verwiesen werden, würden sie wohl nicht zögern, die entsprechenden Stimmungen anzuheizen. Eine neue Bundesregierung würde also im Innern viel Überzeugungsarbeit zu leisten haben, damit sich in der Tiefe der deutschen Gesellschaft eine realistische Einschätzung des Nutzens und der alles in allem positiven Rolle Amerikas wieder durchsetzt. Versuchte sie das nicht und gelänge ihr das nicht, dann wäre eine transatlantische Kurskorrektur auf längere Sicht nicht durchzuhalten. Diese würde allerdings auch scheitern, wenn Washington nicht mitspielt.

Sollte also eine von Frau Merkel geführte neue Bundesregierung auch außen- und europapolitisch alles „grundlegend anders“ machen? Sie müsste das schon versuchen, denn Rot-Grün hat sich verklettert. Sie hätte auch ein Mandat dazu, und die Gelegenheit zur Umkehr ist günstig. Doch will sie es wirklich tun? Und wie weit wird sie bei der Kurskorrektur gehen? Man muss abwarten. Leider hat der Wähler zu oft schon mit neuen Kanzlern seine Erfahrungen gemacht, die alles besser oder anders zu machen versprachen. „Als ein Gott kam jeder gegangen ... küsste er mir Stirn und Wangen“, heißt es in der schönen Arie der Zerbinetta in Strauss’ und Hofmannsthals „Ariadne auf Naxos“. Doch der neue Gott pflegt fast immer zu enttäuschen und sucht dann das Weite. Wird es sich bei einer Göttin anders verhalten?

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2005, S. 8 - 15

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