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01. Febr. 2002

China und die USA

Eine Partnerschaft sucht ein strategisches Fundament

Nach dem Ende des Kalten Krieges, in dem China und die Vereinigten Staaten Verbündete waren, suchen beide nach einem neuen Fundament für ihre Beziehungen. Raketenabwehr und die Rolle Taiwans sind potenzielle Streitpunkte; die Antiterrorallianz nach dem 11. September bietet jedoch die Möglichkeit zu einem neuen Schulterschluss.

Staaten unterschiedlicher Herrschaftssysteme sind in der Regel unfähig, eine effiziente Partnerschaft zu bilden, wenn ihrem Verhältnis kein strategisches Fundament zugrunde liegt. Um auf der internationalen Ebene reibungslos kooperieren zu können, brauchen insbesondere Demokratien und nichtdemokratische Staaten eine strategische Verständigung, die die Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund rücken. Gelingt es ihnen, einen gemeinsamen außenpolitischen Nenner zu finden, können sie Konflikte vermeiden; schlägt aber die Bemühung um eine strategische Verständigung fehl, bleibt das Verhältnis krisenhaft. Diese Erfahrung haben die Umbrüche in den Beziehungen zwischen dem Einparteienstaat China und dem liberalen Verfassungsstaat USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ausreichend unter Beweis gestellt.

Wenn es zutrifft, dass die gemeinsame Bedrohungswahrnehmung gegenüber der Sowjetunion während des Kalten Krieges China und die USA zusammengeführt hatte, bedeutete das Ende des Ost-West-Konflikts auch das Ende des strategischen Fundaments der chinesisch-amerikanischen Beziehungen. Durch den Untergang der Sowjetunion wurde der strategischen Allianz zwischen Beijing und Washington die Grundlage entzogen, die im Rahmen der China-Reise des Präsidenten Richard M. Nixon im Jahre 1972 ins Leben gerufen worden war. Der Wegfall des gemeinsamen Feindes hat beide Länder zwar von den Bedrohungen der Sowjetunion befreit. Aber die neue Konstellation machte ein Weiterbestehen der chinesisch-amerikanischen Allianz überflüssig. Sowohl Beijing als auch Washington sahen sich gezwungen, ihre bilateralen Beziehungen neu zu definieren.

Dabei ist Beijing offensichtlich stärker unter Druck geraten als Washington. Als die einzige verbliebene Supermacht haben die Vereinigten Staaten mehr Optionen als die Volksrepublik China. Sie können es sich leisten, gelassen darüber nachzudenken, ob die Chinesen als „strategischer Partner“ oder „strategischer Konkurrent“ behandelt werden. Aber für Beijing ist die Suche nach einem neuen strategischen Fundament lebenswichtig, auf dem kooperative Beziehungen mit den Vereinigten Staaten unter den veränderten Bedingungen aufgebaut werden können. Je mehr China sich modernisiert und damit seine Machtressourcen vergrößert, desto wichtiger ist ein kooperatives Amerika. Beijing scheint erkannt zu haben, dass es einen gefährlichen Kurzschluss darstellt, die Machtposition des Landes auszubauen, ohne sich mit Washington strategisch verständigt zu haben. In der Tat hat der Aufstieg Chinas zu einer großen Regionalmacht mit überregionalen Einflüssen in den letzten zehn Jahren die Amerikaner bereits verunsichert. Die zunehmende Verbreitung der Theorie der „chinesischen Gefahr“ unter der amerikanischen Bevölkerung, aber auch unter den Eliten in Washington, stellt nur eines von vielen Beispielen für die psychische Empfindlichkeit dar, die eine etablierte Supermacht gegenüber einer neu aufsteigenden Großmacht hat.

Vor diesem Hintergrund bemüht sich die politische Führung in Beijing seit Jahren, einen gemeinsamen Bereich chinesischer und amerikanischer Interessen zu finden oder zu erfinden. So wurde die Theorie der gegenseitigen Ergänzung der chinesischen und amerikanischen Volkswirtschaft entwickelt. Mit dieser Theorie will Beijing die Amerikaner zur Einsicht bringen, dass eine umfassende Kooperation mit China im Interesse der Vereinigten Staaten liegt, auch wenn es jetzt keinen gemeinsamen Feind mehr gibt.

Allerdings hat die wirtschaftliche Kooperation offensichtlich dann ihre Grenze, wenn es um die Machtfrage geht. Ironischerweise geraten die chinesisch-amerikanischen Beziehungen ausgerechnet zu dem Zeitpunkt in eine  Krise, wenn mehr amerikanisches Kapital in China investiert und immer mehr chinesische Waren in Amerika verkauft werden. Die Konfrontation zwischen den chinesischen Kriegsschiffen und den amerikanischen Flugzeugträgerverbänden während der Taiwan-Krise 1996; die bis jetzt nicht eindeutig geklärte Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch die USA während des Kosovo-Krieges im Mai 1999 sowie die Kollision zwischen dem Jagdflugzeug der Volksbefreiungsarmee und dem Spionageflugzeug der amerikanischen Marine im April 2001 – all diese Zwischenfälle lassen den chinesischen Wunsch als eine Illusion erscheinen, auf gemeinsamen Wirtschaftsinteressen ein strategisches Fundament aufzubauen. Dabei wird offenbar übersehen, dass gerade das wirtschaftliche Erstarken und damit der Machtzuwachs Chinas die dominierende Position der USA im asiatisch-pazifischen Raum in Frage stellt.

Und während es den Chinesen heute nicht mehr einleuchtet, warum die Vereinigten Staaten ihre 100 000 Soldaten in Ostasien weiterhin stationiert lassen, bleibt die Frage vieler Amerikaner unbeantwortet, wozu die Vereinigten Staaten nach dem Wegfall der sowjetischen Bedrohungen ein starkes China brauchen, zumal diese aufsteigende Großmacht die amerikanische Position in der Weltpolitik zunehmend herausfordert. Bedingt durch das Fehlen einer solchen grundlegenden Verständigung gibt es heute kaum einen strategischen Bereich, in dem die Positionen der Volksrepublik China und die der Vereinigten Staaten übereinstimmen. Dies gilt vor allem für den Aufbau einer Raketenabwehr (NMD/TMD), die Taiwan-Frage, den Friedensprozess auf der koreanischen Halbinsel, die chinesisch-israelische Militärkooperation sowie den amerikanisch-japanischen Bündnisvertrag. Aber auch in den strategischen Fragen wie die amerikanisch-indische Militärkooperation, Behandlung von Irak und Iran, Kosovo-Krieg sowie NATO-Erweiterung, die China nur indirekt berühren, gehen die Interessen Beijings und Washingtons deutlich auseinander.

Raketenabwehr

Wenn es einen Faktor gibt, der das gegenwärtige Verhältnis zwischen der Volksrepublik China und den USA am meisten belastet und damit die Spaltung zwischen den beiden Seiten fundamental vertieft hat, ist dies die amerikanische Raketenabwehr, die nach der Vorstellung der Bush-Regierung schon im Jahre 2004 aufgestellt werden soll. Eine Raketenabwehr berührt nicht nur die Grundlage der strategischen Abschreckungsfähigkeit Chinas, sondern auch die sensible Taiwan-Frage und damit das Dauerproblem zwischen Beijing und Washington.

Dass Washington, trotz Kritik von Russland, China und seinen europäischen Verbündeten, im Dezember 2001 den ABM-Vertrag gekündigt und damit den Weg für die Entwicklung einer umfassenden Raketenverteidigung frei gemacht hat, enttäuschte die Chinesen zutiefst. In dem NMD-Projekt sieht Beijing ein Amerika, das keine Rücksicht auf die Sicherheit Chinas und anderer Staaten nimmt, um eine absolute Sicherheit für sich selbst zu erreichen. Die Perspektive für beide Seiten, in absehbarer Zeit eine strategische Verständigung zu erreichen, scheint in immer weitere Ferne zu rücken.

Vor allem akzeptiert Beijing die Theorie der Bedrohung durch die „Schurkenstaaten“ nicht, die von Washington zur Begründung angeführt wird. Die Glaubwürdigkeit dieser Theorie wurde mit dem Argument in Frage gestellt, dass es nicht sein könne, dass man bei der Ausgabe von 60 bis 100 Milliarden Dollar für ein Projekt nur an einige kleine „Schurkenstaaten“ gedacht habe. Es wurde argumentiert, dass die „Schurkenstaaten“ nicht über das Potenzial verfügten, um die Vereinigten Staaten mit interkontinentalen ballistischen Raketen (ICBM) angreifen zu können. Außer den fünf großen Atommächten (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China), so begründeten die Chinesen ihre Bedenken, besäßen nur Israel, Saudi-Arabien, Indien, Pakistan, Iran und Nordkorea gegenwärtig Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von über 1000 km. Nur vier davon (Indien, Pakistan, Iran und Nordkorea) arbeiteten möglicherweise an einem Entwicklungsprogramm für Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von über 3000 km. Aus chinesischer Sicht könnten diese Staaten selbst beim Gelingen der geplanten Mittelstreckenraketen-Projekte nicht die Fähigkeit erwerben, das Territorium der USA mit Raketen anzugreifen.

Daraus wurde abgeleitet, dass die „Schurkenstaaten“ der Logik nach nicht das Hauptziel der Raketenabwehr seien können. Auch Russland als Ziel wurde mit der Begründung ausgeschlossen, dass das vorgesehene Niveau für NMD nicht ausreiche, um eine gleichrangige Nuklearmacht wie Russland im Zaum zu halten. Gestützt auf diese Analysen haben die Chinesen den starken Verdacht, dass Washington seine wahre Absicht für die Entwicklung von NMD nicht ausgesprochen hat. Den Amerikanern wird unterstellt, durch Aufbau einer umfassenden Raketenverteidigungsfähigkeit die tragende Säule der chinesischen Abschreckung ins Wanken bringen zu wollen.1

Unabhängig davon, ob Washington tatsächlich das chinesische Raketenpotenzial im Auge hat, betrachtet China sich selbst als das größte Opfer des amerikanischen Raketenabwehrprojekts, wenn es um die objektiven Konsequenzen dieses Projekts geht. Im Unterschied zu Russland, das mit seinen 6500 strategischen Raketen jeden Abwehrschirm durchbrechen könnte, könne Chinas begrenzte Kapazität in einem Umfang von 20 bis 30 Interkontinentalraketen (CSS-4)2 leicht neutralisiert werden. Dies scheint auch der Grund zu sein, weshalb der russische Präsident, Wladimir Putin, die Kündigung des ABM-Vertrags durch die USA mit großer Gelassenheit hinnimmt, während die Regierung in Beijing nervös reagiert.

In der Tat würde eine Neutralisierung der chinesischen Interkontinentalraketen die Grundlage der chinesischen Sicherheitsstrategie erschüttern. Bis jetzt verfolgt Beijing die Strategie der so genannten Minimalabschreckung, die vorsieht, durch ein kleines Arsenal von strategischen Waffen den potenziellen Angreifer vor einem Angriff abzuschrecken. Diese „Minimalabschreckung“ dürfte aber ihre Glaubwürdigkeit verlieren, wenn eine Raketenabwehr errichtet wird. Nach Einschätzung chinesischer Strategen kann Washington mit dem geplanten NMD-Programm – wenn umgesetzt – die chinesische Raketenabschreckung im doppelten Sinne ausschalten: „Geografisch wird es die gesamte USA davor schützen, abgeschreckt zu werden, numerisch werden vielleicht sogar Abfangraketen, die in einer einzigen Stellung aufgestellt sind, ausreichen, um alle chinesischen CSS-4 auszuschalten.“3

Taiwan

Die Ausschaltung des chinesischen Raketenpotenzials würde auch die Abschreckung gegenüber Taiwan ins Wanken bringen. Im Militärbereich ist die Volksbefreiungsarmee gegenüber den taiwanischen Streitkräften nur in zwei Bereichen deutlich überlegen: Angriffs-U-Boote und offensive Raketen. Bisher hat die chinesische Führung großen Wert darauf gelegt, mit Hilfe von Kurz- und Mittelstreckenraketen den Druck auf Taiwan effektiv zu erhalten. Aber wenn eine regionale NMD-Variante (Theater Missile Defence/TMD) in Ost- und Südostasien aufgestellt werden sollte, würden die chinesischen Raketen zwecklos. Beijings große Angst liegt darin, dass ein von der Bedrohung durch Raketen befreites Taiwan noch mutiger und bedenkenloser seine Unabhängigkeitsbestrebungen vorantreiben könnte.

Das Ergebnis der Parlamentswahl in Taiwan im Dezember 2001, die die 50-jährige Vorherrschaft der nationalistischen Kuomintang (KMT) auch im Parlament beendet hat, zeigt, dass die taiwanische Bevölkerung vor dem Hintergrund des amerikanischen Sicherheitsschutzes trotz Drohungen aus China ihre politische Eigenständigkeit bewahren kann. Die Kuomintang, die eine Einheit mit China grundsätzlich nicht in Frage stellt, fiel von 110 auf 68 Sitze zurück.4 Die Demokratische Fortschrittspartei (DDP) von Präsident Chen Shui-bian, die sich für eine Politik der Unabhängigkeit einsetzt, gewann 21 Mandate hinzu und stellt somit mit 87 von 225 Sitzen die stärkste Fraktion. Dass die Neue Partei (NP), die für eine Wiedervereinigung mit China kämpft, von einst acht auf nur noch einen Sitz fiel,  zeigt die eindeutige Abneigung der Wähler gegen die von Beijing favorisierte NP.5 Ohne ein tiefes Vertrauen in den amerikanischen Schutz im Krisenfall wäre ein so eigenständiges Wahlverhalten unmöglich gewesen.

In der Tat genießen die USA in Taiwan nach wie vor das Ansehen einer relativ zuverlässigen Schutzmacht. Viele Taiwaner glauben, dass Washington nicht tatenlos zuschauen würde, wenn die Volksbefreiungsarmee die Wiedervereinigung mit Gewalt zu erzwingen versuchte. Angesichts der neutralisierenden Funktion vom NMD/TMD gegenüber der chinesischen Raketenbedrohung kann aus chinesischer Sicht mit einer noch stärkeren Unabhängigkeitsbewegung in Taiwan gerechnet werden, wenn in Ostasien tatsächlich ein regionaler Raketenschirm aufgespannt werden sollte.

Die Rolle Moskaus

Auch auf der internationalen Ebene bewirkte das NMD-Projekt den forcierten Aufbau einer Gegenmacht zwischen China und Russland. Moskau scheint nicht nur die Etablierung Chinas als Kontinentalvormacht in Ostasien akzeptiert zu haben, sondern auch willens zu sein, seinen Aufstieg zur Großmacht zu unterstützen. Praktisch entwicklet sich Russland zum stärksten Förderer der chinesischen Militärmodernisierung, indem es der Volksbefreiungsarmee hochmoderne Waffensysteme liefert. Die in den Jahren 1999 und 2000 erfolgte Lieferung von zwei in St. Petersburg gebauten Zerstörern der Sowremennyj-Klasse (Typ 956) befähigt die chinesische Marine, im Konfliktfall sogar feindliche Flugzeugträger anzugreifen. Das Kampfpotenzial der chinesischen Luftwaffe erreichte ein neues Niveau, nachdem sie im Dezember 2000 zehn von 40 bestellten multifunktionalen SU-30MKK-Kampfflugzeugen erhalten hatte. Anfang Februar 2001, als General Zhang Wannian, Stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Militärkommission, nach Moskau kam, erhielt er die Zusage des russischen Militärs, China im Jahre 2003 fünf Frühwarnflugzeuge vom Typ A50 zu liefern. Dadurch wurde die Blockade der USA gebrochen. Diese hatte nämlich die israelische Regierung im Juli 2000 dazu gezwungen, die Lieferung ähnlicher Maschinen an China zu stoppen.

Auf Grund des immer stärkeren Drucks der NMD-Pläne intensivierte China seine Umwerbung Russlands als Gegengewicht zu den USA. In der Tat beschleunigten die amerikanischen Schutzschildpläne die strategische Kooperation zwischen Beijing und Moskau in einem unerwarteten Ausmaß. Schon im Juli 2000 erhielt die chinesisch-russische „Strategische Partnerschaft“ einen kräftigen Schub, als beide Seiten in ihrem „Gemeinsamen Kommuniqué“ den ABM-Vertrag als unantastbar erklärten und damit den NMD-Plänen eine kategorische Absage erteilten. Um die strategische Kooperation in diesem Bereich zu vertiefen, vereinbarte General Zhang während seines Moskau-Besuchs mit seinem Gastgeber eine Reihe von konkreten Maßnahmen. Dazu gehört insbesondere die Gründung einer gemeinsamen Expertengruppe mit dem Auftrag, Möglichkeiten für die Entwicklung einer gemeinsamen Raketenabwehr zu erschließen. Die geplante Verpachtung russischer Militärsatelliten an China wird einen regelmäßigen Austausch von Informationen über NMD/TMD und Bewegungen amerikanischer Streitkräfte im asiatisch-pazifischen Raum einleiten und damit die Militärkooperation zwischen beiden Ländern auf eine nie da gewesenen Höhe führen. Nach Informationen aus Taiwan soll Präsident Putin dem chinesischen General versichert haben, Russland werde China Militärbeistand leisten, wenn es durch eine dritte Macht und ihre Verbündeten angegriffen werde.

Nach anfänglichem Zögern hat Präsident Putin entschieden, die von Boris Jelzin und JiangZemin ins Leben gerufene Partnerschaft fortzusetzen. Im Juli 2001 wurde der chinesisch-russische Freundschaftsvertrag unterschrieben. Trotz der Beteuerungen von Seiten Moskaus und Beijings, der Vertrag sei nicht gegen einen Dritten gerichtet, hat die strategische Partnerschaft zwischen Beijing und Moskau durch den neuen Freundschaftspakt praktisch die Qualität einer Allianz erhalten. Durch Jelzins Sympathie für China und Putins Pragmatismus, aber auch durch die ununterbrochene Umwerbung Russlands durch Jiang Zemin und seine Mitarbeiter in den letzten zehn Jahren, scheinen die Russen langsam bereit zu sein, China als dem „glaubhaftesten Verbündeten“ zu vertrauen. Nach einer Umfrage des amerikanischen Gallup-Instituts in Moskau im Dezember 2000 betrachtet die Mehrheit (51%) der befragten russischen Politiker, Intellektuellen und Meinungsführer China als Nummer eins unter „Russlands strategisch wichtigen Verbündeten“, gefolgt von Weißrussland (49,6%), Deutschland (39,3%), Indien (23,5), USA (20%) und Großbritannien (15,6).6

Es ist aber fraglich, ob Beijing wirklich bereit ist, für die Kooperation mit Russland den Vereinigten Staaten den Rücken zu kehren. Diese strategische Alternative scheint unter den chinesischen Eliten noch nicht konsensfähig, auch wenn die Stimmen nach einem härteren Kurs gegenüber Amerika immer lauter wurden. Jiang und seine Kollegen wissen, dass eine totale Konfrontation mit den USA ihre Modernisierungsvorhaben vereiteln würde. Auch aus diesem Grund wird Beijing sich gezwungen sehen, weiterhin nach einem neuen Fundament für seine Beziehungen zu Washington zu suchen.

Antiterrorallianz

In der Tat gab der 11. September China und den USA die Gelegenheit, ihre Beziehungen zu verbessern: Die Möglichkeit, dass sich Beijing und Washington auf strategischer Ebene wieder verständigen könnten, wurde von chinesischer Seite offensichtlich erkannt. Die Strategen in Beijing, die seit Jahren nach einem neuen strategischen Fundament für das chinesisch-amerikanische Verhältnis suchen, ergriffen die Chance und rieten Präsident Jiang Zemin, unmittelbar nach dem Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon ein Beileidstelegramm an Präsident George W. Bush zu schicken. Darin ging Jiang über die üblichen Beileidsformulierungen hinaus und versicherte der amerikanischen Regierung, dass die Volksrepublik China bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus an der Seite der USA stehe. In einem Telefonat mit Bush am darauf folgenden Tag unterstrich Jiang, dass Terrorismus für beide Länder eine Bedrohung darstelle und China bereit sei, gemeinsam mit den Vereinigten Staaten gegen „alle Formen“ vom Terrorismus anzugehen.7

Um die chinesische Solidarität mit den Vereinigten Staaten unter Beweis zu stellen, brach Beijing sogar ein außenpolitisches Tabu und unterstützte ausdrücklich die Militärangriffe auf Afghanistan durch die USA und Großbritannien. In einem Telefonat mit dem britischen Premierminister, Tony Blair, am 18. September erklärte Jiang, dass China Militäraktionen auf Grund konkreter Beweise unterstütze, allerdings Wert darauf lege, dass keine unschuldigen Menschen zu Schaden kommen sollten.8 Um den Eindruck zu vermeiden, dass die Chinesen nur auf der verbalen Ebene reagierten, schickte Beijing am 25. September eine Gruppe von Antiterrorexperten nach Washington. Sie erhielten die Anweisung, der amerikanischen Regierung Informationen zu liefern, die für die Militäroperation der amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan nützlich seien könnten. Die chinesische Internet-Presse, die relativ frei über Politik berichten kann, spricht sogar von einer aktiven Beteiligung chinesischer Experten bei der Entwicklung von Taktiken für die Operation „Dauerhafter Frieden“. Demzufolge sollen die Chinesen den Amerikanern empfohlen haben, während der Bombardierung in Afghanistan die Verständigungsdiplomatie gegenüber islamischen Staaten zu intensivieren und durch den Abwurf von Lebensmitteln für die Bevölkerung das Taliban-Regime und die Al Khaïda so breit wie möglich zu isolieren.9

Beide Seiten haben darüber hinaus vereinbart, regelmäßig Antiterrorkonsultationen durchzuführen. Wenn notwendig, sollten täglich Gespräche auf Expertenebene durchgeführt werden, so Francis X. Taylor, der Antiterrorkoordinator der amerikanischen Regierung. Außerdem soll im Frühjahr 2002 eine chinesische Delegation nach Washington kommen, um mit den amerikanischen Behörden gemeinsam eine „U.S.-China Financial Counter-Terrorism Working Group“ zu gründen. Auch der Wunsch der Bush-Regierung, ein durch das FBI besetztes „Legal Attache Office“ in der amerikanischen Botschaft in Beijing einzurichten, scheint bei den Chinesen auf Gegenliebe gestoßen zu sein. Die chinesische Regierung versprach, die Initiative „positiv“ zu prüfen.10

Die amerikanische Regierung war offenbar von der Kooperationsbereitschaft Beijings überrascht. „Es gab kein Zögern“, so lobte Präsident Bush auf einer Pressekonferenz auf dem APEC-Gipfel in Schnaghai am 19. Oktober die Chinesen. „Es gab keinen Zweifel, dass sie in dieser schrecklichen Zeit an der Seite der USA stehen würden. … Präsident Jiang und seine Regierung stehen Schulter an Schulter mit dem amerikanischen Volk, während wir mit dieser bösen Macht kämpfen.“11 Eine sichtbare Frucht der chinesischen Bemühungen um Kooperation mit den USA ist die Tatsache, dass Bush im Hinblick auf China nicht mehr von „strategischer Konkurrenz“ spricht. In Schanghai bezeichnete er China als „eine Großmacht“, mit der seine Regierung eine „ehrliche, konstruktive and kooperative“ Beziehung aufbauen wolle.12 In gewissem Sinne hat die sicherheitspolitische Kooperation zwischen Beijing und Washington nach dem 11. September begonnen, auch wenn sie zuerst nur auf Südasien begrenzt ist. Bedeutsam ist vor allem, dass beide Seiten im UN-Sicherheitsrat zusammenarbeiten und dazu beitrugen, dass die Antiterrorresolutionen zügig verabschiedet werden konnten.

Indien–Pakistan

Enge Kooperation und Konsultationen fanden auch statt, als der Konflikt zwischen Indien und Pakistan nach dem Terroranschlag auf das indische Parlament zu eskalieren drohte. Während China seinen engsten Verbündeten Pakistan zum Entgegenkommen gegenüber indischen Forderungen nach einem rigorosen Vorgehen gegen islamische Terrorgruppen ermutigte, rief Präsident Bush Indien zur Zurückhaltung auf. Hinter diesem gemeinsamen Vorgehen steht das Interesse Washingtons und Beijings an einer kontrollierten Umgestaltung der Sicherheitsordnung in Südasien. Wie der chinesische Außenminister, Tang Jiaxuan, in einem Telefonat mit seinem amerikanischen Kollegen Colin Powell am 2. Januar 2002 deutlich formulierte, „werden nicht nur Indien und Pakistan leiden, wenn die Lage außer Kontrolle gerät und sich im Hinblick auf die eingesetzten Waffen zu einem großen Konflikt entwickelt. Auch der Friedensprozess in Afghanistan wird in Gefahr geraten sowie die Stabilität und Entwicklung in Südasien und sogar in ganz Asien“.13 Diesem gemeinsamen Interesse diente offensichtlich auch die koordinierte Diplomatie, als der chinesische Ministerpräsident Zhu Rongji Mitte Januar dieses Jahres Indien besuchte und Powell zur gleichen Zeit nach Pakistan aufbrach.14

Powell bezeichnete die Verbesserung der chinesisch-amerikanischen Beziehungen neben dem Aufbau einer soliden Partnerschaft mit Russland und der Vertiefung der Beziehungen zu Europa sogar als die drei Haupterrungenschaften der amerikanischen Außenpolitik im Jahre 2001.15 Allerdings ist fraglich, ob das gemeinsame Antiterrorinteresse, das diese Entwicklung ermöglicht hat, die notwendige Kraft für die Herstellung einer neuen umfassenden Verständigung zwischen China und den USA erzeugen kann. Vor allem lässt sich noch nicht deutlich erkennen, dass die Vereinigten Staaten bereit wären, die Antiterrorkooperation auf andere sicherheitspolitische Bereiche auszudehnen. So lehnte die amerikanische Regierung die chinesische Forderung wiederholt ab, die Sanktionen gegen ein chinesisches Unternehmen aufzuheben, dem seitens Washington vorgeworfen wurde, sensible Raketentechnologie an Pakistan geliefert und damit gegen die bilaterale Vereinbarung vom November 2000 zur Nichtverbreitung von Raketentechnologie verstoßen zu haben. Am 3. November 2001 wies das amerikanische Außenministerium den chinesischen Protest gegen die Lieferung von Javelin-Panzerabwehrraketen an Taiwan zurück mit der Begründung, dass sich die Waffenlieferungen an Taiwan nicht wegen der Antiterrorzusammenarbeit mit China ändern würden.

Separatismus in China

Die Frage nach der Möglichkeit, aus der gemeinsamen Antiterrorkooperation ein Fundament für die chinesisch-amerikanischen Beziehungen zu bauen, hängt auch davon ab, ob und inwiefern Washington mit dem chinesischen Verständnis von Terrorismus übereinstimmt. Wenn es um konkrete terroristische Bedrohungen geht, denkt Beijing in erster Linie an die uigurischen Separatisten, die in der chinesischen Westprovinz Xinjiang zahlreiche Terroranschläge auf chinesische Polizisten und Einwohner verübt haben. Ein Teil von ihnen wurde nach Angaben der Regierung auch in den Trainingslagern der Al Khaïda von Osama Bin Laden in Afghanistan ausgebildet.16 Beijings Erwartung an Washington, den Kampf gegen diese Gruppierungen als einen Teil der internationalen Antiterroroperation anzuerkennen und zu unterstützen, ist hoch. Dies drückt sich insbesondere in seiner Forderung aus, „alle Formen“ vom Terrorismus, „wann und wo auch immer“, mit gleicher Härte zu bekämpfen. Jedoch verhält sich die amerikanische Regierung in dieser Frage äußerst zurückhaltend. Schon bei seinem Gespräch in Schanghai gab Präsident Bush zu verstehen, dass die Vereinigten Staaten die Unterdrückung von Minderheiten nicht mit dem Kampf gegen Terrorismus verwechselten.17

Auch wenn China und die USA den internationalen Terrorismus als gemeinsamen Feind betrachten, sind ihre Bedrohungswahrnehmungen gegenüber dem Terrorismus unterschiedlich. Die Verwundbarkeit ihrer Nation haben die Amerikaner mit den Terroranschlägen vom 11. September schmerzlich gespürt. Das Gefühl der amerikanischen Bevölkerung, dass terroristische Anschläge nun die Hauptbedrohung der Sicherheit ihres Landes geworden ist, scheint den Chinesen jedoch fremd zu sein. Trotz der Anschläge durch separatistische Gruppierungen in China wird Terror nicht als essenzielles Problem wahrgenommen.

Angesichts dieses Bedrohungsgefälles scheint das gemeinsame Antiterrorinteresse nicht stark genug zu sein, um darauf ein langfristiges und stabiles Verhältnis zwischen der Volksrepublik China und den Vereinigten Staaten bauen zu können. Dies wird dadurch verschärft , dass die Bush-Regierung die durch den 11.September offenbarte Verwundbarkeit der USA als Chance nutzt, um ihr Raketenabwehrprojekt voranzutreiben. Aus diesem Grund ist zu erwarten, dass das chinesisch-amerikanische Verhältnis weiterhin ohne strategisches Fundament und daher krisenhaft bleiben wird, solange sich Beijing durch die geplante Raketenabwehr der USA bedroht fühlt. Daran wird wohl auch der für den 20. und 21. Februar 2002 geplante Besuch von Präsident Bush in China nichts Grundsätzliches ändern.

Anmerkungen

1  Vgl. hierzu: Dingli Shen, A Chinese Perspective on National Missile Defence, in: <http://www.ieer.org/latest/shen-ppr.html&gt;.

2  CSS-4 ist die amerikanische Bezeichnung der chinesischen ICBM von diesem Typ. Die entsprechende chinesische Bezeichnung ist DF-5A.

3  Vgl. hierzu Shen, (a.a.O., Anm. 1).

4  Vgl. Johnny Erling, Kuomintang ist künftig auf eine Minderheitenrolle beschränkt, in: Die Welt, 3.12.2001.

5  Vgl. hierzu im Einzelnen auch den Beitrag von Urs Schoettli, S. 45–50.

6  Bin Yu, China-Russia Relations: Putinism in Its First Year, in: Pacific Forum CSIS Comparative Connections, <http://csis.org/pacfor/cc/004Qchina-rus.html&gt;, 8.2.2001, S. 1–6.

7  Vgl. Renmin Ribao, 12./13.9.2001.

8  Ebenda, 19.9.2001.

9  Vgl. <http://www.phoenixtv.com/usa/1018/yw01.html&gt; (auf Chinesisch).

10Vgl. Pressekonferenz mit Botschafter Francis X. Taylor, Koordinator für Terrorismusbekämpfung im amerikanischen Außenministerium, Beijing, 6.12.2001, <http://usinfo.state.gov/regional/ea/uschina/taylrfbi.htm&gt;.

11Vgl. White House, U.S., China Stand Against Terrorism, <http://www.whitehouse.gov/news/releases/2001/10/print/20011019-4.html&gt;.

12 Ebenda.

13Vgl. Großmächte warnen vor Eskalation, in: Internetausgabe der Süddeutschen Zeitung unter <http://www.sueddeutsche.de/index.php?url=/ausland/politik/33566/&gt;, 3.1.2002.

14Vgl. die Pressekonferenzen von Powell in Pakistan und Indien, hier abgedruckt S. 127ff. bzw. S.130ff.

15Vgl. The Washington Times, 9.1.2002.

16Vgl. hierzu auch den Beitrag von Heike Holbig, S.1–6.

17Vgl. White House, (a.a.O., Anm. 11.)

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2002, S. 7 - 16.

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