Internationale Presse

01. März 2015

„Das am schwersten zu regierende Volk“

Internationale Presse Griechenland

Griechenlands Presse kommentiert den Wahlsieg von Syriza zurückhaltend

Seit dem 25. Januar 2015 muss der Krawattenhandel in Griechenland mit Umsatzeinbußen rechnen – und vielleicht nicht nur dort. In Bildern, die um die Welt gingen, stieg Alexis Tsipras mit offenem Hemdkragen, dunklem Jackett und ohne Schlips – dem Dresscode der Führungsspitze Syrizas, der an das Outfit iranischer Politiker erinnert – auf das Podest vor der Kapodistrias-Universität, nachdem seine Partei die Parlamentswahlen mit 36,4 Prozent der Stimmen deutlich gewonnen hatte. „Griechenland schlägt eine neue Seite auf. Wir haben heute Geschichte geschrieben“, rief er seinen jubelnden Anhängern zu, die sich zu Tausenden im Athener Zen-trum versammelt hatten.

Zurückhaltend und mahnend kommentierten dagegen die meisten Analysten und Kolumnisten der griechischen Presse den Wahlsieg Syrizas, die vor fünf Jahren noch mit 5 Prozent vor sich hin dümpelte. Politik könne und dürfe nicht alternativlos sein, weder in Berlin und Brüssel noch in Athen – so lautete der gemeinsame Nenner. Was Griechenland jetzt brauche, sei eine nationale Übereinkunft in den dringlichsten Fragen und eine Opposition, die verantwortungsbewusst und ohne die üblichen parteitaktischen Manöver handele.

„Syrizas Sieg verändert die politische Szene“, titelte die liberal-kon-servative Tageszeitung Kathimerini (26. Januar). Chefredakteur Alexis Papachelos verglich den neuen Premierminister Tsipras mit dem legendären, 1996 verstorbenen Pasok-Gründer Andreas Papandreou, der das Land von 1981–1989 und 1993–1996 regierte. Beide seien charismatische Persönlichkeiten und glänzende Rhetoriker, die die Massen mitzureißen verstünden. Damit endeten aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Im Gegensatz zu Papandreou verfüge Tsipras nicht über unumschränkte Macht innerhalb seiner Partei. Syriza sei eine „Blasen-Partei“, die, wie alle Blasen, irgendwann platzen könne – eine Anspielung auf die vielen unterschiedlichen Gruppierungen wie Trotzkisten, Maoisten, Ökosozialisten oder Eurokommunisten, die Syriza vereint.

Als Papandreou 1981 an die Macht kam, brach der Brüsseler Geldtsunami über Griechenland herein. Tsipras dagegen stehe, so Papachelos, vor leeren Kassen. Um sie zu füllen, müsse er Verhandlungen führen mit einem Europa, das ihn nicht mit denselben offenen Armen empfange wie seinerzeit Papandreou, unter dessen Regierung Griechenland noch im gleichen Jahr der EU beitrat. Eine Kollision zwischen EU-Falken und dem von der Linken gefeierten Polit-„Rockstar“ Tsipras sei nicht unwahrscheinlich. Doch Tsipras wisse sehr wohl um seine Grenzen und um die Gefahren des Scheiterns, war sich der Kathimerini-Chefredakteur sicher.

Ein klares Votum

Die linksliberale Ta Nea, Griechenlands auflagenstärkste Zeitung, die jahrzehntelang der sozialistischen Pasok nahestand, sah im Wahlsieg Syrizas eine historische Chance für einen Linksruck – in Griechenland und in Europa (26. Januar). Dass nun die erste Anti-Austeritäts-Partei in der Euro-Zone an die Macht gekommen sei, bedeute den ersten Schritt hin zu einer alternativen europäischen Wirtschaftspolitik. Syrizas Wahlsieg falle zusammen mit dem von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker angekündigten milliardenschweren Konjunkturprogramm so-wie der Entscheidung von EZB-Präsident Mario Draghi, Staatsanleihen der Mitgliedsländer auch künftig mas-senhaft aufzukaufen. Griechenland könne davon profitieren, schrieb Chef-redakteur Evangelis Lialuitis.

Endlich habe Europa, was es von Griechenland verlangt: ein klares politisches Votum, hieß es in Ta Nea weiter. Immer mehr EU-Staaten seien sich darüber im Klaren, dass ein anderes Europa vonnöten sei: eines, das mit seinen Bürgern rede und dem Aufstieg euroskeptischer und rechtsextremer Kräfte entgegensteuere. Beflügelt von Junckers und Draghis Schritten könne die neue Regierung dazu beitragen – vorausgesetzt, die Verhandlungspartner in Brüssel und Athen seien an einem ehrlichen Kompromiss interessiert. Andere Kommentatoren des Blattes äußern sich verhaltener. Die neue Regierung müsse jetzt beweisen, dass ihre Lösungsansätze und Visionen realisierbar seien. Scheitere sie, könne dies in einer nationalen Katastrophe enden. Denn Griechenland könnte zum Versuchskaninchen eines politischen Experiments werden, an dem niemand interessiert sei, außer den „ewiggestrigen Aktivisten der Linken“.

Einen Ratschlag für die neue Regierung hatte Tilemachos Chitiris, einst enger Parteifreund Papandreous, der in Ta Nea folgende Anekdote erzählte: „Als Papandreou 1981 die Wahlen mit großer Mehrheit gewann, fragte ihn Staatspräsident Konstantinos Karamanlis, ob er glaube, dass seine Wähler Sozialisten seien. Natürlich nicht, antwortete Papandreou.Und Karamanlis pflichtete ihm bei: Vielmehr seien die Griechen Anarchisten. ‚An einem Tag unterstützen sie dich, am nächsten beschimpfen sie dich.‘ Die Griechen seien das am schwersten zu regierende Volk. Sie verlangten nach eierlegenden Wollmilchsäuen. ‚Jetzt, da du alle Macht hast, vergiss nicht – eines Tages wird dein Handlungsspielraum sehr eingeschränkt sein.‘

Regieren habe nichts mit Oppositionsarbeit zu tun, die wie Spielen im Kindergarten anmutet, gemessen an der Größe der Entscheidungen, die eine Regierung zu treffen habe, und der Verantwortung, die sie trage, gab Chitiris den neuen Machthabern mit auf den Weg.

Maria Katzunaki befasste sich in der Kathimerini (26. Januar) mit dem ansteigenden und aggressiven Populismus in Griechenland. Wie sei es möglich, fragte sie, dass 6,3 Prozent der Wähler für die Neonazipartei Goldene Morgenröte gestimmt hätten, obgleich ihre Führungsspitze wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung seit Monaten in Untersuchungshaft sitzt? Glaubten die Wähler wirklich an deren Unschuld? Und wie sei der kometenhafte Aufstieg Syrizas zu erklären, wenn nicht mit einer verfehlten bürgerlichen Politik?
Was alle Parteien Griechenlands eine, sei die Dämonisierung des Fremden, einschließlich der EU, so Katzunaki weiter; die instrumentalisierte Wehklage über das notleidende Volk, das sie zu schützen und zu retten vorgäben; der Vorwurf, alle Parteien und Politiker seien korrupt, mit Ausnahme der eigenen Person; und, je nach politischer Ausrichtung, der gemäßigte bis überharte Standpunkt in Sachen Mi-gration. Die Diskurskultur der Parteien erschöpfe sich in der Emotionalisierung eines Themas. Nahezu alle verschlössen sich der Realität und suchten die Schuld stets bei anderen.

Wiedererlangung der Würde

Die linke Zeitung Efimerida Ton Syntakton (27. Januar) beschäftigte sich mit der ersten Amtshandlung des frisch vereidigten Premierministers. Sie sah in Tsipras’ Kranzniederlegung an der Gedenkstätte Kesariani, wo die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg zwischen 1942 und 1944 600 griechische Widerstandskämpfer hinrichteten, das Symbol eines politischen Neuanfangs. Die von Prinzipien und Werten geleitete neue Regierung kämpfe für die Wiedererlangung der Würde des griechischen Volkes.

An der im Eiltempo beschlossenen Koalition zwischen Syriza und der rechtspopulistischen ANEL unter ihrem Parteichef Panos Kammenos hatte Efimerida Ton Syntakton nichts auszusetzen: Noch in der Wahlnacht, als klar geworden sei, dass es zur absoluten Mehrheit nicht reichen würde, habe Syriza ungewöhnlich schnell und klar für ANEL als Regierungspartner optiert. Kammenos habe keine besonderen programmatischen Forderungen gestellt und stimme mit der in Thessaloniki vorgestellten Agenda von Syriza überein.

Etwas anders sah das Kathimerini (27. Januar): Dass Kammenos zum Verteidigungsminister gemacht worden sei, stelle sowohl die rechten Kräfte des Landes als auch den antiamerikanischen Flügel Syrizas zufrieden. Für Griechenlands nationale Interessen könnte sich die Personalie aber als fatal herausstellen.

Die linksliberale Zeitung Ethnos (27. Januar) nannte die Koalition „eine ungleiche Ehe“. Die Regierungsbeteiligung von ANEL verändere das Votum der Wähler, die für Syriza gestimmt haben. Außer den Forderungen nach umgehender Aufkündigung der Sparpolitik und einem Schuldenerlass hätten die beiden Parteien nichts gemein. Vielmehr signalisiere die Koalition von Syriza und ANEL den Kreditgebern vor allem eins: dass man es auf eine Konfrontation ankommen lassen wolle, was ganz im Sinne von ANEL sei.

Auf Wirtschaftsfragen konzentrierte sich derweil Babis Papadimitriou. Der für Kathimerini und den TV-Sender Skai arbeitende Kolumnist wollte Tsipras nicht am Erfolg seines vielversprochenen Schuldenschnitts messen, sondern an der Anzahl neuer Arbeitsplätze und daran, wie schnell er sie schaffe Kathimerini (26. Januar). Tsipras könne sich glücklich schätzen: Seine Wähler seien schon zufrieden, wenn er nur einen Bruchteil seiner Versprechungen umsetze, die – auch das wüssten die Wähler – in Brüssel und Berlin auf heftigen Widerstand stoßen würden. Keiner seiner drei Vorgänger habe so günstige Startbedingungen gehabt wie Tsipras, meinte Papadimitriou. Der neue Regierungschef kenne den Kontostand des Staates. Ebenso könne er die bereits begonnenen Reformen in der Verwaltung und den Sozialkassen leicht zu Ende bringen. Eine Chance auf einen Schuldenschnitt habe Tsipras nicht.

Einen Blick zurück wirft Naftemporiki (26. Januar). Das Schifffahrts-Handelsblatt beleuchtet die Gründe des Scheiterns der Regierung von Antonis Samaras, die es nicht zuletzt in der unpopulären Steuerpolitik ver-ankert. Zum einen sei die drastische Anhebung der Heizölsteuer um 30 Prozent nennen. Viele Haushalte konnten sich in den vergangenen Wintern kein Heizöl leisten oder verzichteten auf den Kauf, um zu sparen. Zum anderen habe die Einführung der einheitlichen Immobiliensteuer Enfia für einen landesweiten Aufschrei und eine Welle des Protests gesorgt. Gut 80 Prozent der Bevölkerung besitzen Immobilien. Bis 2010 existierte lediglich eine Art kommunale Abgabe auf Immobilienbesitz, deren jährliche Höhe selten 100 Euro überstieg.

Den Hauptgrund für die Abwahl der Regierungskoalition aus Nea Dimokratia und Pasok sieht das Blatt aber in der Unfähigkeit, auf die seit 2010 abrutschende Mittelschicht zuzugehen, die jede Hoffnung auf Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage verloren habe. Die von Samaras mit Ängsten und Schreckensszenarien geführte Wahlkampagne sei verpufft, weil ein Großteil der Bevölkerung nicht daran glaubte, noch mehr verlieren zu können.

Richard Fraunberger lebt seit 2001 in Griechenland und schreibt u.a. für ZEIT, Süd­ deutsche Zeitung, GEO und Mare.

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2015, S. 130-133

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